Читать книгу Aveline Jones und die Geister von Stormhaven - Phil Hickes - Страница 7

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Kapitel 1 Ein Eishauch in der Luft

Es war der kälteste Oktober seit vielen Jahren. Niemand konnte dem eisigen Atem des Windes entkommen, der sogar durch die dicksten Schals hindurchblies. Pfützen froren zu. Rohre barsten. Die Menschen schlurften mit ausgestreckten Armen über den eisglatten Asphalt, als wollten sie Flugzeug spielen. Schulkinder wurden vom Unterricht befreit und freuten sich über die unerwarteten Kälteferien.

Aveline Jones saß mit ihrer Mutter im Auto und seufzte tief. Normalerweise hätte sie sich über die schulfreien Tage riesig gefreut, aber ihr Plan, die meiste Zeit absolut nichts zu tun, war zerplatzt. Ausgerechnet jetzt musste sie weg von zu Hause und an einen Ort, der womöglich noch kälter war als die frostige Stadt, die sie hinter sich gelassen hatte.

Stormhaven.

An der Küste kann es bitterkalt sein, hatte ihre Mum sie gewarnt, und Tante Lilians Haus stand sogar so nah am Meer, dass die Fenster salzverkrustet waren. Allein bei dem Gedanken schüttelte es Aveline. Nicht ohne Grund ächzte ihr Koffer unter dem Gewicht von Schals, Jacken, Strickmützen, Wollpullovern, Fleecejacken, dicken Socken, Stiefeln und Handschuhen. Sie hatte sogar ihren Zebraoverall eingepackt, der sonst frühestens im Dezember zum Einsatz kam.

Aveline blickte niedergeschlagen auf die Landschaft, die wie ein trüber Schleier vor dem Fenster vorbeizog. Sie waren sicher bald da, zumindest vermutete Aveline das – ein Blick in das müde Gesicht ihrer Mutter hielt sie davon ab zu fragen, wie lange es noch dauerte.

Die Reise von Bristol bis hierher war lang und anstrengend gewesen. Anfangs hatte Aveline versucht, Musik zu hören. Aber an einem so trüben Tag klangen die Songs irgendwie falsch, daher hatte sie nach einer Weile aufgegeben. Auch die Natur schien aufgegeben zu haben. Das Laub war fortgewirbelt, die Bäume mit ihren nass glänzenden Stämmen sahen aus wie gerupfte Hühner. Auch die dürren Hecken sahen hungrig und krank aus, als ob das Wetter jede Farbe aus ihnen gesaugt hätte. Das einzig Lebendige waren die im Geäst kauernden Saatkrähen, deren Krächzen über die kahle Landschaft hallte.

»Ich sehe was, was du nicht siehst … und das ist … das Meer!«, rief Avelines Mum betont fröhlich, aber man hörte ihrer Stimme an, dass ihr kein bisschen nach Lachen zumute war.

Aveline spähte zwischen hektischen Scheibenwischern hindurch nach vorn. Ein graublauer Streifen Meer erstreckte sich am diesigen Horizont und der Wind köpfte die Wellenkronen wie gekochte Eier.

»Ist das Stormhaven?«

»Ja, wir sind bald da.«

In Avelines Magen rumorte es. Ihre Mum wollte danach weiter nach Schottland fahren, um Avelines Oma zu besuchen, die im Krankenhaus lag. Der Weg war angeblich zu weit für Aveline und daher hatte Tante Lilian angeboten, ihre Nichte in den Ferien bei sich aufzunehmen.


Die Schwester ihrer Mutter war Aveline schon immer ein Rätsel gewesen. Tante Lilian war ein bisschen wie Eiscreme – nett, aber kalt. Sie hatte als Lehrerin an einem piekfeinen Internat unterrichtet, bevor sie vor einigen Monaten nach Cornwall gezogen war, um dort als Privatlehrerin zu arbeiten.

Aveline hatte bisher nicht viel Zeit mit ihr verbracht, weil Tante Lilian bis vor Kurzem ebenfalls in Schottland gelebt hatte, was für regelmäßige Besuche zu weit entfernt war. Nur hin und wieder hatten sie sich zu besonderen Gelegenheiten getroffen und bei jeder Begegnung mit ihrer Tante hatte Aveline sich eingeschüchtert gefühlt. In Tante Lilians Leben herrschten strenge Regeln und ihre Liste der Verbote war sehr viel länger als die Liste der Dinge, die erlaubt waren. Aveline fand, dass ihre Tante vermutlich eine ziemlich gute Gefängniswärterin abgeben würde. Und jetzt war sie mit der düsteren Aussicht konfrontiert, die Ferien bis Anfang November allein mit ihrer Tante zu verbringen.

Der Gedanke ließ Aveline frösteln.

Wie in vielen Küstenorten waren auch in Stormhaven die Straßen schmal und gewunden. Jedes Mal, wenn ein Auto entgegenkam, musste Avelines Mum bremsen, um dann ganz behutsam im Schneckentempo daran vorbeizufahren.

»Ist ein bisschen leer hier, oder?«, sagte Aveline, als sie den steilen Weg ins Zentrum von Stormhaven hinunterfuhren.

»Schatz, bei so einem heftigen Kälteeinbruch wird es in allen Küstenorten ruhiger, weil die Touristen weg sind«, erwiderte ihre Mum, die das Auto langsam rollen ließ. »Aber keine Sorge, dir wird bestimmt eine Menge einfallen, womit du dir die Zeit vertreiben kannst.«

Obwohl es erst später Nachmittag war, sah der Himmel unheilvoll und finster aus. Zu Hause waren sicher noch viele Leute draußen unterwegs. Das Stadtzentrum, wo Aveline sich immer mit ihren Freundinnen traf, würde voller Menschen sein, die an den Schaufenstern vorbeischlenderten. Hier dagegen waren die Straßen verlassen. Die trostlose Atmosphäre des Ortes kroch zu ihnen ins Auto, während sie schweigend an den Häuserreihen vorbeifuhren. Ein alter Mann, der mit seinem Hund spazieren ging, blieb stehen und blickte ihnen mit verdrossener Miene nach, als hätten sie »HALLO, WIR SIND NICHT VON HIER« auf die Autotüren gesprayt.

»Ob es in Stormhaven Gespenster gibt?«, fragte Aveline so beiläufig wie möglich.

Ihre Mum seufzte. »Aveline, wir sind gerade erst angekommen und schon fängst du wieder mit Gespenstern an?«

»Na ja, der Ort sieht ziemlich gespenstisch aus.«

»Jeder Ort sieht gespenstisch aus, wenn du immer nur Gespenstergeschichten liest. Ehrlich, Aveline, ich wünschte, du würdest dir zur Abwechslung ein Hobby suchen, das dir nicht nur Albträume beschert.«

Sie hatten dieses Gespräch schon unzählige Male geführt. Aveline wusste, dass ihre Mutter ihre Faszination für Gespenster sonderbar fand, aber seit sie in der Bücherei beim Stöbern ein Buch über Geister entdeckt hatte, war sie fasziniert von der Vorstellung, Menschen könnten nach ihrem Tod in die Welt der Lebenden zurückkehren. Mit der Zeit war daraus eine regelrechte Besessenheit geworden. Wenn man den Geschichten glauben konnte, wimmelte es in England nur so von schaurigen Wesen: kopflose Reiter, weiße Frauen, geisterhafte Mönche und Nonnen, geifernde Dämonenhunde mit glühend roten Augen – sie spukten überall herum! Also hielt Aveline immer die Augen offen, nur für den Fall.

Und Stormhaven wirkte genau so, wie man es von einem verspukten Ort erwartete: stürmisches Wetter, alte Häuser, das graue Meer, das sich zu bedrohlichen Wogen auftürmte. Und vor allem diese unheimliche Leere, die Gespenster besonders anzieht. Es konnte kein Zufall sein, dass sie mit Vorliebe in windgepeitschten Mooren, verlassenen Klöstern und zerfallenen Burgruinen herumgeisterten, davon war Aveline überzeugt. Aber sie wollte keinen Streit mit ihrer Mutter, daher beschloss sie, ihre Gedanken für sich zu behalten – und auf der Hut zu sein.

Es dauerte nicht lange, bis sie das Ortszentrum erreicht hatten. Die funkelnden Lichterketten vor dem Strandhotel sollten für eine einladende Stimmung sorgen, doch Aveline sah, dass der gelangweilt wirkende Barkeeper hinter dem Fenster offenbar ohne Kundschaft auf einen Flachbildschirm starrte. Für die Fish-and-Chips-Bude nebenan schien das Geschäft ein klein wenig besser zu laufen, obwohl sich auch hier mehr Möwen als Kunden versammelt hatten. Ein Junge mit dunklen Haaren saß davor auf einer Bank und las in einem Buch, das er mit einer Hand hielt, während er sich mit der anderen Pommes in den Mund stopfte.

Als er aufschaute und den Blick von Aveline auffing, die ihn aus dem Auto heraus beobachtete, hielt er, die Hand auf halbem Weg zum Mund, mitten in der Bewegung inne. Aveline spürte, wie sie rot wurde, und blickte rasch zur Seite. Immerhin wusste sie jetzt, dass es hier zumindest eine weitere Person in ihrem Alter gab.

»So, Lilian wohnt gleich da vorn«, sagte Avelines Mum, als sie aus dem Kreisverkehr auf eine Straße bog, die direkt am Strand entlangführte.

Zu ihrer Linken brachen sich die Wellen an einem Felsen, explodierten zornig zu Gischt und schwappten über den steinigen Strand. Etwas weiter vorn ragte die Hafenmauer wie ein Tentakel aus Beton ins Meer und am Kai vertäute Fischerboote tanzten im Schutz der Bucht auf den Wellen. Neben ihnen war die Straße von gemütlich aussehenden Fischerhäusern gesäumt, die alle in verschiedenen Pastelltönen gestrichen waren. An den Einfahrten und Türen der Häuser hingen alte Bojen, die aussahen wie große Plastikweintrauben. Die Lichter hinter den Fenstern strahlten einladend orange und golden und zum ersten Mal seit ihrer Abreise dachte Aveline, dass es in Stormhaven vielleicht doch nicht so schlimm wie befürchtet werden würde.

Aus einiger Entfernung, vor dem Cottage am Ende der Häuserreihe, sah ihnen jemand entgegen. Es schien ein weiterer Junge in Avelines Alter zu sein. Er lehnte an der Mauer, allerdings in einer ungelenken Position, so als wäre er zusammengesackt und würde sich nicht aus eigener Kraft aufrichten können. Irgendetwas an ihm war seltsam – seine Haut war zu blass, seine Haare zu trocken und strohig. Alles in allem sah er aus, als würde er an einer schrecklichen Krankheit leiden.

»Glaubst du, mit ihm ist alles in Ordnung?«, fragte Avelines Mum.

Aveline antwortete nicht. Sie hatte dieses Gefühl, das sie immer überkam, wenn etwas nicht stimmte. Es war so ein kaltes Prickeln im Nacken und sie spürte es immer, wenn sie an einem verlassenen Haus mit vernagelten Fenstern vorbeikam oder nachts im Bett eine Gruselgeschichte las. Es war das untrügliche Zeichen dafür, dass etwas ganz und gar nicht so war, wie es sein sollte. Dass vielleicht irgendwo, verborgen in den Schatten, etwas lauerte.

Inzwischen waren sie näher gekommen, aber der Junge hatte sich noch immer nicht bewegt. Das Auto wurde langsamer. Wie zwei neugierige Eulen drehten Aveline und ihre Mum die Köpfe, um die merkwürdig starre Gestalt anzusehen.

Tote Augen starrten ihnen entgegen.

Das fratzenhafte Grinsen eines Clowns, die Mundwinkel höhnisch nach oben gezogen.

Der Kopf der Gestalt bestand aus einer schmuddeligen weißen Boje, auf die mit roter Ölfarbe Augen, Nase und Mund gemalt waren. Ihre Glieder waren deshalb so steif, weil sie von einer alten Schaufensterpuppe stammten. Auf dem Kopf saß ein schwarzer Stoffhut, unter dem eine grelle rote Perücke hervorquoll, und sie trug Kleider, die aussahen wie aus dem Secondhandshop – eine zerschlissene, viel zu große Jacke, die ihr bis über die Knie hing, darunter eine Hose voller Farbkleckser.

Aveline verzog das Gesicht. »Pff, nicht zu fassen, dass wir darauf reingefallen sind! Was soll das überhaupt sein?«


Ihre Mum zuckte mit den Schultern. »Eine Halloweendekoration, nehme ich an. Ich würde so was nicht in meinen Garten stellen, da bekommt man ja Albträume.«

Sie fuhren weiter. Aveline drehte sich noch einmal um und blickte über die Schulter zurück, denn aus irgendeinem Grund konnte sie sich kaum vom Anblick der schauderhaften Puppe losreißen. Vielleicht hatte sie jemand für eine Art Wettbewerb gebastelt? Falls es so war, überlegte Aveline, hatte diese Schreckfigur bestimmt keinen Preis gewonnen – außer vielleicht eine Auszeichnung für die scheußlichste Vogelscheuche aller Zeiten.

Tante Lilians Haus befand sich ein Stück weiter in einer Nebenstraße. Es war ziemlich alt, das sah man auf den ersten Blick. Einige Gebäudeteile waren offenbar renoviert worden, sodass Alt und Neu zu einem eigenwilligen Ganzen verschmolzen. Die Wände waren weiß verputzt und die Fensterrahmen ozeanblau gestrichen, auch wenn die Farbe hier und da verblasst oder abgeplatzt war. Aus dem Kamin kringelten sich kleine Rauchwölkchen, die vom böigen Wind fortgerissen wurden. Durch einen Spalt zwischen den Vorhängen bellte ihnen ein kleiner, offenbar sehr aufgebrachter Hund entgegen.

Sie klopften. Sekunden später öffnete ihnen Tante Lilian. Ihre Silhouette ragte im Türrahmen auf wie ein schwarzes Kreuz und hinter ihr kläffte der kleine Terrier unermüdlich weiter.

»Ach, sei still, Charlie, die beiden kommen in Frieden«, ermahnte ihn Tante Lilian. »Ich hab mich schon gefragt, ob euch was zugestoßen ist. Hatten wir nicht drei Uhr gesagt?« Sie blickte auf die Uhr, wie um zu betonen, welche Unannehmlichkeit die Verspätung ihrer Gäste für sie darstellte.


Aveline kam sich vor, als wäre sie zu spät in eine Unterrichtsstunde geplatzt.

»Tut mir leid, Lilian, wir sind hinter Bristol in eine Baustelle geraten«, erklärte Avelines Mum. »Das Wetter war auch nicht gerade günstig, wie du dir denken kannst. Bei Regen geht ja immer alles ein bisschen langsamer voran.«

Die beiden Schwestern umarmten sich. Man konnte die Familienähnlichkeit zwischen ihnen auf den ersten Blick sehen, aber was ihre Statur anging, hätten sie nicht unterschiedlicher sein können. Tante Lilian schien nur aus Knochen und Kanten zu bestehen und ihre Haare waren zu einem straffen Knoten zurückgebunden. Avelines Mum hatte weiche Züge, ihre Haare umspielten ihr Gesicht mit sanften Locken. Hart und weich, dachte Aveline und fragte sich, wie es sein konnte, dass die Schwestern so viel gemeinsam hatten und doch so unterschiedlich waren.

»Ah, Aveline! Wie geht es dir?«, fragte Tante Lilian.

»Gut, danke«, murmelte Aveline.

»Na, dann komm her und lass dich drücken!«

Die Umarmung fühlte sich an, als würde sie ihre Arme um einen der knorrigen, verwachsenen Bäume schlingen, die auf der Fahrt an den Fenstern vorbeigezogen waren.

Nach der Begrüßung hielt Tante Lilian Aveline auf Armeslänge von sich, musterte sie und drückte ihre Schultern, als wäre Aveline eine Grapefruit im Supermarkt. »Du bist gewachsen«, stellte sie fest.

Aveline war sich nicht sicher, ob das stimmte. Sie war noch immer eine der Kleinsten in ihrer Klasse und im Vergleich zu einigen ihrer großen, sportlichen Mitschüler fühlte sie sich eher wie ein knubbeliger, kleiner Gartenzwerg. Trotzdem freute sie sich über Tante Lilians Worte. Das war eine weitere von Tante Lilians Eigenarten: Mit ein paar wenigen Worten schaffte sie es, dass ihr Gegenüber sich entweder wie im siebten Himmel fühlte – oder wie etwas Ekliges, das sie gerade von der Schuhsohle abgestreift hatte.

»Bring schnell dein Gepäck herein, heute ist kein Tag, an dem man die Tür länger als nötig offen lässt.«

Die Luft roch frisch und salzig. Begleitet vom Geschrei der Möwen und dem Brausen der Brandung luden sie das Gepäck aus dem Auto und trugen alles ins Innere.

Tante Lilians Küche hatte einen Fliesenboden und in der Mitte des Raumes stand ein großer Gusseisenherd. Gleich davor befand sich das Körbchen von Charlie, der sich dort zusammengerollt hatte, nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass weder Aveline noch ihre Mutter für die Post arbeiteten. Durch die Küche gelangte man ins Wohnzimmer. Hier sah man sofort Tante Lilians ausgeprägten Sinn für Ordnung, der weit über ein normales Maß hinausging. Denn von den Lampen bis zu den Sofakissen war alles fein säuberlich wie mit dem Maßband ausgerichtet.

Tante Lilian führte sie die Treppe hinauf ins Obergeschoss. Ihre lange, dünne Gestalt warf bizarre Schatten auf die weißen Wände. Hinter ihr mühte sich Aveline damit ab, ihren schweren Koffer die Stufen hinaufzuwuchten.

»Du bist zum ersten Mal hier, oder?«

»Ja.«

»Nun, du musst wissen, dass dieses Cottage im späten 18. Jahrhundert gebaut wurde«, erklärte Tante Lilian und klang dabei wie eine Fremdenführerin, die Besucher durch eine mittelalterliche Burg führt. »Und weil das Haus so alt ist, hat es ein paar Macken, an die du dich gewöhnen musst. Eine davon ist die Heizung. Sie ist recht unzuverlässig, daher habe ich ein elektrisches Heizgerät in deinem Zimmer aufgestellt, das du aber bitte nur sparsam benutzen solltest. Im Schrank findest du ein paar zusätzliche Decken, die sind natürlich sehr viel kostengünstiger. Ich lasse dich jetzt allein, damit du auspacken kannst – Socken und Unterwäsche kommen in die erste Schublade, Oberteile in die mittlere und Hosen in die untere. Oberbekleidung und Schuhe kannst du im Schrank aufbewahren, aber schmutzige Schuhe und Stiefel bleiben neben der Haustür. Wenn du fertig bist, kannst du zu uns runterkommen.«

Aveline hätte am liebsten gefragt, zu welcher Uhrzeit die Inspektion stattfinden würde, aber sie schluckte die Bemerkung herunter. Sie hatte schon immer gewusst, dass ihre Tante streng war, aber dass sie ihr jetzt auch noch vorschrieb, wie sie ihren Koffer auszupacken hatte! Trotzdem sortierte Aveline ihre Kleider pflichtbewusst in die richtigen Schubladen ein. Was für ein seltsamer Beginn ihrer Ferien am Meer, dachte sie und überlegte, wie sie bloß die nächsten Tage überstehen sollte, wenn ihre Tante sie von früh bis spät herumkommandierte.

Als sie fertig war, widerstand sie der Versuchung, das Fenster aufzureißen und laut um Hilfe zu rufen, und gesellte sich zu ihrer Mutter und ihrer Tante nach unten. Sie aßen etwas Lasagne, die Tante Lilian in akkurat aufgeteilten Portionen servierte, und setzten sich dann ins Wohnzimmer. Die beiden Schwestern tauschten Neuigkeiten aus, während Aveline – da keine Aussicht auf Rettung durch Fernseher oder Internet bestand – einer Freundin eine Nachricht zu schicken versuchte. Aber der Empfang war so schlecht, dass sie schließlich aufgab. Erleichtert stellte sie fest, dass im hintersten Eck des Wohnzimmers ein Computerbildschirm auf einem Tisch stand. Aveline hätte es nicht verwundert, wenn ihre Tante sich ausschließlich per Telegramm mit der Außenwelt verständigte. Die Zeit zog sich zäh dahin, bis Aveline ihr Gähnen nicht mehr unterdrücken konnte. Morgen würde sie sich eine Beschäftigung suchen müssen, sonst würde sie hier durchdrehen.

»Wie ich sehe, hat die Seeluft ihre Wirkung getan«, sagte ihre Tante. »Besser als heiße Schokolade oder Kamillentee. Seit ich hierhergezogen bin, habe ich noch keine Nacht schlecht geschlafen. Ich frage mich, wie ihr überhaupt je ein Auge zutun könnt in der Stadt, wo die ganze Nacht der Verkehr dröhnt.«

Hinter Tante Lilians Rücken verdrehte Avelines Mum die Augen. Aveline grinste, aber sofort dachte sie daran, dass ihre Mum morgen zu ihrer Großmutter fahren und sie allein hier zurückbleiben würde.

»Okay, ich geh dann jetzt ins Bett. Gute Nacht«, sagte Aveline. Wenn sie ohnehin nur mit Nichtstun beschäftigt war, dann konnte sie genauso gut im warmen Bett nichts tun.

»Gute Nacht, Aveline«, sagte Tante Lilian, dann fügte sie hinzu: »Oh, und wundere dich nicht, wenn du nachts seltsame Geräusche hörst. Das sind nur die Launen eines alten Hauses.«

»Oder ich, wenn ich schnarche«, murmelte Avelines Mum. »Ich werde jetzt auch schlafen gehen, Lilian, mir fallen schon die Augen zu.«

»Ich mache dir hier ein Bett vor dem Feuer zurecht«, antwortete Tante Lilian.

»Gute Nacht, Mum«, sagte Aveline.

»Gute Nacht, mein Schatz. Wir sehen uns morgen, bevor ich aufbreche.«

Bevor ich aufbreche.

Als Aveline die Treppen hinaufstapfte, fühlte sie sich plötzlich sehr allein. Draußen heulte der Wind und die Sturmböen ließen das kleine Haus erzittern. Aveline putzte sich hastig die Zähne – die Temperatur im Bad entsprach ungefähr der eines Iglus –, bevor sie in ihr Zimmer huschte. Mit einem Satz hüpfte sie ins Bett, wickelte sich fest in die Decke und schloss die Augen.

Anders als Tante Lilian es vorausgesagt hatte, fand Aveline es hier an der Küste viel lauter als zu Hause. Das Rauschen des Verkehrs, das in Bristol die ganze Nacht anhielt, hatte immer etwas Tröstliches – es waren die Geräusche von Leuten, die geschäftig ihre Dinge erledigten. Hier war es ganz anders. Da waren die donnernde Brandung. Der heulende Wind. Salzige Tropfen, die an die Fensterscheiben klopften. Kein menschengemachter Lärm, sondern das Tosen der Naturgewalten. Aveline kam sich klein und sehr verletzlich vor.

Gerade als sie in den Schlaf hinüberglitt, hörte sie ein Lachen. Ein spöttisches Glucksen, wie von einem Kind, irgendwo in der Dunkelheit der Nacht. Aveline hob den Kopf und lauschte angestrengt in die Stille. Unwillkürlich musste sie an die Vogelscheuche an der Gartenmauer denken. Was, wenn sie um Mitternacht zum Leben erwachte? Schlurfte sie gerade in diesem Moment auf das Haus zu? Aveline hatte das unheimliche, kalte Prickeln im Nacken nicht vergessen, das sie beim Anblick der schaurigen Gestalt verspürt hatte. Aber dann ermahnte sie sich, wie albern sie doch war. Ihre Mum würde ihr jetzt bestimmt wieder einmal sagen, dass sie zu viele gruselige Bücher las. In der echten Welt gab es keine Vogelscheuchen, die plötzlich lebendig wurden. Nichts und niemand konnte ihr etwas antun. Sie war hier sicher.

Fröstelnd streckte sie sich wieder aus und zog die Bettdecke so weit nach oben, wie sie konnte, ohne völlig darunter zu verschwinden.

Sei nicht kindisch.

Wahrscheinlich war es nur eine Möwe oder ein quietschendes Heizungsrohr gewesen – ihre Tante hatte sie ja vorgewarnt.

Dann spülte der Schlaf über Aveline hinweg wie eine seichte Welle.


Aveline Jones und die Geister von Stormhaven

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