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Den Hof machen

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Zutaten: Charme, Humor, Charme, Chuzpe


Der Schokoladenverkäufer warf sich wild und ungebremst in den sich nun ausbreiteten Strom der Vermarktung. Er wechselte vom heiß geliebten Fahrrad in die blecheiserne, mit Plastik ausgekleidete Gebärmutter, die sich sogar in Embryonalhaltung in hoher Geschwindigkeit und neuerdings sogar mit Internet-Nabelschnur steuern ließ, und fuhr Land, auf Land ab, um die Welt mit köstlichsten, damals noch geheim gehaltenen, veganen Bio-Pralinen zu beglücken.

Die erste zielstrebig angesteuerte Anlaufstelle war immer das zentrale, meist sehr hässliche Parkhaus einer Stadt. Er zog seinen schweren dunklen Koffer, prall gefüllt mit legalen Drogen, aus der Heckklappe seiner Blechkiste. Zog den versenkten Griff an zwei langen Stangen aus der schwarzen Box, kippte sie leicht und rollte damit direkt ins freie Feld irgendeiner, immer-gleichen deutschen Fußgängerzone, die an einem brandneuen, strahlenden Morgen grauer und eintöniger nicht hätte sein können. Er nahm zwei, drei tiefe Atemzüge, schaltete seinen Verstand von Selbstzweifel auf Abenteuer und schritt schnurstracks in jeden Laden, der ihm subjektiv gefiel. Mit knapper, souveräner, deutscher Freundlichkeit wurde er am frühen, noch unbefleckten Morgen empfangen. „Haben Sie denn überhaupt einen Termin?“, tönte es, worauf er charmant und in gespielt verdutztem Ton konterte: „Haben Sie ihn etwa vergessen?“

So ein Schokoladenverkäufer mit dem Herz eines Wandermönchs war sich halt für nichts zu schade und er wusste bereits, dass letztlich nur die Angst, das Gesicht zu verlieren, die Grenze eines jeglichen Geschäftsdeals oder Liebesantrags darstellte. Man kam als strahlender, überzeugter Held, die Taschen voller Illusionen, und wurde entweder mit deutscher knapper Höflichkeit als unerwünschter Bittsteller wieder hinauskomplimentiert bzw. gleich abgewiesen oder als unerwarteter und langersehnter Schoko-Prinz gefeiert und umarmt. Dazwischen gab es nichts.

Der hohe Norden, bekannt für seine Kaffeehändler und steuergeldgierigen Konzerthäuser, schien allerdings nicht für Schokoladenprinzen gemacht worden zu sein. Die strahlend weiße Jacht, die zehntausendste Musicalaufführung waren erstrebenswerter als jeder vielfach ausgezeichneter, handgemachter, dunkelbraun bestäubter Edel-Schoko-Trüffel. Der Schokoladenverkäufer setzte mehrmals stolz die Segel – der Wind ging ihm bald, langsam aber sicher, auf die Nerven –, doch egal welchen Steg er ansteuerte, es war kein Land in Sicht. Er hatte noch nie so viele Krawatte tragende, gleich aussehende, gehetzte Menschen in einer Stadt gesehen, die sich in der Mittagspause ihre schicken, immer größer werdenden, prächtigen, männlichen Gebärmütter in der Waschanlage putzen und volltanken ließen. Kein Wunder, dass die Menschen dort zwischen zwei aufgeweichten, weißen, amerikanischen Weißbrotscheiben mit Form-Ei und Gurke endeten, aber ihren Namen nicht für dunkle, bitter-zarte Süchte hergaben.

Etwas weiter unten auf der Landkarte kam der Pott, den der Schokoladenverkäufer schon vor Jahren als Buchverkäufer bereist hatte, was in einem vollkommenen Desaster endete. Und es sollte ihm auch diesmal nicht besser ergehen: zwei Versuche, zwei Reinfälle. Auf der ersten Messe tropfte das Regenwasser durch die Decke der Messehalle und dementsprechend war der Umsatz, weniger als ein ganz kleiner Tropfen auf einem lauwarmen Stein. Beim zweiten Ausstellungsversuch begrub die Dekoration den mehr als gutmeinenden Schokoladenverkäufer gleich zu Beginn unter sich. Es sollte der schnellste Messeabgang aller Zeiten werden. Der Pott musste warten, wurde verschoben auf die nächsten Inkarnation. So sorry!

Rechter Hand, wenn man von oben auf das Display schaute, links wenn man von oben kam, lag nun praktischerweise die gerade wieder frisch erblühende Hauptstadt, die ja keiner angeblich begrenzten Nation erspart wurde: Berlin. Um es gleich vorwegzunehmen, der Schokoladenverkäufer fühlte nach 10 Minuten Subway-Fahrt: „I am a New Yorker!“

Berlin, Anfang der Zweitausender. Der Schokoladenverkäufer merkte schon sehr bald, dass man hier in den Geschäften mit süßer, sanft bestäubter Freundlichkeit nicht sehr weit kam. Diese offene, edle Schokoladen-Andacht war für jeden Berliner ein Affront. Der Schokoladenverkäufer war eine ganz andere Stimmlage gewohnt, die traditionell badische Symphonie, die immer interessiert, halb schwebend, torkelnd und etwas selbstverliebt den heimeligen Raum erfüllte. In Berlin wurde grundsätzlich geschrien, angemacht oder überhaupt nicht zugehört. Jedes Angebot und Nachfragen war eine Kriegserklärung und überhaupt war alles viel zu teuer. Irgendwann war es unserem Schokoladenverkäufer klar, dass es „die“ Berlinerinnen und Berliner überall und unter gewissen Umständen mit jedem Riegel machen würden, Hauptsache billig, aber sexy. Handgemachte Schokolade ging ihnen am Arsch vorbei.

Der pure Größenwahn war damals die Essenz dieser Stadt und der Schokoladenverkäufer wunderte sich abermals über Werbeikonen und berühmte Geschichtenschreiber und ihre Gazetten, die absurd süße Dinge in den Hauptstadthimmel hoben, die jegliche Qualitätsprüfung nie hätten standhalten können. Diese angeblichen Erfolgstorries aus der süßen Wirtschaft mussten aus den Evangelien inspiriert worden sein, denn ohne blinden Glauben und unfreiwillig teuer erkauftem Taufbekenntnis entbehrten sie jeder kaufmännischen Realität. Nach zwei Minuten Verkaufsgespräch wusste der Schokoladenverkäufer, dass das nichts werden konnte. Leider, leider behielt er wie so oft recht.

Das geliebte Berlin lief deshalb für die nächsten Jahre unter dem Titel „Größenwahn mit Vorkasse“ oder abgemildert als „Gehypetes Start Up mit Lastschrifteinzug“. Es gab in jenen Jahren für Schokoladenverkäufer keinen unsteteren Platz als Berlin. Erst als dann endlich Millionen von Touristen und fleißige, aufgeräumte Schwaben die Stadt überrannten, kam die Verschlimmbesserung. Es war zwar immer noch viel zu „teuer“, aber Touristen und Schwaben konnten, nach einer typisch Berliner Taxifahrt, sich endlich willkommen fühlen und ihre strapazierten Nerven beruhigen.

Ab Frankfurt begann dann endlich das Schoko-Paradies. Unglaublich nette, wunderbar bitter-zarte Damen, die dem Schokoladenverkäufer nach ein paar Minuten den Kofferraum leerräumten und treueste Kundinnen wurden. Und je mehr man sich dem Süden näherte, sah man sie, die süßen sonnigen Inseln, die sich auftaten, um endlich die Hormone wieder ins Gleichgewicht zu rücken, Liebesschwüre ungeschehen zu machen, um dann irgendwann in den seligen Booja-Booja Städten anzukommen, in denen sich fast alle vollständig der heiligen Versündigung verschrieben hatten, dem Schokoladen-Eldorado.

Wenn die süßeste Verführung mal ihren Lauf nahm, war sie nicht mehr aufzuhalten. Ein Kompliment, ein Kuss, noch mehr Küsse, die Bettdecke aufgeschlagen, die Packung aufgerissen und das Fest konnte beginnen. Und wurde immer wieder gefeiert. Wer hatte jemals vom Sex genug? Vor allem, wenn er auch noch so geil verpackt war!

Ganz im Süden der deutschsprachigen Region gab ein Land, das angeblich die Milchschokolade erfunden hatte: Eine Todsünde für jeden wahren traditionell-veganen Schokoladenhelden. Wie konnte man nur den Inhalt eines Kuheuters mit einer Kakaobohne kreuzen? Wie hatte man den Menschen weismachen können, das Schweizer Mich und Quetzalcóatl für einander bestimmt waren? Ein gefiederte Schlange, die sich mit einer Kuh paart?

An diesen frankensteinischen Ort musste unser Schokoladenverkäufer natürlich zuallererst hin. In die schöne Schweiz. Er hatte Glück und war auf die Schweizer Seele bereits sehr gut vorbereitet. Hier hatte er schon indianisch gesungen, indianisch geschwitzt und tibetische Fahnen ausgespäht; außerdem verstand er die Sprache, ohne sie sprechen zu können. Die Schweizerinnen und Schweizer waren lustig. Immer höflich, immer auf Distanz, ohne Kriegserfahrung und Mordor. So etwas zwischen Hobbits vor der Entdeckung durch Tolkien und einer scheuen Katze. Zwei Wesen, die der Schokoladenverkäufer sehr liebte. Er schaffte es tatsächlich, dass die Schweizerinnen seiner köstlichen Schokolade verfielen, auch wenn der Zoll und seine vorzüglich verzickt-verzollenden Beamtinnen eine Weile brauchten, um ihre Synapsen darauf umzuprogrammieren, dass es Schokoladen-Trüffel und später auch Eis-Dessert ohne zollpflichtige tierische Inhaltsstoffe, sprich Fette, Milch und Ei gab. Und wer besaß die unvorstellbare Frechheit und Dreistigkeit, solche heimatfremden Produkte ins Ursprungsland der frankensteinischen Schokolade einzuführen?

Der Schokoladenverkäufer fuhr gerne in die Bergwelt. Es war so wunderbar, diese mächtigen Wesen zu bewundern. Auch wenn sich überall die SUV-Saurier-Seuche ausbreitete. Die prallen, schnellen, aufpolierten Gebärmütter, die immer nur mit 110 km/h, also in Deutschland mit zügigem Stadtringverkehr-Mitternachtstempo, dahin gondelten oder einfach nur leer herumstanden oder immer mehr Leere ausfüllen mussten.

Einen Schokolade verkaufenden Wandermönch konnte man mit solchen „leeren“ Errungenschaften nicht locken. Er genoss weiter den Frieden der Bergriesen und gondelte vergnügt ins angrenzende Nachbarland, nicht ohne Zwischenstopp im kleinsten Steuerparadies, wo die Zöllner seinen leeren Geldbeutel und den schwarzen zart-bitteren Drogenkoffer bestaunten.

Die bergige, schier ewig dauernde Fahrt durch die Alpen ins verheißene Hofzuckerbäcker-Paradies, wo man am besten nicht sagte, wo man herkam, was ja alleine schon durch die Aussprache nicht ging, hätte er sich auch ganz sparen können. Der Schokoladenverkäufer zog seinen seriös gekippten Koffer wieder durch eine europäische Hauptstadt, dieses Mal durch Wien. Von einem Bezirk zum nächsten, tagelang, und wurde zu 100 Prozent ignoriert. Er und seine Schokolade existierten gar nicht. Wie der unschuldige große Bruder, der trotzig vom kleinen Bruder ignoriert wurde. Dabei war der Schokoladenverkäufer ein Einzelkind. Das Interesse an einem Schokoladenverkäufer aus dem angrenzten Land war nicht einmal den Schmäh wert. Ohne überhaupt auf die Qualität zu sprechen zu kommen, scheiterte der Kontakt bereits am Preis und an den Zahlungsmodalitäten. Irgendwie war es auch sehr lustig, mal so überhaupt keine Chance zu haben oder zu bekommen und mir nichts, dir nichts durch eine Stadt zu schlendern und die Zeit einfach wie in einer Art Museum sinnlos zu vergeuden.

Dennoch sollte Wien wenige Jahre später zur „Großen Liebe“ des Schokoladenverkäufer werden. Tja, aber wieder nicht mit einem Österreicher oder einer Österreicherin, sondern mit einem gewaltigen, einzigartigen Liebesfeuer aus Ungarn.

Nun hätte man meinen können, dass ein solcher Schokoladen-Liebeszauber, wie ihn der Schokoladenverkäufer mit sich und in sich trug, in einem Land der haute cuisine wie Frankreich die Türen hätte einrennen müssen. Konjunktiv. Hätte. Aber dem war überhaupt nicht so.

Der Schokoladenverkäufer hatte alles vorbildlich vorbereitet, um die Grande Nation zu überzeugen. Da sein Französisch nach Meinung seiner Lehrer aus Hintersibirien stammte, obwohl diese Klimaregion gar nicht dem Seelenleben des Schokoladenverkäufers entsprach, holte er sich Unterstützung von einer mehr als gut aussehenden und perfekt Französisch sprechenden Schönheit und zog mit ihr und vorbildlich übersetzten Verkaufsmaterialien durch die angrenzenden französischen Gourmetstädte.

Der Schokoladenverkäufer stieß hier an seine Grenzen, denn weder vollkommene Schönheit, perfektes Französisch, noch Charme oder höchste Qualität konnten überzeugen. In Frankreich hatte jedes Stadtviertel seinen eignen kleinen verwunschenen „Booja-Booja Laden“, einen „Maitre de Chocolat“ mit herausragender Qualität, es war zauberhaft, aber auch vergeblich. So wie damals die mit radioaktivem Regen geschwängerten Wolken aus Tschernobyl direkt am Rhein anhielten und Frankreich auf magische Weise vom Fallout verschonten, so waren BIO oder VEGAN nicht mal als Begriffe ein Thema. Es musste sehr gut schmecken. Das war alles und das wichtigste. Was der Gänseleber davor und danach geschah, war vorerst nebensächlich. Nach zwei Tagen packte der Schokoladenverkäufer – in zugegebener Maßen wundervollen Begleitung – seine Koffer. Senkte sein Haupt vor soviel herausragender Qualität und handwerklicher Meisterschaft auf kleinstem Raum und überquerte unverrichteter Dinge wieder den großen Grenzfluss.

Es muss an dieser Stelle festgehalten werden, dass es Jahre später in alle diesen Orten kleine Booja-Booja Trutzburgen geben sollte. Berlin, Paris, Wien, Zürich, Amsterdam. Meist gegründet von zugezogen Booja-Booja LieberhaberInnen aus anderen Ländern. So konnte man es natürlich auch machen!

Langsam begann sich die Prophezeiung von Mr. Booja-Booja zu manifestieren: Unser Schokoladenverkäufer hatte den schönsten Job dieser Welt, wahrscheinlich weil er ihn nie angestrebt hatte. Sein Werbemittel bestand aus reiner Mundpropaganda, dem Kuss seiner Pralinen, den keiner so schnell vergaß. Er hatte eine große posttraumatische Abneigung gegen jegliche Art von Werbung, obschon er ohne weiteres in seinem versteckten Größenwahn eine Werbebüro hätte aufziehen können. Sein fast schon hysterische Werbe-Phobie, die er schon einigen unschuldigen Anruferinnen um die Ohren gehauen hatte, wurzelte in seiner frühen Kindheit. Auch fünf Jahre Couch hatten diese bitter-süße Enttäuschung nicht kurieren können. Verklärt, wie so oft, saß er damals vor dem Fernseher, die Werbung eines Schokoriegels flimmerte vor seinen Augen. Der gesungene Slogan darin: „Lecker-Schmecker hört nie auf.“ Der Riegel wurde dargestellt als etwas, was kein Ende hatte und sich ewig fortsetzte. Er wusste noch genau, dass der Riegel wie ein unendlicher Jägerzaun auf dem Bildschirm an ihm vorbeizog. Unendlich! Kurz entschlossen kaufte der noch sehr, sehr kleine Schokoladenverkäufer genau diesen Riegel, packte ihn aus und blickte entsetzt und konsterniert auf ein geflochtenes, mit Schokolade überzogenes Karamellgitter, das zum großen Entsetzen des Kleinen einen Anfang und eine Ende hatte. Wieso hörte dieser Riegel auf?

Seit diesem traumatischen Erlebnis brauchte ihm keiner mehr mit Werbung, Pressetexten und Geschichtenpralerei zu kommen. Wie konnte es ein gutes Produkt geben, das nicht von sich aus ein Leben und ein Geschichte hatte? War die Markenwelt nur noch eine nachgestellte Porno-Show?

Der Schokoladenverkäufer liebte diesen Nahkampf direkt am Kunden, er hatte schon in seiner Jugend immer gerne mit Jungs und Mädchen gerungen, bis es ernst wurde und darüber hinaus. Zwischen ihm, seinen Produkten und den Kundinnen sollte es nichts dazwischen geben, nur die direkte Beziehung. Der direkte Service. In seiner Brust wohnten zwei seltsame Seelen, ein Einsiedler und ein Verkäufer. Beide waren vom Charakter her „Missionare“, die sich dann letztlich auf, wie wir später noch hören werden, oder in einer Messe wiederfanden. Beide Male gab es Pomp und Gloria, Geldverschwendung und eine brauchbare Verheißung.

Im Augenblick aber befand er sich noch auf dem Highway zurück aus dem geliebten Frankreich, und trotzdem, nur ein paar Wochen später, bereits mittendrin in einer ganz unerwarteten, französisch inszenierten Amour fou.

Der Schokoladenverkäufer

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