Читать книгу Aveline Jones und die Geister von Stormhaven - Phil Hickes - Страница 8

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Kapitel 2 Bücherboy

Am Morgen verabschiedete sich Aveline von ihrer Mutter.

»Keine Sorge, ich komme bald wieder, um dich zu retten«, flüsterte ihre Mum ihr ins Ohr und drückte sie.

Aveline hielt ihre Mutter noch ein bisschen länger fest, bevor sie losließ. Sie spürte Tante Lilians Blick auf sich und es graute ihr vor den nächsten Tagen, aber das musste ihre Tante ja nicht wissen.

In diesem sonderbaren alten Haus voller strenger Regeln kam Aveline sich vor, als wäre sie in die Vergangenheit zurückkatapultiert worden. Ihre Tante gehörte zwar zur Familie, aber sie waren noch nie zuvor nur zu zweit gewesen. Allein die Vorstellung war beklemmend und Aveline fühlte sich schon jetzt wie eingesperrt. Außerdem sah es ganz danach aus, als wären ihre Möglichkeiten zur Freizeitbeschäftigung hier sehr begrenzt. Mit triumphierendem Unterton in der Stimme hatte Tante Lilian verkündet, dass der Handyempfang an der Küste sehr unzuverlässig sei. Aveline wünschte, sie hätte das früher gewusst, dann hätte sie ein paar Bücher zum Lesen mitgebracht. Natürlich durfte sie den Computer benutzen, allerdings nur eine halbe Stunde am Tag. Längere Zeit vor dem Bildschirm zu verbringen, sei schädlich, hatte Tante Lilian erklärt, und das in einem Tonfall, der verriet, dass sie allgemein nicht besonders viel vom Internet hielt.

»Ich werde heute Vormittag einen Abstecher in den Ort machen. Möchtest du mitkommen, um Stormhaven zu erkunden?«, fragte Tante Lilian, nachdem Avelines Mum abgereist war. »Es gibt da einen kleinen Buchladen, den du vielleicht interessant findest, auch wenn der Besitzer leider einen Hang zum Schwadronieren hat. Danach könnten wir uns im Café treffen. Was meinst du?«

Der Vorschlag klang ganz in Ordnung, damit würde Aveline sich zumindest ein wenig die Zeit vertreiben können. Außerdem, das war ihr klar, bemühte sich Tante Lilian, nett zu ihr zu sein.

Als sie vor die Haustür traten, traf eine heftige Böe Aveline wie eine Ohrfeige mitten ins Gesicht. Der Wind trieb ihr die Tränen in die Augen und sie schaffte es nur mit Mühe, sich aufrecht zu halten. Tante Lilian hingegen schien immun dagegen, denn trotz ihrer hochgewachsenen Statur schritt sie unbeirrt die Straße entlang. Der Sturm peitschte mit ungestümer Kraft die Wellen auf, die neben ihnen an den Strand spülten und sich wieder ins Meer zurückzogen.

»Da wären wir«, sagte Tante Lilian, als sie einige Minuten später vor einer ganz normalen Haustür stehen blieb. Als Aveline sie verwirrt anschaute, deutete ihre Tante auf eine Außentreppe, die zum Keller hinabführte, wo ein verblasstes Holzschild im Wind schwankte.

Liebermans Secondhandbücher

Das Geschäft sah anders aus als alle Buchläden, die Aveline je gesehen hatte. Die Fenster waren mit einer dicken Schicht aus Staub und Ruß überzogen. Die Tür war so klein, dass sie auch der Eingang zu einer Hobbithöhle sein könnte. Aus einer kaputten Dachrinne tropfte Wasser, das sich am Fuß der Stufen zu einer Pfütze sammelte. Aber Avelines Neugier war geweckt. Der Buchladen war wie eine geheime Schatzhöhle voller Bücher, die nur darauf warteten, entdeckt zu werden.


»Hast du eine Uhr, Aveline?«

Aveline schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich hab mein Handy«, sagte sie und hielt es hoch.

Ein Anflug von Missbilligung huschte über Tante Lilians Gesicht. »Nun gut. Wir treffen uns um 11: 15 Uhr. Du musst nur die Straße hinuntergehen und am Ende nach rechts abbiegen, dann siehst du das Café schon, gleich gegenüber vom Hotel. Es heißt Beste Bohne. Sei bitte pünktlich. Ach, und versuch, dich von Mr Lieberman nicht in ein Gespräch verwickeln zu lassen, sonst kommst du den ganzen Tag nicht weg.«

Mit diesen Worten marschierte Tante Lilian davon.

Aveline stieg die Treppenstufen hinab und stieß die Tür auf. Eine Glocke klingelte. Das Bimmeln gefiel ihr, es war altmodisch und freundlich. Sollte sie je Premierministerin werden, würde sie einführen, dass alle Türen im ganzen Land eine kleine Glocke haben müssen.

Drinnen sah man auf den ersten Blick, dass die Bücher in diesem Laden wohl nicht so bald zur Neige gehen würden. In der Mitte stand ein großer Tisch. Darauf türmten sich gefährlich hohe Bücherstapel, die aussahen, als würden sie jeden Moment umfallen. Ringsherum standen Regale, deren Bretter sich unter noch mehr Büchern bogen. Der Laden war klein und wunderbar düster, in der Luft tanzten die Staubpartikel wie goldene Feen und über allem lag der moderige Duft von altem Papier. Es war ein Ort, der Aveline sofort gefiel. Und die Chancen standen gut, dass es hier genau die Art von Büchern geben würde, die Aveline liebte.

Sie zuckte zusammen, als hinter der Ladentheke wie aus dem Nichts ein weißhaariger, alter Mann auftauchte. »Sag nichts!«, krächzte er. Seine Stimme klang wie eine knarrende Eiche im Wind. »Pferde!«

»Wie bitte?«, fragte Aveline.

»Pferde«, wiederholte der Mann. »Du suchst ein Buch über Pferde. Ich bilde mir etwas darauf ein, Menschen auf den ersten Blick anzusehen, welche Bücher sie lesen – und bei dir nehme ich Schwingungen wahr, die mich sofort an Pferde denken lassen. Ich habe eine Ausgabe von Black Beauty, in tadellosem Zustand. Ich kann sie dir zu einem sehr guten Preis anbieten.«

»Ähm, nein danke.« Aveline lächelte still in sich hinein. Er hätte mit seiner Einschätzung nicht falscher liegen können, aber sie brachte es nicht über sich, ihm das zu sagen, denn er war viel zu begeistert von seinem eigenen Ratespiel.

»Also doch keine Pferde, was? Tja, nun, lass mich einen Augenblick nachdenken. Hm …« Der alte Mann kniff die Augen zusammen und musterte Aveline. Er war hager und groß und erinnerte sie an eine hochgewachsene Zimmerpflanze, die längst zu groß für ihren Topf geworden war. Nervös wickelte sie die Fransen ihres Schals um die Finger und wartete.

»Ach, ich hab’s!«, rief der Mann. Staub wirbelte auf, als er mit der Faust auf die Theke schlug. »Du bist eine Entdeckerin! Ja, dein Sinn für Abenteuer hat dich hierhergeführt! Sag mir, hast du schon In 80 Tagen um die Welt gelesen? Ich habe eine gebundene Ausgabe mit wunderbaren Illustrationen, du bekommst sie fast umsonst!«

»Ähm, vielleicht«, sagte Aveline. Sie wollte den alten Mann nicht vor den Kopf stoßen, aber was ihr Lesefutter anging, hatte sie sehr spezielle Vorstellungen. Sie atmete den Duft von tausend Büchern ein und ließ den Blick durch den Laden schweifen. »Haben Sie auch Bücher über Gespenster?«

Wumm! Wieder ein Faustschlag auf die Theke.

»Gespenster! Ach, natürlich, wusste ich’s doch! Genau das wollte ich gerade vorschlagen!«, rief er. »Selbstverständlich habe ich Bücher über Gespenster. Hunderte sogar. Hier gibt es Bücher über alles und jeden unter der Sonne – oder sollte ich vielleicht besser sagen unter dem Mond? Du suchst also Bücher über die Geisterstunde, hm, und alles, was nachts sein Unwesen treibt?«

Aveline nickte erwartungsvoll. Stormhaven hatte sich von Anfang an irgendwie unheimlich angefühlt. Es konnte sicher nicht schaden, einige Nachforschungen zu den übernatürlichen Phänomenen dieses Orts anzustellen. Falls sie einem Geist begegnen sollte, wollte sie nicht unvorbereitet sein.

»Ich heiße übrigens Ernst. Ernst Lieberman, Besitzer dieses bescheidenen Bücherimperiums. Und du?«

»Aveline Jones.«

»Was für ein wunderbarer Name«, erwiderte Mr Lieberman. »Weißt du, in meinem persönlichen Lebensbuch ist jeder, der Bücher mag, ein wunderbarer Mensch. Also, Aveline, sieh dich um und schau, ob du Bücher findest, die sich nach etwas Liebe sehnen. Bei mir sind alle Bücher willkommen, musst du wissen, ich weise nichts und niemanden ab. Selbst wenn mir jemand ein Buch über das langweiligste und ödeste Thema bringt, wie zum Beispiel eine Abhandlung über den Bau von Fließbändern, nehme ich es trotzdem mit offenen Armen auf. Bücher sind der größte Schatz auf dieser Welt, findest du nicht auch?« Er hielt inne und sah sie stirnrunzelnd an. »Du interessierst dich nicht zufällig für Fließbänder, oder?«

Lachend schüttelte Aveline den Kopf. Tante Lilian hatte recht gehabt, Mr Lieberman redete wirklich ohne Punkt und Komma, aber sie hörte ihm gerne zu. Alt und verknittert und chaotisch, wie er war, ähnelte er auf gewisse Weise seinem Laden und den Büchern darin.

»Ich bin mit meinem Vater in dieses Land gekommen, als ich noch ein kleiner Junge war«, fuhr Mr Lieberman fort. »Von ihm weiß ich, dass es in unserer Heimat Deutschland Menschen gab, die Bücher verbrannten. Das ist fast das Schlimmste, was man sich vorstellen kann. Er hat mir das Versprechen abgenommen, dass ich meine Bücher hege und pflege, als wären sie meine Kinder. Und hier bin ich, Vater von Millionen kleiner Papierkinder. Vielleicht wirst du heute eines von ihnen adoptieren?«

»Vielleicht«, sagte Aveline. »Ich hoffe es.«

Der alte Mann stützte sein spitzes Kinn auf die Hand. »Nun, dann geh am besten dort entlang. Die Bücher über Geister hausen ganz hinten im Laden, wo es dunkel und ein bisschen schaurig ist. Da fühlen sie sich am wohlsten.«

Mit diesen Worten drehte sich Mr Lieberman um und rief: »Harold! Wir haben hier eine sehr wichtige Kundin. Wärst du so freundlich, herzukommen und uns behilflich zu sein?« Wieder an Aveline gewandt, fügte er mit einem Lächeln hinzu: »Harold ist mein Großneffe – womit ich meine, dass er der Sohn meines Neffen ist, nicht ein ganz besonders großer Neffe, obwohl man auch dies von ihm behaupten kann.« Er vergewisserte sich, dass sie noch immer unter sich waren, bevor er mit gesenkter Stimme weitersprach: »Allerdings ist er manchmal ein wenig zurückhaltend. Ein bisschen schüchtern, verstehst du?«

Aveline setzte ihren ernstesten Gesichtsausdruck auf und nickte. Tatsächlich verstand sie sehr gut, was es hieß, ein bisschen schüchtern zu sein – so fühlte sie sich nämlich gerade selbst, wie sie inmitten eines vollgestopften Bücherladens stand und darauf wartete, einem Fremden vorgestellt zu werden.

Ein hochgewachsener Junge erschien in der Tür hinter dem alten Mr Lieberman.

»Ah, da bist du ja. Harold, das ist Aveline, eine hochgeschätzte Kundin.«

Der Junge warf einen Blick in Avelines Richtung, sagte aber kein Wort. Aveline überlegte, ob das daran lag, dass Mr Lieberman so viel sprach, denn das reichte für zwei. Die Familienähnlichkeit zwischen beiden war nicht zu übersehen. Harold war schlaksig wie sein Großonkel. Trübsinnig starrte er unter den Fransen seiner langen schwarzen Haare hervor, als würde er sich nur äußerst ungern um Kunden kümmern.

Da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.

Es war er!

Bücherboy!

Der Junge, den sie gestern vor der Fish-and-Chips-Bude gesehen hatte.

»Harold, würdest du Aveline bitte zeigen, wo die Gespensterbücher sind?«

Harold zögerte eine Sekunde, bevor er antwortete. Aveline kam die Sekunde vor wie eine Ewigkeit.

»Sie sind oben«, murmelte er schließlich. »Komm mit.«

Aveline wäre es lieber gewesen, Harold hätte ihr einfach die Richtung gezeigt und sie dann allein gelassen. Aber als sie ihm die schmale Treppe hinauf folgte, wurde ihr klar, dass es aussichtlos gewesen wäre, den Laden auf eigene Faust zu erkunden.

Im hinteren Teil des Ladens war es sogar noch beengter als vorn. Halb Bibliothek, halb Lagerraum mit Kartons voller Bücher, die den überquellenden Buchregalen den Platz streitig machten. Aveline hätte hier jahrelang stöbern können und hätte nicht mal ansatzweise alles gesehen. Hier oben war es um einiges dämmriger als im Verkaufsraum. Harold schaltete eine alte Lampe ein, vermutlich nur für sie, denn er selbst bewegte sich mit traumwandlerischer Sicherheit durch das Bücherlabyrinth.

Vor einem Regal blieb er stehen, bückte sich und warf die Haare aus der Stirn.

»Dieser Laden ist die reinste Müllhalde, aber das, was du suchst, steht vermutlich irgendwo hier.«

Aveline gefiel die chaotische, kleine Buchhandlung ziemlich gut, aber sie behielt ihre Meinung für sich. Jetzt gab es Wichtigeres zu tun. Als sie das kleine, durchgebogene Regalbrett mit dem Schild Spuk & Übernatürliches entdeckte, hätte sie Harold am liebsten zur Seite geschubst. Es war die reinste Schatzkiste.

»Danke«, sagte Aveline.

»Schon okay«, murmelte Harold.

»Du arbeitest also hier?«, fragte Aveline.

»An den Wochenenden.« Harold schniefte. »Meine Mum und mein Dad sind oft beruflich unterwegs und in der Zeit kümmert sich mein Großonkel um mich. Arbeit kann man es eigentlich nicht nennen. Die meiste Zeit sitze ich im Hinterzimmer und lese.«

»Hört sich toll an«, sagte Aveline ein bisschen neidisch. Sie hätte auch gern einen Ort wie diesen für sich gehabt. »Übrigens habe ich dich gestern gesehen. Als wir durch Stormhaven gefahren sind. Du hast ein Buch gelesen und Pommes gegessen.«

»Oh … ja … kann sein«, sagte Harold, dann verstummte er wieder.

Einen Augenblick lang herrschte verlegenes Schweigen. Aveline überlegte, ob sie noch einen Versuch unternehmen sollte, das Gespräch am Laufen zu halten, aber Harold machte es ihr nicht gerade leicht. Sie merkte, wie sie rot wurde, als Harold plötzlich auf das unterste Regalbrett deutete.

»Was gefällt dir überhaupt an diesem komischen Gruselzeug?«

Mit dieser Frage hatte Aveline nicht gerechnet.

»Ähm, ich weiß nicht«, sagte sie und wickelte das Ende ihres Schals um die Finger. »Vielleicht grusele ich mich einfach gern. Und ich habe mich schon immer gefragt, ob es Geister gibt oder nicht. Irgendetwas muss an dem Gruselzeug doch dran sein, ich meine, wieso sollte man sich das alles nur ausdenken? Glaubst du an Geister?«

Harold schnaubte. »Nö, das ist nur ein Haufen Blödsinn. Aber egal, wenn du Geister magst, dann bist du hier genau richtig. Der ganze Ort ist wie ein Friedhof.«

»Ja, ich habe eine Vogelscheuche gesehen, die richtig gruselig war.«

»Warte nur, bis du die Einheimischen kennenlernst, die sind noch viel gruseliger.«

Aveline kicherte. »So schlimm wird es schon nicht sein.«

»Eigentlich ist es ganz okay hier. Nur ein bisschen ruhig. Aber die Pommes sind echt gut. Du musst sie unbedingt mal probieren.«

Aveline wurde erneut rot. »Okay.«

»Bist du mit deinen Eltern da?«

»Meine Mum hat mich hergebracht«, sagte Aveline. »Mein Dad lebt in Amerika. Sie haben sich scheiden lassen, als ich noch klein war«, fügte sie hinzu. Sie fühlte sich immer zu einer Erklärung genötigt, warum ihre Mum und ihr Dad Tausende von Kilometer getrennt voneinander lebten. »Momentan wohne ich allerdings bei meiner Tante Lilian.«

»Oh. Okay. Tja, dann überlasse ich dich jetzt den Büchern.«

»Danke.«

Aveline meinte, eine leichte Röte auf Harolds Gesicht zu sehen, als er sich zum Gehen wandte, aber wegen seiner wuscheligen Haare konnte man das nicht mit Sicherheit sagen. Zumindest durfte sie jetzt allein in den Schätzen stöbern, die Mr Lieberman in dieser dunklen und staubigen Ecke versteckt hatte.

Nachdem Harold gegangen war, legte sich Stille über den Raum. Aveline stellte sich vor, wie alle Bücher den Atem anhielten und gespannt darauf warteten, welches von ihnen ausgewählt werden würde. Mr Lieberman hatte von ihnen gesprochen wie von einsamen Menschen. Das hatte Aveline traurig gemacht und am liebsten hätte sie alle mit nach Hause genommen.

Neugierig kniete sie sich auf den Boden, legte den Kopf schief und ließ den Blick über die Buchrücken gleiten. Die meisten waren alt. Sehr alt. Dazwischen gab es immer wieder ein paar Taschenbücher, die schon bessere Zeiten erlebt hatten, aber der Großteil der Bücher war so, wie man sie heute nur noch selten fand – dicke Wälzer mit welligen Buchrücken und Einbänden, deren Farben inzwischen verblasst waren und denen man ansah, dass sie durch sehr viele Hände gegangen waren. Innen war die Schrift altmodisch und klein, viel kleiner, als Aveline es gewohnt war. Die Seitenränder waren vergilbt und runzlig wie die Haut eines alten Menschen.

Aveline seufzte vor Vergnügen. Gespensterbücher durften ruhig ein wenig zerfleddert sein, das passte zu ihnen.

Aber jetzt musste sie entscheiden, welches sie kaufen wollte. Ihre Mum hatte ihr etwas Geld dagelassen. Aveline musste sparsam damit umgehen, aber ein gebrauchtes Buch würde kein allzu großes Loch in ihre Geldbörse reißen. Sie blickte auf ihr Handy und sah, dass sie noch eine halbe Stunde Zeit hatte, bis sie ihre Tante im Café treffen sollte. Sie biss sich auf die Unterlippe und fing an, ein Buch nach dem anderen aus dem Regal zu ziehen.

Gesammelte Gespenstergeschichten

Das Beste aus der Welt der Gespenster

Schauerliche Sagen

Enzyklopädie der Hexerei und Magie

Übersinnliche Erzählungen

Englands Spukgestalten

So ging es immer weiter. Aveline besaß kein einziges davon, kein Wunder also, dass der Bücherstapel neben ihr immer größer wurde. Eine Auswahl zu treffen, war schier unmöglich.

Da erregte ein bestimmtes Buch ihre Aufmerksamkeit: flaschengrün mit Goldbuchstaben. Es sah aus, als gehörte es in ein Museum oder eine Universitätsbibliothek. Im Gegensatz zu den anderen Büchern ging es darin um Stormhaven und die nähere Umgebung.

Gespenster und Phantome von Dorset, Devon und Cornwall

Volltreffer, genau danach hatte sie gesucht.

Aveline nahm das Buch aus dem Regal, schlug es auf einer x-beliebigen Seite auf und fing an zu lesen. In dem Text ging es um eine mythische Kreatur, bekannt unter dem Namen Bucca oder Klopfer. Das waren Kobolde, die tief unten in den Zinnminen Cornwalls lebten und an Felswände klopften, um die Minenarbeiter zu warnen, wenn unterirdische Gänge einzustürzen drohten. Aveline versuchte, sich vorzustellen, wie man sich in einem stockdunklen Tunnel fühlte, wenn plötzlich ein Klopfen ertönte und man wusste, dass nur noch wenige Sekunden zur Flucht blieben. Sie las weiter und erfuhr, dass die Minenarbeiter sich nicht einig waren, ob die Buccas wirklich gut oder doch eher böse waren. Einige glaubten sogar, dass –

»Buh!«

Aveline machte vor Schreck einen Satz. Verärgert schob sie ihre Brille hoch und starrte Harold an, der grinsend auf sie herabblickte. Er bewegte sich lautlos wie ein Kater, der sich an einen Spatz anschleicht.

»Na, schon irgendwelche Geister gesehen?«

»Nein, du hast sie alle verscheucht«, erwiderte Aveline und kam zu dem Schluss, dass sie den Großonkel lieber mochte als den Großneffen. Sie hielt das Buch hoch, in dem sie gerade gelesen hatte. »Ich muss gehen, meine Tante wartet auf mich. Wie viel kostet das?«

Harold warf seine Haare zurück und betrachtete stirnrunzelnd das Buch.

»Keine Ahnung. Die Bücher haben keine Preisschilder, aber mein Großonkel weiß immer genau, wie viel sie kosten. Gib’s her, dann frag ich ihn.«

Nur widerwillig reichte sie Harold das Buch. Sie hatte das Gefühl, als würde es bereits ihr gehören.


Aveline folgte Harold nach unten in den Verkaufsraum und wartete nervös, als er seinem Großonkel das Buch gab.

»Sie will wissen, wie viel es kostet.«

»Aveline möchte wissen, wie viel es kostet«, korrigierte ihn Mr Lieberman.

»Ja, klar.«

Mr Lieberman zog eine halbmondförmige Brille hervor und setzte sie auf seine große Nase. Blinzelnd begutachtete er den Buchrücken und summte dabei halblaut vor sich hin. »Ah, das ist eine echte Rarität. Dieses Buch wird schon seit Jahren nicht mehr gedruckt. Es würde mich nicht wundern, wenn dies das letzte Exemplar wäre. Womöglich das einzige im ganzen Land? Ach, stell dir vor, du besitzt etwas ganz Besonderes wie dieses seltene Buch!«

Avelines Augen wurden immer größer. Mr Lieberman gab ihr das Buch, setzte die Brille ab und strahlte Aveline an.

»Für ein Pfund gehört es dir.«

»Wirklich? Ich meine, mehr kostet es nicht?«, fragte Aveline. Sie hatte den Verdacht, dass der richtige Preis sehr viel höher war. Sie blickte zu Harold, aber der zuckte nur mit den Schultern, als wäre alles völlig normal.

»Ganz sicher«, bekräftigte Mr Lieberman. »Ich kenne den Preis jedes einzelnen Buches in diesem Laden und dieses hier kostet zweifellos ein Pfund. Möchtest du es kaufen?«

Aveline zog einen Zehn-Pfund-Geldschein aus ihrer Tasche und hielt ihn hoch. »Ja, bitte!«

»Ausgezeichnet!«, sagte Mr Lieberman. »Und schon findet wieder ein Buch ein schönes Zuhause. Harold, sei bitte so nett und gib Aveline das Wechselgeld.«

Harold tippte den Betrag in die Kasse, dann steckte er das Buch in eine braune Papiertüte. »Für dich.«

»Danke«, sagte Aveline.

»Tut mir leid, wenn ich dich vorhin erschreckt habe.«

»Hast du nicht«, antwortete Aveline, denn Harold musste ja nicht wissen, dass er ihr einen ziemlichen Schrecken eingejagt hatte. »Dahinten ist es eben ein bisschen gespenstisch.«

»So wie überall in Stormhaven«, erwiderte Harold grinsend. »Keine Sorge, du gewöhnst dich dran.«

Mr Lieberman streckte den Arm aus, um Avelines Hand zu schütteln. »Herzlichen Dank für den Einkauf, es war mir ein Vergnügen, Aveline.« Versonnen legte er einen Finger an seine Wange. »Jetzt, wo ich so darüber nachdenke … mit dem Buch hat es irgendetwas auf sich … was war es doch gleich noch mal?«

Aber Aveline konnte nicht länger warten, denn sie wollte es sich nicht mit ihrer Tante verscherzen.

»Tut mir leid, ich muss jetzt gehen. Auf Wiedersehen – und vielen Dank!«

Beim Hinausgehen hörte sie die Türglocke fröhlich zum Abschied bimmeln.

»Oh mein … ach herrje«, murmelte Mr Lieberman. »Jetzt fällt es mir wieder ein.«

Das Gesicht des alten Mannes war bleich geworden wie das einer Schleiereule.


Aveline Jones und die Geister von Stormhaven

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