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10. Depersonalisation und Derealisation
ОглавлениеSelbstverständlich hat dieses Buch nicht die Absicht, Krankheiten zu fördern oder gar zu verursachen.
Die Abgrenzung zu Krankheiten kann jedoch einige Aspekte von Selbst-Bewusstsein deutlicher machen, daher möchte ich dieses Thema ausführlicher behandeln.
Ausgangspunkt ist der Wikipedia Artikel über Depersonalisation und Derealisation, den ich auszugsweise, abgrenzend kommentiere:
„Depersonalisation oder Depersonalisierungserleben bezeichnet allgemein einen Zustand der Selbstentfremdung, bei dem es zum Verlust oder einer Beeinträchtigung des Persönlichkeitsbewusstseins kommt. Betroffene erleben sich selbst als fremdartig oder unwirklich.“
Selbst-Bewusstsein führt hingegen zum Wachstum des Bewusstseins der eigenen Persönlichkeit. Bei den ersten Erfahrungen kann einem dieses neue Bewusstsein fremdartig vorkommen, doch schon bald kann man sich mit diesem neuen, stärkeren Bewusstsein anfreunden.
Es ist ähnlich wie bei anderen Elementarereignissen, zum Beispiel der Geburt des ersten Kindes.
In einem Augenblick kann einer Frau für immer bewusstwerden, dass sie nun Mutter ist.
Denselben Menschen hat sie etwa neun Monate in ihrem Leib getragen, das neugeborene Kind zum ersten Mal im Arm halten zu dürfen, besiegelt dieses neue Bewusstsein. Ich bin wirklich Mutter, mein Leben hat sich grundlegend verändert.
Immer besser in die Mutterrolle hineinzuwachsen, ist von da an eine tägliche schöne Aufgabe.
Fremdartig oder unwirklich mag auch diese Erfahrung aufs Erste sein, man kann sie aber auch positiv beschreiben: neu, unbegreiflich, himmlisch schön, transzendent, noch nie erlebt, unbeschreiblich, …
Ganz ähnlich ist es mit Selbst-Bewusstsein.
„Emotionale Taubheit: Betroffene empfinden, dass sie nichts fühlen, oder dass ihre Gefühle ,flach‘ oder unwirklich sind. Ihre Wahrnehmung von Personen oder Objekten ,lässt sie oft kalt‘, das heißt, das Beobachten eines Sonnenuntergangs, die Wahrnehmung von Schmerz oder das Berühren ihres Partners löst keine Emotionen aus.“
Selbst-Bewusstsein hingegen macht feinfühliger, aufmerksamer, hellhöriger. Ich erlebe mich selbst bewusst in dieser Situation, ich bemerke dadurch viele Dinge, die ohne Selbst-Bewusstsein in nüchterner Routine versinken.
„Veränderung der visuellen Wahrnehmung: Viele Betroffene haben das Gefühl, ,neben sich zu stehen‘, so, als würden sie ihre Umwelt aus einer veränderten Perspektive (von weit weg, von außerhalb ihres Körpers, durch eine Kamera oder wie auf einer Filmleinwand etc.) sehen.“
Selbst-Bewusstsein führt dazu, dass man sehr nahe neben sich selbst steht. Umso aufmerksamer kann man auf sich selbst achten und Positives wie Negatives deutlich wahrnehmen.
„Es kann auch sein, dass ein Gefühl der Unwirklichkeit gegenüber der Umwelt besteht. Dies wird als Derealisation bezeichnet. Hierbei werden Objekte, Menschen oder die gesamte Umgebung als fremd, unvertraut, unwirklich, roboterhaft, fern, künstlich, zu klein oder zu groß, farblos oder leblos erlebt. Viele Betroffene geben an, ihre Umwelt wie ,unter einer Käseglocke‘ oder ,in Watte gepackt‘ zu erleben. Manchmal kann dem Betroffenen die Umgebung zweidimensional erscheinen, wie ein Film.“
Selbst-Bewusstsein führt zu einem neuen Erleben der Umwelt im genau entgegengesetzten, positiven Sinn. Indem ich beginne, mich selbst neu und deutlicher wahrzunehmen, nehme ich auch meine Umwelt bewusster und deutlicher wahr.
Eingefahrene Denkmuster, Vorurteile, Scheuklappen, Tunnelblick, etc. werden auf erfrischende Weise aufgebrochen und eine unverstellte, unverbrauchte, klare Sicht auf die Umgebung wird möglich.
Freude und Angst können nahe beieinander liegen, wenn man die Dinge plötzlich so sieht, wie sie wirklich sind.
Die Umwelt erscheint jedoch alles andere als zweidimensional, sie gleicht eher der belebenden Erfahrung eines 7 D Kinos.
Man kann sich dabei leicht ausgesetzt fühlen, aber das Ausharren in der Realität führt auch hier zu gesunden Gewohnheitseffekten.
Man denke dabei einmal an Sportler, die Schritt für Schritt ihre Ängste vor Menschen überwinden, die ihnen (oft kritisch) bei der Ausübung ihrer Sportart zusehen. Vom kleinen, hypernervösen Knirps vor fünf vertrauten Personen bis zum routinierten Superstar, der sich in einem ausverkauften Stadion so vertraut wie im Wohnzimmer fühlt, sind es vielleicht nur fünfzehn Jahre.
„Trotz der vielen unterschiedlichen Äußerungsformen ist allen Entfremdungserlebnissen gemeinsam, dass sie von den Betroffenen als unangenehm und beunruhigend empfunden werden.“
Unangenehm und beunruhigend kann es auch sein, wenn einem der bisherige Lebenssinn abhandenkommt, und man sich auf die Suche nach neuen Inhalten und Zielen begibt.
Dabei kann jedoch schon das bloße Betreten eines Gotteshauses oder der Besuch eines Gottesdienstes dazu führen, kritische Reaktionen von Mitmenschen fürchten zu müssen.
Das Leben ist tatsächlich ein Abenteuer, nimm es an!
„Die Betroffenen haben das Gefühl, dass etwas anders ist, als es vor dem Auftreten der Depersonalisationserlebnisse war, und anders ist, als es eigentlich sein sollte. Sie leiden oft unter Ängsten, ,verrückt zu werden‘, oder auch nur solchen, von anderen ,für verrückt gehalten zu werden‘, wenn sie von ihren Erlebnissen erzählen.“
Selbst-Bewusstsein kann bei ersten Erlebnissen auch zu der Befürchtung führen, „verrückt zu werden.“ Wie am Beginn dieses Buches beschrieben, kann man dies jedoch auch positiv bewerten.
Ver-rückt zu werden ist in einer oft im Negativen festgefahrenen Welt ein schönes Privileg.
Man könnte Bibliotheken mit Biografien bedeutender Menschen füllen, die aufgrund ihrer Worte und Werke (zumindest eine Zeitlang) für verrückt gehalten wurden.
Viele dieser Menschen wurden schließlich für Genies und Pioniere gehalten, nicht selten konnten sie noch erleben, dass alle genau so verrückt wurden, wie sie selbst es vermeintlich einst gewesen waren. Bei noch mehr Menschen fand dieses entzückende Spielchen erst (lange) nach ihrem Tod statt.
Wie auch immer, von verrückt zu genial zu normal sind es oft nur kleine Schritte.
Sogleich möchte ich jedoch einschränkend ergänzen, dass ich immer wieder Menschen begegne, die durch schuldhafte Vernachlässigung ihrer ganz normalen Pflichten in einer verrückten Scheinwelt gelandet sind.
Und sich dort nicht selten wohlfühlen.
Auf Kosten anderer.
Andererseits setzen auch manche tatsächlich geisteskranke Menschen keinerlei Bemühen, die für sie bestmögliche Annäherung an die Normalität zu er-reichen bzw. zu bewahren.
„Depersonalisationserfahrungen treten auch bei Gesunden auf, z. B. bei großer Müdigkeit, nach stressauslösenden oder lebensbedrohlichen Situationen, während spiritueller Erfahrungen (Meditation, Trance) oder unter dem Einfluss halluzinogener Drogen.
Die unterschiedlichen Quellen konstatieren eine Lebenszeitprävalenz in der nichtklinischen Bevölkerung zwischen 30 und 50 %. Von einer Störung im Zusammenhang mit Depersonalisation kann gesprochen werden, wenn bestimmte weitere Faktoren hinzukommen (wie z. B. eine erhöhte Intensität und Frequenz der Entfremdungserlebnisse oder der Zusammenhang mit einer anderen psychischen Störung (siehe sekundäre Depersonalisationsstörung)).“
Manche Menschen empfinden (nahezu) jede Situation, in der ihr Verstand nicht alles unter Kontrolle hat, als bedrohlich, vermeidenswert, sinnlos, etc.
Dazu zählen dann natürlich auch so seltsame Dinge wie Liebe, Freude, Begeisterung, Glaube, Gefühle, …
Ratio rulez
the fools.
„Obwohl Betroffene eventuell auch ihre Umwelt verändert wahrnehmen, bleibt während der Depersonalisationserfahrung dennoch die Realitätsprüfung intakt.
Die Betroffenen haben also keine Wahnvorstellungen (in Abgrenzung zu psychotischen Störungen, wie z. B. der Schizophrenie) und schätzen bei ihren alltäglichen Aufgaben sich sowie ihre Umwelt richtig ein und haben Kontrolle über ihr Handeln.“
„Die Depersonalisation verändert die subjektive Sichtweise der depersonalisierten Person bezüglich der Qualität der eigenen Wahrnehmung, jedoch gibt es keine Änderung bezüglich der Sichtweise hinsichtlich der Qualität des Objekts der Wahrnehmung. Wenn Betroffene z. B. das Gefühl haben, Personen und Objekte wie in den Raum projizierte Hologramme zu sehen, wissen sie dennoch, dass diese Personen und Objekte real und keine Hologramme sind.“
Selbst-Bewusstsein produziert jedenfalls keine Hologramme, sondern einen klaren Blick auf sich selbst und die Umwelt.
Selbst-Bewusstsein lässt einen begreifen, dass hier und jetzt die Realität ist. Ohne Kommentare, Etikettierungen oder sonstiges Rauschen der Gedanken. Offen für die Wirklichkeit sein, so wie sie ist.
Und nicht, wie die Fantasie dies vor-gestellt hat.
In unserer verrückten Welt wird so vieles Verrücktes nicht in Frage gestellt, dass man dies ruhig einmal tun darf. Kritik der Kritik ist in freien Gesellschaften einklagbares Recht.
Du selbst siehst dich endlich so,
wie dich alle anderen schon immer sehen.
Selbst-Bewusstsein macht’s möglich.