Читать книгу Yorick - Ein Mensch in Schwierigkeiten - Philip Hautmann - Страница 4

(Yorick, sein Leben und seine Freunde)

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Yorick war ein witziger Kerl. Dick, gutmütig und leutselig, wie er war, war er überzeugt von der Originalität seines Wesens sowie davon, dass auch die anderen Leute um ihn herum derselben Meinung, ihn betreffend, anhängen und diese tief in ihren Herzen mit sich herumtragen würden. Ja, nicht allein in ihren Herzen mit sich herumtragen, dachte er, sondern vielmehr tief aus ihren Herzen heraus und von sich aus, unaufgefordert, in die Gesellschaft, als deren imaginärer Mittelpunkt er sich sogar in Abwesenheit stets wähnte, hinein tragen, kommunizieren und eifrig besprechen würden. Er war schließlich Yorick! Und mit dieser Überzeugung gerüstet mischte er sich unter die Leute, dick, gutmütig und leutselig, wie er war, mit dem Ziel, durch seinen Witz und seine Originalität die von ihm als unnötig und unnatürlich empfundene Zwanghaftigkeit und Formalität ihrer Gesellschaften aufzulockern, sowie mit der größten Selbstverständlichkeit in der Annahme, dass ihm dieses auch immer unweigerlich gelang. Viele Türen in der Gesellschaft stünden ihm offen, dachte er sich, ein großes Haus mit offenen Türen und vielen Stockwerken sei die Gesellschaft, und wenn er sich schon nicht dazu aufgefordert sah, so trat er eben unaufgefordert in sie ein, was könne schließlich schon passieren, war seine Meinung, und durch seine offene Art aufzutreten standen ihm auch tatsächlich viele Türen in der Gesellschaft offen, nicht aber von sich aus freiwillig. Er kam uneingeladen zum Frühstück, und wenn man ausging, um ihn loszuwerden, so ging er mit aus, in eine andere Gesellschaft, da er glaubte nirgends unangenehm sein zu können. Ging man wieder nach Hause, so ging er ebenfalls wieder mit, setzte sich endlich zu Tisch, wo er gerne allein und von sich selbst sprach, und verblieb dort bis spät in die Nacht, oftmals, um am nächsten Morgen wieder zu kommen. Machen Sie ihre Rechnung nicht ohne Yorick! Denken Sie in ihrer allzu gewöhnlichen, alltäglichen Existenz an die Möglichkeit eines Yorick! Unterschätzen Sie nicht die Möglichkeit des Auftretens eines Yorick!, dachte er bei sich, es waren seine ihm liebsten Gedanken, wobei er freilich gar keine rechte Vorstellung hatte was das eigentlich bedeuten und worauf dieses Anwendung hätte finden sollen; wäre unerklärlicherweise der große Weise Sokrates plötzlich im Zimmer gestanden, er hätte es nicht erklären können. Die Leute um ihn herum wussten es freilich umso besser.

Einmal war Yorick in der Gesellschaft des distinguierten Herrn A. anwesend, natürlich nicht, weil er ausdrücklich eingeladen gewesen wäre, sondern es hatte sich über Zufälle so ergeben. Mittelpunkt dieser Zusammenkunft bildeten die Schilderungen des distinguierten Herrn A. über ein Hubschrauberunglück, bei welchem er zugegebenermaßen kurz zuvor schwere Blessuren erlitten hatte (er saß zu dieser Zeit vorübergehend im Rollstuhl), immerhin aber mit dem Leben davongekommen war, und nicht allein aufgrund der persönlichen Beteiligtheit an dem Vorfall, sondern auch aufgrund der Distinguiertheit des Herrn A. war die Dramatik der Schilderung beträchtlich, derart, dass sie vor allen Dingen bei den Damen der Gesellschaft kalkulierte Aah!- und Ooh!-Seufzer hervorrief. Als die Ausführungen in ebendieser Dramatik auf ihren Höhepunkt zuzusteuern schienen, meldete sich dann plötzlich Yorick zu Wort (denn auch er wollte die Aah!- und Ooh!-Seufzer vor allem der Damen auf seiner Seite wissen), indem er ebenso plötzlich einwarf, dass, wenn sich jemand in ein so gefährliches Objekt wie einen Hubschrauber setze, er bis zu einem gewissen Grad ja selber schuld sei; würden diese Dinger zum Beispiel im Krieg ja auch schon mal von sich aus, ohne vom Feind unter Beschuss genommen worden zu sein, abstürzen, was dem Gespräch eine unerwartete Wendung geben sollte, die Damen dazu veranlassen sollte, gegenseitig in die Gesellschaft hinein zu fragen,

ob man es denn tatsächlich dem Herrn A. zurechnen könne, dass er bei einem so schrecklichen und dramatischen Unglück kaum mit dem Leben davongekommen sei

und

ob Hubschrauber denn tatsächlich so gefährliche Objekte seien, dass man der Achtsamkeit seines eigenen Leib und Lebens gegenüber auf eine derartige Beförderungsmöglichkeit, auch wenn sie verkehrstechnisch sicher angenehm oder für den Laien von durchaus interessanter Natur sein möge, besser verzichte und sich ihr entschlage,

und endlich den (distinguierten) Herrn A. der Höflichkeit und der allgemeinen Beruhigung halber (sowie natürlich auch, um sich in seiner Distinguiertheit zu unterstreichen) einen vermittelnden Standpunkt einzunehmen, und siehe da, schnell hatte sich die Sache wieder entspannt. Allein, jener Zustand einer sich wieder in sich verfestigenden Beruhigung in der Gesellschaft war zu gegenseitigem Unglücke jedoch gegenläufig zu dem inneren Zustand Yoricks, der, wie immer, seine eigenen inneren Zustände für jene der Gesellschaft um ihn herum hielt, und er war bereits in höchster Erregung. Sein Moment sei gekommen, sagte er sich, jetzt sei es an der Zeit, die Sache endgültig von ihrer heiteren Seite in Beschlag zu nehmen, woraufhin er einige Helikopterwitze zum Besten gab, die bald für eine allgemein feindselige Erstarrung in der Gesellschaft sorgten. Gut habe er das gemacht und für allgemeine Heiterkeit habe er gesorgt, dachte Yorick sich nachher. (In die Gesellschaften rund um den Herrn A. wurde er freilich nicht mehr eingeladen.)

Nicht alle der Anwesenden waren ihm jedoch deswegen feindselig (eigentlich waren es streng genommen nur der distinguierte Herr A. und seine Gemahlin), und im Speziellen die betagte Dame Z. benützte die Verwirrung, die Yorick hervorgerufen hatte, als eine günstige Gelegenheit, sich selbst in den Mittelpunkt zu rücken (wofür sie Yorick insgeheim dankbar war), und den Anwesenden jenes Gesprächsthema aufzuzwängen, das ihr selbst am wichtigsten war, nämlich ihre Lebensgeschichte, in deren Erzählfassung ihr dreißig Jahre zuvor verstorbener Vater, Pabschi von ihr genannt, einen eigentümlich herausragenden Platz einnahm. Der Umstand, dass der bewusste Vater zwar eben bereits vor gut dreißig Jahren gestorben war, stellte für die Dame Z. im Allgemeinen kein Hindernis dar, über ihn immer mal wieder und mit einer Innigkeit zu referieren, so als läge sein Dahinscheiden erst dreißig Tage zurück, und so sah sich die Gesellschaft wieder einmal dazu gezwungen, einen jener Berichte entgegenzunehmen (die wegen ihrer Langwierigkeit und Umständlichkeit gefürchtet waren) von dem herrlichen Italienurlaub, den die beiden irgendwann in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts unternommen hatten, dem Hund, den er ihr als Kind gekauft hatte, der aber bald von einem der ersten Automobile überfahren wurde, dem Hochwasser anno 54 und anderen Gelegenheiten, in denen der Vater gemäß den Schilderungen der Dame Z. seinen insgesamt ausgezeichneten Charakter an den Tag gelegt habe, seine Herzensgüte, seinen herausragenden Verstand und die Eigenschaft, dass er ein Mensch gewesen sei, der immer (immer wurde von ihr besonders betont) seinen Überzeugungen treu geblieben sei, was endlich Yorick, der bereits unruhig geworden war darüber, dass jemand anderer das Gespräch so lange an sich gezogen hatte, ein Signal gab, sich einzubringen, und zwar mit der scherzhaft gemeinten Bemerkung Also, mit einem Wort, ein Trottel! (was immerhin der Rest der Gesellschaft, die bis dahin in dem kollektiv durchgewälzten Gedanken Und das alles nur wegen Yorick! vor sich hingegrollt hatte, nunmehr insgeheim komisch fand). Yoricks spontan erdachter Plan, gemäß des Aphorismus eines Denkers, wonach Überzeugungen der größere Feind der Wahrheit seien als die Lüge, eine philosophische Diskussion über den Sinn und Unsinn von Überzeugungen anzuzetteln, sollte jedoch nicht aufgehen, da sich eine solche Diskussion zu seinem Bedauern nicht mehr recht entwickeln wollte.

Massenvernichtungswaffen! Massenvernichtungswaffen müsse man endlich gegen die Araber einsetzen, denn ohne den Einsatz von Massenvernichtungswaffen gegen die Araber würde es nicht mehr lange gehen, riss da plötzlich Herr G. das Gespräch an sich; Yorick reagierte blitzschnell und als erster mit einem Versuch, mit der Darstellung des Konzepts des furchtbaren, tödlichen Röntgenlasers zu brillieren, der freilich misslang, indem er innerhalb der Fragen der anwesenden Damen,

ob man denn wirklich Massenvernichtungswaffen gegen die Araber einsetzen müsse

und

ob der Einsatz von Massenvernichtungswaffen gegen die Araber denn wirklich ethisch vertretbar wäre,

unterging, dann war schon die Reihe an der Gattin des Herrn G., die diesen gelangweilt fragte, warum er denn eigentlich immer herumstänkern müsse, woraufhin wiederum Herr G. in voller Lebendigkeit entgegnete, weil er eben gerne herumstänkere! Und außerdem sei er tatsächlich der Meinung, dass es ohne den Einsatz von Massenvernichtungswaffen gegen die Araber nicht mehr lange gehen würde. – Ja, in Saudi-Arabien würde er Geschäfte machen, ebenso in Jemen, in Oman und Iran; beim Kirchenchor sei er dabei, in Libyen sei er involviert und ebenso in Bhutan, schaltete sich da plötzlich Herr G2. dazwischen, der Geschäftsmann war, und der damit schnell die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, wobei dies alles nur einen kleinen Teil seiner gesamten Aktivitäten darstelle, und schon wollte jeder etwas darüber wissen, welche Aktivitäten der Herr G2. denn sonst noch pflegen würde. – Bis auf Yorick, der an Herrn G2. plötzlich und ohne irgendeinen bösen Hintergedanken, nein, sondern allein aus Interesse an der Sache, stattdessen die Frage richtete – was er in Oman denn eigentlich genau machen würde. Herr G2. tat so, als hätte er diese Frage überhört, und fuhr stattdessen fort mit seiner Erzählung, dass er in Amerika was machen würde, in Lateinamerika, in Mittelamerika, in Afrika und in Asien, und wenn er in Grönland nicht schon etwas machen würde, so – würde er eben zur Zeit gerade planen, auch dort etwas zu machen!, dabei wuchs er bei diesen Ausführungen in eine Art Haltung ein, dass man unweigerlich denken musste: Die Größe des Triumphes dieses Mannes wird allein durch die Größe des Mannes selbst übertroffen! – Da jedoch wollte Yorick schon wieder von ihm wissen, was er in Oman denn eigentlich genau machen würde, woraufhin Herr G2. etwas das Gesicht verzog. Hoch erfreut, mit ebenso gleichzeitig in die Höhe schießenden Zeigefingern und Mundwinkeln, nahmen da die Zwillingstöchter der betagten Dame Z. ihre Gelegenheit war, auch etwas anzubringen, und zwar, indem sie synchron bemerkten, wonach es eine Unart sei, andere Menschen mit Fragen festnageln zu wollen, auf die sie eben keine Antwort geben wollen würden. Yorick freilich bemerkte diesen Vorfall gar nicht, sondern zog es vor, sich bei Herrn G2. ein drittes Mal danach zu erkundigen, was er in Oman denn eigentlich genau machen würde, woraufhin Herr G2. nach einer kurzen Pause zu erzählen anfing, dass die folgende Geschichte, aus der er eine seiner wichtigsten Lebensweisheiten geschöpft habe, eine etwas längere Einleitung nötig machen würde, und mit der Schilderung seiner Jugend als Pfadfinder einsetze. Die Zwillingstöchter der betagten Dame Z. kamen freilich nicht ganz in den Genuss dieser Schilderungen, sie blickten derweil mit eingestürzten Visagen und unfähig, ein Wort vorzubringen, wie Wachspuppen oder Porträts auf Yorick; dafür, dass sich jemand ihrer Lieblingsbeschäftigung, andere Leute am Schlaffitchen zu packen und sie über die Unmöglichkeit ihres Verhaltens zu belehren, so vollständig entzogen hatte, schien selbst in ihrem grundlegenden Gefühlsrepertoire kein adäquater Ausdruck vorhanden zu sein, nur eine gähnende Null schien dort ihre Bahn um sich selbst zu ziehen. Schon aber wollte Yorick von Herrn G2. wieder wissen, was er in Oman denn eigentlich genau machen würde, der daraufhin entgegnete: Man betrachte jenes Bild da an der Wand. Sehr geschmackvoll, nicht?; obwohl er in Oman eigentlich gar keine anrüchigen Aktivitäten verfolgte, war er eben ganz einfach nicht in der Lage, aus seiner durch und durch geschäftsmännischen Art auszubrechen, innerhalb derer er das Blaue vom Himmel runterplauderte, solange es unverbindlich war, aber beinahe unfähig wurde, etwas zu sagen, wenn es in Verbindlichkeit umzuschlagen drohte, beziehungsweise, wenn jemand ihn fragte, was er als Geschäftsmann eigentlich genau machen würde, und bevor er eine Antwort auf Yoricks Frage gab, die alles in Unspektakularität aufgelöst hätte, stand er lieber auf, und ging unter der Entschuldigung, noch einen wichtigen Geschäftstermin wahrnehmen zu müssen, wobei Yorick ihm nachrief, was für einen wichtigen Geschäftstermin er um halb zwölf Uhr in der Nacht denn noch haben würde, Herr G2. war jedoch bereits entwichen. Dass er Herrn G2. vertrieben hatte, söhnte freilich wiederum den distinguierten Herrn A. innerlich mit Yorick aus, da der distinguierte Herr A. die bodenständige Geschwätzigkeit des Herrn G2. nicht leiden mochte, ebenso wie umgekehrt Herr G2. gegen die distinguierte Geschwätzigkeit des Herrn A. große Abneigung empfand. Es ist wahrscheinlich nicht zu viel gesagt, wenn man behauptet, dass Herr A. und Herr G2. sich aufgrund eines feinen Unterschiedes in ihrer ansonsten vollkommen identischen Art grundtief hassten. Ebenso hassten sich übrigens Herr C. und Herr G. sowie Frau E. und Frau D.; Herr C. hasste Herrn G., weil Herr G. aus gutem Hause kam, und sich nie im Leben richtig hatte anstrengen müssen, im Gegensatz zu ihm, Herr G. hasste Herrn C, weil der in seiner Eigenschaft als Unterschichtenspross ein doppelt und dreifach rücksichtsloser Aufsteiger war, was ihm missfiel; Frau E. hasste Frau D. weil Frau D. dem völlig hilflosen Herrn P. ein Kind angehängt hatte, so wie sie es einige Jahre zuvor selbst mit Herrn P. getan hatte; Frau D. hasste Frau E., weil sie zuvor nicht nur ein Kind sondern auch einen völlig hilflosen Mann zu ihrer Verfügung hatte, und außerdem wusste, dass Frau E. sie seitdem und begründeterweise noch stärker hassen musste als vorher. Auch hassten sich Herr T. und Frau W. sowie Frau P. und Herr E.; Herr T. hasste Frau W., weil sie früher in seiner Abteilung gearbeitet und die Anstellung nach drei Monaten ohne Lohnauszahlung aufgegeben hatte, was ihm logisch zwar einleuchtete, emotional jedoch nicht mit seinem Selbstbild als größter Abteilungsleiter aller Zeiten vereinbar war, Frau W. jedoch hasste nicht Herrn T., da sie dafür zu viel Format hatte, was den Hass Herrn T.s gegenüber Frau W. zusätzlich ins beinahe Grenzenlose steigerte; Frau P. hasste Herrn E., weil er ein eigenständiger Mensch war, sie jedoch nicht, Herr E. hasste Frau P., da er wusste, dass sie nur auf eine Gelegenheit warten würde, ihren Hass und ihre Revanchegelüste gegenüber ihrer Umwelt ordentlich ausleben zu können. Dann hasste noch Herr X. Herrn A., sowie Frau A. Frau X.; Herr X. hasste Herrn A., weil er ihm seiner Meinung nach zu wenig Aufmerksamkeit zukommen ließ, Herr A. hasste Herrn X., weil er umgekehrt genau dasselbe dachte; Frau A. hasste Frau X., weil ihr Haus auf der linken Straßenseite lag, und ihres auf der rechten, Frau X. hasste Frau A., weil ihr Haus auf der rechten Straßenseite lag, und ihres auf der linken. Als Yorick in einer Laune noch etwas einwarf und der intelligenten Dame K. gegenüber philosophierte, dass der Mensch doch unglaublich komisch sei und bereits dann eingeschnappt sein möge und den anderen mit unerbittlichem Ressentiment verfolgen würde, wenn man bloß „Hallo“ zu ihm sage, während er sich einbilden würde, man hätte sich dabei vor ihm mindestens zu verbeugen, entwickelten alle einen Hass auf Yorick, da jeder und jede der Meinung war, diese Aussage sei in perfider Weise von allen Leuten ganz genau auf ihn oder sie gemünzt. Die Behinderten würden mit ihren Rollstuhlauffahrrampen alle öffentlichen Gebäude verschandeln, warum sie denn nicht ganz einfach zuhause bleiben könnten, wie sie es früher ja auch getan hätten – früher; heute würden sie mit ihren Rollstuhlauffahrrampen die öffentlichen Gebäude verschandeln, die Scheiß-Behinderten!, ereiferte sich dann zum Schluss noch Herr G.,

ob die Rollstuhlauffahrrampen für die Behinderten denn tatsächlich die öffentlichen Gebäude so sehr verschandeln würden

und

ob man denn tatsächlich von den Behinderten verlangen könne, dass sie zuhause bleiben sollten,

fragten die Damen, Frau G. adressierte gelangweilt an ihren Gatten die Frage, weshalb er denn dauernd herumstänkern müsse, woraufhin Herr G. in spitzbübischer Manier und unruhiger Körpersprache die Antwort erteilte, weil es ihm eben Freude bereiten würde, herumzustänkern! Und außerdem sei er tatsächlich der Meinung, dass die Scheiß-Behinderten doch alle zuhause bleiben sollten, anstatt mit ihren Rollstuhlauffahrrampen die öffentlichen Gebäude alle zu verschandeln.

So war das eben charakteristisch für Yorick. In dem einen oder anderen Zusammenhang gelang es ihm zwar, Sympathien zu erwerben, wenngleich er dazu tendierte, sie auch schnell wieder zu verlieren, in Ausnahmefällen, wenn die Umstände günstig waren, oder aber Yorick sich das richtige Opfer, auf das sich alle einigen konnten, gefunden hatte, gab es tatsächlich Momente, in denen die Möglichkeit des Auftretens eines Yorick von der Gesellschaft dankbar angenommen wurde, und in denen Yorick durch sein Auftreten die Lacher allgemein, oder in selteneren Fällen sogar einige Aah!- und Ooh!-Seufzer einiger Damen, auf seine Seite zu bringen imstande war. Wir erinnern uns an einen solchen Fall zum Beispiel anlässlich der Vernissage zu einer Ausstellung des Künstlers B., bei der auch Yorick dabei war. Der Künstler B. war eine komplizierte Persönlichkeit. Seiner Selbstdefinition als Künstler sich gewiss, war der künstlerische Erfolg des Künstlers B. prekärer Natur; zudem hatte er altersmäßig bereits die Vierzig überschritten. In Kombination dieser drei Eigenschaften, wozu die letzte, eben dass er bereits die Vierzig überschritten hatte, am markantesten beitrug, ergab sich an ihm also das Phänomen eines unerträglichen Menschen, und darauf war er, wie bei Künstlern nicht unüblich, sogar noch stolz. (Früher war der B. ein ganz normaler und unauffälliger Charakter gewesen; durch seine Fixiertheit, als Künstler Anerkennung zu finden, hatte er sich diesen im Lauf der Zeit unwiederbringlich ruiniert.) Seine zur Schau gestellten Kunstwerke bestanden aus bemalten Damenunterhosen und aus im Stil der Comic Art gehaltenen Zeichnungen von nackten Frauen in sexuell aufreizenden Positionen sowie einer Reihe von Selbstporträts, welche sinnigerweise im Übrigen die mit Abstand künstlerisch gelungensten Werke seines Gesamtrepertoires darstellten. Zur Eröffnung der Ausstellung hatte B. sich eingebildet, das Publikum mit einer Performance zu beglücken, bei der er in einer sich selbst bekräftigenden Manier irgendwas um das Thema Alkohol, Frauen und Sexualität zum Besten gab und dabei Striche und Linien auf eine Leinwand auftrug oder diese mit Obst oder Unrat bewarf (oder ein Stück bemalter Damenunterwäsche auf sie anheftete), wobei er sich den Pinsel (und das Obst (und den Unrat)) demonstrativ immer von seiner gehorsam rechts hinter ihm stehenden Assistentin, einer jungen Asiatin, reichen ließ, um ihn ihr anschließend wieder zu retournieren. Außerdem hatte der Künstler B. ein idiotisches Häubchen auf, das allein schon gereicht hätte, um einem den Tag zu versauen! Eine Stunde oder noch länger zog sich das dahin, zum schweren Ärger des Publikums. Wie diese Künstler und auch sonstigen Leute, die glauben, etwas zu sagen zu haben, das oft ganz einfach nicht merken würden, wie sie mit ihrem blasierten und/oder ganz einfach langweiligen und in die Länge gezogenen Zeug den Leuten schwer auf die Nerven gehen würden, dachte sich Yorick (bzw. das Publikum insgesamt) nach gut fünf Minuten; etwas später war der Gedankenfluss dann schon fortgeschritten zu entsetzlich, wie diese Künstler und auch sonstigen Leute es nicht merken würden, wie sie mit ihrem langweiligen, blasierten Zeug den Leuten extrem auf die Nerven gehen würden, und nach einer weiteren Weile zu kolossal, wie diese Künstler und auch sonstigen Leute es ganz einfach nicht merken würden, wie dermaßen extrem sie den anderen Leuten mit ihrem eingebildeten Blödsinn auf die Nerven gehen würden, das war der kollektive Gedanke zu Minute Nr. 13 nach Beginn der Chose, der sich in jedem einzelnen der anwesenden Gehirne festgefressen hatte, und dort munter vor sich hinraste, ohne ein rechtes Ziel zu finden außer eben wiederum sich selbst, um sich bei Yorick individuell weiterzuspinnen in„Auf den Nerven, auf den Nerven sitzt der Künstler B.“ (nach der Melodie des Kinderliedes), guter Gedanke, ein Yorick-Gedanke! (dachte er), das sollte ausgebaut werden; Ätzende Scheiße, ätzende Scheiße?, ätzende Scheiße! Ätzende Scheiße... wie würde dafür eigentlich eine passende Übersetzung ins Englische lauten?...“ Und nach gut einer halben Stunde: Ätzende Scheiße adäquat übersetzt ins Englische, dazu falle ihm nichts ein! Für „ätzende Scheiße“ scheine es im Englischen keine Übersetzung zu geben, welche die Magie dieses Ausdrucks wiederzugeben imstande wäre; ein Kunstwerk soll zum Nachdenken anregen, Kunst solle provozieren; und dieses da rege zum Nachdenken an und provoziere die Überlegung, was wohl eine passende Übersetzung von „ätzende Scheiße“ ins Englische wäre, und nach der 67sten Minute Seeräuber zur See, Landräuber zu Land, Voldemorth, Keyser Soeze, Sauron, dazwischen Yorick; Azagthoth, Humwawa, Enki; keine Angst, Yorick rettet dich, Festung bricht, Sieg erficht. Tausende von Sterne / und alle haben ihn gerne. Als es endlich vorbei und das Buffet eröffnet worden war (Yorick war derweil noch in Gedanken), trat der Künstler B., der das alles zu verantworten hatte, in tönender Manier auf, sprach einige Worte über sich selbst und stellte die Anwesenden vor die Herausforderung, zum eben Erlebten Stellung zu beziehen, und dabei seine ehrliche Meinung zu sagen. Woraufhin Yorick ihm fairerweise und vor allen Leuten seine ehrliche Meinung sagte. (Davon unabhängig betrank sich der Künstler B., wie er es immer tat, wenn er die Öffentlichkeit aufsuchte, im Lauf des Abends noch auf das Entsetzlichste und belästigte sämtliche anwesenden Frauen mit nichtigen, jedoch kompromisslosen Annäherungsversuchen. Der Auftritt endete, wie meistens bei ihm, mit einem handfesten Streit mit seiner ebenfalls auf das Entsetzlichste betrunkenen Assistentin und anschließendem gemeinsamen Abgang, nachdem er eine Fünfzehnjährige penetrant in ein Gespräch zu verwickeln versucht und sie, nachdem sie ihre diesbezügliche Abgeneigtheit deutlich gemacht hatte, aufs Gröbste zu beschimpfen begonnen hatte.) Und was für ein idiotisches Häubchen der Künstler B. stets aufhatte! So eben auch an jenem Abend!

Und ja, es gab auch Gelegenheiten, bei denen Yorick von Einmischungen Abstand nahm und von seinem Recht zu schweigen Gebrauch machte, entweder, da er es tatsächlich nicht der Mühe wert gefunden hätte, belehrend aufzutreten, oder aber, weil er vom Erlebten tatsächlich überwältigt war. Das war zum Beispiel einmal der Fall, als er auf einer Parkbank saß und sich über ein angenehm entspanntes philosophierendes Nachdenken über das Wesen des Menschen in einen Zustand intellektueller Satisfaktion versetzt hatte und begonnen, darin glücklich vor sich hinzudämmern und diesen in eine undefinierte, außerzeitliche Länge gezogenen Augenblick zu genießen. Durch angenehm entspanntes philosophierendes Nachdenken über einen allgemeinen Gegenstand, eigentlich nicht bloß über einen allgemeinen Gegenstand, sondern über einen allgemeinen Gegenstand ganz besonderer Natur, der Frage nach dem Wesen des Menschen, hatte er sich also in einen glücklichen, selbstzufriedenen, eigentlich ätherischen Zustand versetzt, einen Zustand, der das Höchste war, was durch angenehm entspanntes philosophierendes Nachdenken möglich war; wollte man mehr, so musste man zu extremeren Mitteln greifen wie zum Beispiel zu Meditation oder Ähnlichem; einen Zustand intellektueller Satisfaktion. Geistig hellwach, doch ohne den Druck der enormen Konzentrationsleistung zu fühlen, dämmerte er mit geschlossenen Augen und lächelndem Mund vor sich hin, in seinem Zustand intellektueller Satisfaktion, das also war die Lage. Zudem war auch noch ein lauschiger Sommerabend, insgesamt passte alles. – Da jedoch geschah es, dass an der Bank nebenan zwei ZeitgenossInnen, genauer gesagt eine Zeitgenossin und ein Zeitgenosse, Platz nahmen und ein Gespräch begannen, mit dem sie seinen glücklich erreichten Zustand aufs Heftigste stören sollten. Zwischen den beiden entwickelte sich nämlich ein Dialog, dessen ausschließlicher Gegenstand die spirituelle Wirkung des Mondes auf das Menschengeschlecht war. Und diesen Dialog über die spirituelle Wirkung des Mondes auf das Menschengeschlecht führten die beiden nun mit großer Ernsthaftigkeit. Die Zeitgenossin war um die Fünfzig und ausgesprochen elegant, der Zeitgenosse ungefähr Mitte Dreißig, trug eine Sportkappe auf dem Denkerhaupt, eine Hornbrille, einen Dreitagesbart und war locker gekleidet. Wortführend in der Konversation war der Mann, der in seinen Ausführungen über den Mond und seine spirituelle, eigentlich überhaupt integrale Wirkung auf den Menschen eine ungeheure Selbstsicherheit und Unerschütterlichkeit an den Tag legte – es handelte sich um ein Gespräch über die spirituelle Wirkung des Mondes auf das Menschengeschlecht – und dabei die ganze Zeit über gegen die Welt gerichtet ironisch lächelte. Was die Frau betraf, so bekräftigte sie in der Regel seinen Vortrag und stellte dann und wann schüchtern einige Fragen, zuletzt die, wieso eigentlich so wenige Leute mit der spirituellen Wirkung des Mondes vertraut seien und über sie Bescheid wüssten, obwohl diese doch so offensichtlich sei und so klar zutage liegen würde. Auf diese Frage hin wusste der Zeitgenosse mit der Antwort zu triumphieren, wonach die Verantwortung dafür, dass sich die Menschen der spirituellen Kraft des Mondes auf das Menschengeschlecht nicht bewusst seien, ganz allgemein in dem Charakter des SYSTEMS liege, da das SYSTEM ein solches sei, das es sich nicht leisten könne, dass die Menschen über die spirituelle Kraft des Mondes Kenntnis erlangen und unterrichtet werden würden, und so, unter diesem Gesichtspunkt, würde es allen ja bereits in der Schule, von frühesten Kindesbeinen an eingetrichtert werden; bereits als Kinder in der Volksschule würden alle verbildet werden und an das SYSTEM angepasst und integriert und abgelenkt und verkrüppelt und ungefährlich gemacht werden, da es sich das SYSTEM nicht leisten könne, würden sich die Menschen der spirituellen Kraft des Mondes auf ihr Leben, auf ihre Gesellschaft, auf ihr Schicksal, auf eigentlich überhaupt alles bewusst werden, was Yorick dazu veranlasste, die Örtlichkeit schleunigst zu wechseln. Furchtbar zornig war er, mit so was in seinem Zustand der intellektuellen Satisfaktion, hervorgerufen durch entspanntes philosophisches Nachdenken über das Wesen des Menschen, gestört worden zu sein – zögen denn diese Leute den Zustand eines idiotischen, sabbernden, sich in die Hose scheißenden Kindes der Perfektion des nüchternen, analytischen Verstandes vor? Warum müssten sie es immer auf irgendwelche Externalitäten und Apparate, wie sie meinen, schieben; in ihrer Unfähigkeit, ihren Angriffspunkt zu spezifizieren, wie gleichzeitig ihrem Bestreben, ihre armselige Perspektive als möglichst umfassend und integral auszugeben, von ihnen „System“ genannt; wenn niemand oder kaum jemand – irgendwelche Trottel gebe es ja immer – ihre verschrobenen, unrealistischen und hirnverbrannten Gedankensysteme ernst nehmen sollte? Warum mussten da immer die Kinder dafür herhalten? Deren Idiotie ist ja nicht selbst verschuldet, sondern ihrer kindlichen Verfasstheit zuzurechnen – dachte er sich in etwa und fühlte sich dabei weit überlegen, und, wenn er sich ehrlich war, wiederum in einen Zustand intellektueller Satisfaktion, allerdings anderer Natur, versetzt. Etwas später, und nach ein paar Getränken, fand er sich aber wieder beruhigt eingedenk dessen, dass er sich durch das Erlebte unerwarteterweise wenigstens etwas über das Wesen des Menschen ins Bewusstsein gerufen fand, nämlich, dass unter der Oberfläche des Menschen, seines sozial angepassten Erscheinungsbildes, wie manche, eigentlich die meisten, sagen würden, durch das an sich er harmlos wirkt, in der Regel, und das mitunter in den unerwartetsten Fällen, eine noch größere Oberflächlichkeit in den individuellen Vorgängen zu herrschen pflegt. Daraufhin war er dann wieder zufrieden, eigentlich hoch befriedigt, denn er hatte eine Erkenntnis gehabt, eine durchaus philosophische, und ein gewisses Gefühl der intellektuellen Satisfaktion bemächtigte sich seiner erneut.

Man muss wissen, Yorick war nämlich Philosoph, und liebte die Philosophie und überhaupt alles Geistige, Kulturelle und Bildungsmäßige, und betrieb die Beschäftigung damit mit großer Ernsthaftigkeit und großem Enthusiasmus. Die Philosophie und überhaupt das Geistige, Kulturelle und Bildungsmäßige unterstützten nämlich Yoricks Sinn für das Rationale und Vernunftgemäße und schärften seinen nüchternen, seziermesserscharfen (wie er sagte bzw. dachte) Blick auf die Dinge sowie seinen Humor, den er so gerne einsetzte, um sich beliebt zu machen. Und diese Eigenschaften an ihm waren ihm äußerst wichtig. Yorick liebte nichts mehr, als mit einem Stapel von Büchern, die sehr komplizierte Titel trugen, von der Bibliothek ins Kaffeehaus zu gehen und sich dort, für jedermann (und jederfrau) gut sichtbar, niederzulassen. Während der ersten zwei, drei großen Getränke, die er trank, las er zumeist tatsächlich eines davon ganz durch, während der in der Folge konsumierten, wenn er zu solchen Leistungen nicht mehr imstande war, machte er sich so seine Gedanken, wie er seine Überlegungen zu diesen und jenen geistigen oder auch alltäglichen Gegenständen (denn das war für ihn dasselbe (weshalb er auch des Öfteren dazu tendierte, jeweils beides zu verfehlen)) publikumswirksam artikulieren könne (für den Fall, dass mal Publikum vorhanden wäre).

So einmal darüber, dass

es von allergrößter Wichtigkeit wäre, zu verstehen, dass der Begriff „Postmoderne“ nicht unmittelbar zur Typisierung realer gesellschaftlich-historischer Verfasstheiten diene, sondern vielmehr eines allgemeinen Bewusstseins über diese Verfasstheiten, welches, allgemein gesagt, dahingehend definiert werden könne, dass es ein Bewusstsein über das Ausbleiben eines „Sinns“ sei, also einer transzendentalen Bestimmung, auf welche hin sich dieses Bewusstsein reflektiere; der Trennstrich zwischen „modernem“ und „postmodernem“ Bewusstsein darin liegen würde, dass ersteres sich auf einen imaginären Fluchtpunkt einer Teleologie oder Entelechie seiner allgemeinen historischen bzw. transhistorischen Entwicklung hin bestimmend vorgestellt werden würde und zweiteres als einen solchen ostentativ verneinend; „modern“ also ein solches Bewusstsein wäre, das sich einem abstrakten Prinzip einer allgemeinen Vernünftigkeit (oder, im Falle des Marxismus, eines abstrakten Prinzips der historischen Entwicklung), deren Entfaltung mit der Aufklärung und Humanisierung der menschlichen Verhältnisse gleichbedeutend sei, verpflichtet fühle, und sich dahingehend historisch legitimiere und gleichzeitig unter einem gemeinsamen Vorzeichen vereinheitliche, wobei der Verlust des Vertrauens in jenes abstrakte Prinzip der Vernünftigkeit als einer Garantie für Aufklärung und Humanisierung gleichzeitig ebenfalls modern sei und sich im Lauf der Moderne in unterschiedlicher Weise immer wieder artikuliere, so ja zum Beispiel schon in der Romantik um die Wende zum 19. Jahrhundert, wobei der „moderne“ Vertrauensverlust jedoch derart sei, dass er sich auf eine transzendentale und im Allgemeinen humanitäre Sinnbestimmung hin reflektiere und den Verlust der Chance ihrer Verwirklichung innerhalb der modernen Lebensverhältnisse quasi „betrauere“; „postmodernes“ Bewusstsein hingegen derart sei, dass ihm keine „Trauerdiskurse“ entspringen würden, dem die Sehnsucht nach einer Vereinheitlichung seiner selbst unter einem abstrakten Sinnprinzip seiner selbst fremd sei, das den Verzicht auf ein solches abstraktes Sinnprinzip vielmehr fröhlich erkläre,

oder darüber, dass,

wenn man über Globalisierung nachdenke, sich eigentlich die gesamte Weltgeschichte als eine Geschichte der Globalisierung darstelle und präsentiere. Verlaufe denn die Geschichte nicht über die Herausbildung und Entwicklung kleinerer hin zu größeren, umfassenderen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Einheiten in der Auseinandersetzung mit den dieser Entwicklung entgegenstehenden oder gar durch diese Entwicklung provozierten Tendenzen? Ließe sich nicht auch unsere heutige Epoche am Besten als eine solche begreifen und fassbar machen, in der globalisierende auf regionalisierende, uniformierende auf fragmentierende, expansive auf kontraktive Dynamiken träfen und damit sozusagen das Kräftefeld der sogenannten Neuen Weltordnung abstecken würden? In der eine Extensivierung der kapitalistischen Wirtschaftsweise nach außen (also die fortlaufende Erfassung neuer Weltregionen durch die kapitalistische Wirtschaftsweise) sowie eine Intensivierung der kapitalistischen Wirtschaftsweise nach innen (also die sogenannte neoliberale Verbetriebswirtschaftlichung der von der kapitalistischen Wirtschaftsweise erfassten Weltregionen) nach dem Scheitern des Sozialismus und des Autarkie- und Selbstbestimmungsgedankens der Entwicklungsländer eine neue globale Grenze zwischen entwickelter und unterentwickelter Welt etabliere beziehungsweise definiere; in der eine kosmopolitische Orientierung und ein, natürlich zutiefst westliches, Konzept von der universalistischen Teleologie der Demokratie, der freien Marktwirtschaft, der Zivilgesellschaft, der Menschenrechte und des Liberalismus zunehmend auf neue Formen des Nationalismus treffen würden, sei es in den aufstrebenden und mit dem Westen wie auch untereinander potenziell kooperierenden als auch potenziell rivalisierenden Ländern Asiens oder unter der Bezeichnung „Islamismus“ in den Ländern des Nahen Ostens, oder eben auch in den Ländern des Westens selbst; in der die Grenzen zwischen einer auf der Ausweitung und gegenseitigen Verflechtung marktwirtschaftlicher Systeme, umfassender gesellschaftlicher und kultureller Intermediation nicht zuletzt auf Grundlage neuer Informations- und Kommunikationstechnologien und der Verbreitung eines demokratischen Ideals auf der Grundlage politisch regulierter oder wenigstens durch die Teilnahmemöglichkeit an der Wohlstandsentwicklung durch wirtschaftliches Wachstum hergestellter sozialer Kohäsion beruhenden „Globalisierung“, und einer sich über den illegalen Handel von Rohstoffen, Waffen, Drogen und Menschen in der Arena sogenannter failed states und Bürgerkriegsterritorien, über Flüchtlingsströme, regionaler politischer Destabilisierung und Terrorismus charakterisierenden „Schattenglobalisierung“, zunehmend porös werden würden; in der die Herausbildung jener Blöcke, die sich im Laufe der nächsten Jahrzehnte gegenüberstehen werden, außerordentlich unklar sei und immerhin die Amerikaner dazu motiviert habe, den Irak anzugreifen und zu neokolonialisieren, um ihre strategischen Positionen zu befestigen, mit katastrophalen Folgen; und wenn in zwanzig, oder vielleicht sogar schon in zehn Jahren in China wie in den USA gleichzeitig dieselben Geisteskranken in den Regierungen sitzen würden wie in den Vereinigten Staaten heute, was man leider als gar nicht so unwahrscheinlich betrachten könne, ergäben sich gewisse Chancen für einen Dritten Weltkrieg;

oder dergleichen mehr. In diesen Augenblicken schmiedete Yorick also seine Waffen. Fein, dachte er dann, jetzt habe er einen kleinen Text im Kopf, mit dem er geneigten Unbeschlagenen diesen oder jenen geistigen oder auch alltäglichen Gegenstand erklären und nahebringen könne. – Schade nur, dass dann in der Regel kein geneigter Unbeschlagener da war. Nach weiteren zwei, drei Getränken degenerierten seine Gedankenarchitektoniken zu diesen oder jenen geistigen oder auch alltäglichen Gegenständen dann naturgemäß zu sinnlosen, aber berauschenden Träumereien (der Art Yorick, der Gedankenarchitekt! oder Ähnlichem).

Die Ursache für Yoricks Geistigkeit konnte nie ausfindig gemacht werden, wahrscheinlich hing sie mit einer allgemeinen Reaktion auf die Demütigungen durch Altersgenossen in der Kindheit zusammen. Außerdem hatte er Zeit seines Lebens schlicht und einfach keine Ahnung vom konkreten Menschen und seiner Psychologie, also musste er versuchen, diese Dinge abstrakt zu beherrschen, wollte er überleben. Durch diese Anstrengungen waren sein geistiges Niveau und sein geistiger Anspruch jedoch beträchtlich, noch beträchtlicher war aber freilich der Drang, dieses geistige Niveau bei jeder sich bietenden Gelegenheit in überheblicher Weise zur Geltung zu bringen. Für Gesellschaften, die harmlosen Vergnügungen nachhingen (und für Yorick waren alle Gesellschaften solche, die harmlosen Vergnügungen nachhingen), barg das daher großen Sprengstoff und ein hohes Gefahrenpotenzial, sollte Yorick sich ihnen nähern und unweigerlich sich in sie hineindrängen, denn wie gesagt dienten ihm die Philosophie und überhaupt das Geistige, Kulturelle und Bildungsmäßige zur Unterstützung

 seines eminenten Sinnes für das Rationale und

 seines seziermesserscharfen Blicks auf die Dinge und auf seine Umgebung,

damit einhergehend

 seiner direkten Art, Sachverhalte auszusprechen,

 seiner etwas peinlichen Deutlichkeit, Dinge beim Namen zu nennen,

 seines Humors und

 seiner Ironie sowie seiner

 geistig-humorvollen Rücksichtslosigkeit gegenüber Gepflogenheiten und

Konventionen,

Eigenschaften also, die sich in ihm durch die Beschäftigung mit der Philosophie und dergleichen mehr zu einem einzigartigen Gesamtzusammenhang der Persönlichkeit bzw. zu dem einzigartigen Gesamtzusammenhang eines Yorick vereinigt fanden; einer Erscheinung, die gnadenlos war und unabwendbar wie das Schicksal selbst, die dort auftauchte, wo man es am wenigsten erwartete und dort angriff, wo man sich am Unverwundbarsten dünkte bzw. wo man es am wenigsten brauchen konnte: Das war das Auftreten eines Yorick und das Konfrontationserlebnis der Gesellschaften mit seinen Gedanken, die unvorhergesehen aus dem Nichts beziehungsweise aus dem Gesamtzusammenhang der Persönlichkeit eines Yorick hervorgestoßen wurden. (Yorick, das U-Boot, das Gedanken-Torpedos abfeuert!, dachte er bei sich, dabei den Kopf hebend, in die Ferne blickend, glücklich lächelnd, als er ein Sachbuch über den Ersten Weltkrieg zuklappte, aus dem er gerade ein Kapitel über den uneingeschränkten U-Boot Krieg Deutschlands ab 1917 gelesen hatte (und später, als er Die letzten Tage der Menschheit von Karl Kraus lesen sollte, in derselben Geste noch einmal.))

Originell verlief es, wenn Yorick auf eine Frau traf, zumindest, wenn diese Frau von ihm als sexuell attraktiv wahrgenommen wurde. Wenn Yorick eine Frau als sexuell attraktiv wahrnahm, eilte er sofort auf sie zu, fragte sie in einem Augenblick der Überrumpelung nach ihrem Namen (den er in der Regel einige Augenblicke später wieder vergaß), riss sie gleichzeitig am Arm, um ihr einen Handkuss aufzuzwängen, und das alles, um sie anschließend unter einer Lawine philosophischer Ausführungen zu begraben. Anschließend blieb er dann zumeist in fassungslosem Zustand zurück, dass die so Angesprochene für das, womit er sie ansprach, fast immer und in aller Regel nicht das geringste Interesse aufzubringen imstande war! Freilich ereignete sich dieses Anschließende ebenso fast immer und in aller Regel erst gut fünf Stunden später, da Yorick sich in seiner Betätigung durch nichts und niemanden unterbrechen ließ, und der Angesprochenen folgte, wo immer sie auch hinging, und vor allen Dingen aus absolut allem einen Gegenstand der Philosophie zu machen verstand, über den er dann laut nachdachte, selbst wenn es das Scheitern seines Versuches war, andere mit der Philosophie zu beeindrucken. Wie komisch Yorick war! Wenn ihm endlich klar wurde, dass er fehl am Platz war, entwickelte er meistens einen kindischen Wutanfall und zog sich dann beleidigt in den Gedanken zurück, dass er wenigstens die Philosophie habe und über sie verfüge, jene aber durchaus nicht, und dass das über kurz oder lang ihr Unglück sein würde, und zwar eines, das ihn, im Gegensatz zu jenen, niemals würde treffen können etc.pp.

Unbewusst bevorzugte Yorick es daher, in solchen Angelegenheiten zur Feder zu greifen und seine Gefühle, die er spontan für eine Jeweilige empfand, umfassend schriftlich auszudrücken und ihr diese schriftlichen Mitteilungen dann zukommen zu lassen. Im Medium der geschriebenen Sprache dünkte er sich schließlich daheim, und was ihm am besten gefiel, war, dass beim Verfassen solcher schriftlichen Botschaften niemand da sein würde, der ihn dabei stören würde, vor allen Dingen die nicht, um deren Gunst er eigentlich warb. Letzteres würde er eigentlich gar nicht wirklich gebrauchen können. Und so erhielten welche, die Yorick gerade erst kennengelernt hatte und die er daher kaum tatsächlich kannte, Briefe, die schwungvoll einsetzten mit:

So manch einem, welchem vor Gefühlstrunkenheit der Hirnkasten unter Wasser gesetzt ward, spülten die Fluten in seinem Kopfe die Gedanken ans Land, die Sonne, das größte Gestirn am Himmel, zu preisen, allein schon derenthalber, um in seinem bedenklichen Zustande irgendwie Halt noch zu finden! Die Sonne zu preisen also nicht allein als Schöpferin und Spenderin des Lebens sondern auch dafür, dass sie all diese ihre Herrlichkeiten auch bescheint und dem profanen Auge zugänglich macht! Ja, und so möge die Sonne ewiglich dafür gepriesen sein, dass sie eben auch jenen höchsten Berggipfel der Schöpfung in ihr Licht taucht und ihn den Augen aller Glückseligen, die da Augen haben, um zu sehen, eröffnet – den Berggipfel der Schöpfung namens Christine!-

oder

Madame! Wenn Sie diese Botschaft empfangen, dann wahrscheinlich bereits aus dem Reich der Toten! Hingestreckt von der Sehnsucht, Ihr Bild zu erblicken, wär´s mir, als ob dem Teufel ich meine Seele dafür feilgeboten hätte, dererlei Streiche spielt mein dürstendes Herz! Die Sehnsucht treibt mich, lenkt mich, führt mich – an die Klippe des Todes, wo ich nun stehe! Ich wünschte, zehn Arme zu haben, Sie auf diesen zu tragen in ein Reich mit dem Namen Paradies, von welchem mir Ihr Anblick und der stille Gedanke an Sie eine bereits jetzt so deutliche Vorstellung gegeben hat. Wie wäre es wohl, wenn sich das, was in mir für Sie brennt, vollständig sich erfüllt? Könnte ich da bestehen, frage ich mich ängstlich! Vor mir liegt nur mehr der Tod! Der Tod durch die schmerzliche Sehnsucht oder aber durch die überwältigende Freude, die in ihrer Erfüllung läge. Beides gilt gleich, beides – der Tod! Geben Sie einem beinahe Toten noch einen letzten Frieden und gewähren Sie ihm die Gunst eines letzten Grußes. Vielleicht wird Lazarus dadurch ja wundersam geheilt, und wir könnten gemeinsam auf einen Kaffee gehen? Nun denn-

und in ähnlicher Manier sich fortsetzten und sich über mehrere, ja, hin und wieder mehrere dutzend Seiten erstreckten. Das würde seine Chancen auf das Beträchtlichste erhöhen und da würde den Weibern ganz einfach die Spucke wegbleiben, dachte sich Yorick dabei immer, ohne dass es ihm jemals jemand ausreden konnte, ja, eigentlich auch gar niemand ausreden wollte, da sich für Yorick sowieso kaum jemand interessierte. Und Yorick selbst kam sowieso niemals auf den Gedanken, dass er irgendetwas überhaupt auch nur falsch machen würde können! Wobei er im eigentlichen Sinn ja auch gar nicht unrecht hatte, denn in jenem eigentlichen Sinn dienten ihm derartige Avancen in erster Linie, um sich selbst beim Reden und Zerfließen zuzuhören und erst sekundär oder tertiär, um damit reale, praktische Ergebnisse zu erzielen. Den Angeschriebenen blieb freilich meistens tatsächlich die Spucke weg und sie kamen aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Was er denn eigentlich mit diesem Unsinn vom baldigen Tod haben würde? Sie würden sich doch kaum kennen! meinte zum Beispiel eine. Yorick hatte die Entsprechende dann aber freilich schon wieder vergessen.

Doch auch Yorick erhielt jede Woche zahlreiche Zuschriften! – In denen jedoch stand immer wieder nur in etwa zu lesen:

Hallo! Mich rufen Tatiana! Ich lebe in der Siedlung Ruem, die sich in Russland befindet. Mir 24 Jahre. Du der interessante Mann! Ich war dem Mal hinter dem Mann und habe die Kinder nicht. Ich will den echten Mann sehr finden, mit dem ich die feste und glückliche Familie schaffen durfte. Ich das sehr romantische und lebenslustige Mädchen! Ich liebe sehr, zu reisen, sich mit der Gymnastik zu beschäftigen, vorzubereiten und zu sticken. Ich wende welchen alkoholischen Getranke an und rauche ich die Zigaretten nicht. Ich sehr warte auf ihre Antwort. Ich warte ihren Brief mit der Ungeduld!

oder

Hallo meine Bezeichnung – Julia. Ich lebe in Russland zu mir 26 Jahre. Wie der Mann Sie mir sehr interessant erschienen haben ware und ich mit ihnen froh wird kennenlernen! Ich – das junge attraktive und sehr schone Maedchen mit der reinen nahen und guten Seele. Ich bin selbststaendig, ich habe die gute Bildung und die Arbeit die ich befriedigen vollständig. Ihr Alter für mich ist, weil das Wesentliche für mich nicht die Schonheit des Korpers, und die Schonheit der Seele, das hei?t der inneren Welt gar nicht wichtig. Du kannst über dich grösser erzählen? Ich hoffe mich, die angenehme Bekanntschaft zu haben. Ich werde mit der Ungeduld von Ihnen des Briefes warten!

Yorick ging natürlich einmal so weit, auf eine solche Zuschrift hinauf mit der Betreffenden eine prätentiöse Diskussion über Gontscharow anzetteln zu wollen, damit hatte er es geschafft, dass selbst diese sich nicht mehr zurückmeldete.

Yorick hatte in seinem Leben eine einzige Freundin gehabt! Alexandra, die er am Flughafen kennengelernt und mit der er fünf Minuten gesprochen und in Erfahrung gebracht hatte, dass sie sich gerade zu einem zweiwöchigen Spanienurlaub aufmachen würde. Als sie heimkam, fand sie in ihrem Postkasten einen achtzehnseitigen Brief, wo drinnenstand

Alexandra fährt nach Spanien fort

Ich persönlich leider nicht

Schon wird mein Herz zu einem Ort

Welcher bedeckt von staubiger Schicht

Alexandra auf ihrer spanischen Reise

Durchzieht halb Europa mit ihrer göttlichen Spur

Welche natürlich und freilich mir wird zum Geleise

Auf welchem meine Seele sich begebe auf Tour

Mein Äußre´s bleibt leider in Österreich

Kann nämlich nicht tun, wie´s gerade ihm frommt

Man findet es sicher vom Gefühlstod gebleicht

Wenn Alexandra von Spanien zurück wieder kommt

...

Alexandra, dieser helle Stern

Ruht über Spanien und ist mir fern

Von dort sein Licht

Trifft leider mich nicht

Was vollkommen anderes hätt ich doch gern!

Und einiges mehr. Alexandra hatte ihm daraufhin gesagt, dass sie das zwar komisch finden würde und in Wirklichkeit noch nie so viel Aufmerksamkeit von einem Mann erhalten hätte, doch könne sie mit Yorick nichts anfangen, da sie unsterblich in einen Musiker verliebt sei, der eine modische Frisur hatte, verschuldet war und Lieder über Selbstmord sang, und zu dem sie, obwohl er sie mehr oder weniger ständig ignorieren würde und die ganze Sache hoffnungslos sei, eine ganz ungeheure und tiefe innere Verwandtschaft fühlen würde. Yorick hatte zu diesem Zeitpunkt jene Alexandra freilich schon wieder fast vergessen. Ein Jahr später jedoch geschah es, dass er Alexandra und ihre Schwester ein zweites Mal traf und ihr dabei sofort wieder eröffnete, wie unglaublich verliebt er in sie sei und dass er seit ihrer Begegnung am Flughafen ständig an sie denken würde und an keine andere, dass sie die Schönste sei, dass sie die Einzigartigste sei und ohne sich durch irgendetwas aufhalten zu lassen deklamierte er gleich wieder ein Gedicht, das er allein für sie geschrieben habe

Ihre Haare, in die Tiefe

Stürzen sie gewaltig und erhaben

Und dabei umgeben mit dem

Pathos eines Wasserfalles

Gleich dem Ausfluss einer Sonne

Und so stark wie dieser Lichtstrom

In diesem selben Maße gleicht es

Auch dem gold´nen Element

Fürwahr, dem Ausfluss einer Sonne

Welche angenehm mir leuchtet

Und mich glühend macht im Inn´ren

Gleicht ihr wunderbares Haar

Denn ihr Antlitz ist die Sonne

Die aus trüber Nacht befreit mich

Und die Wolken meiner Seele

Mit ihrem hellen Licht durchdringt

In den Höhlen dieser Sonne

Ruh´n die schönsten aller Monde

Und man merkt schon, hier ergibt sich

Ein Problem in meinem Gleichnis

Denn wer kann hier etwas and´res

Als zu nennen ihre Augen

Die allerschönsten aller Monde

Welche man jemals geseh´n

Und deren Bild auch uns´re Nächte

Mit ihrem sanften Schein erfüllen

Diese Nächte, die da werden

Wenn wir fern von Alex sind

Ja, allein schon durch so wenig

Wird man hier mit Alex glücklich

Doch auf tiefer Stufe ruht hier

Die Komplettheit meines Glücks

bis es der Schwester endlich gelang, Yorick zu bedeuten, dass er sie die ganze Zeit miteinander verwechseln würde und sie nicht Alexandra sei, sondern Elisabeth und noch dazu schwarze Haare habe und nicht blonde, so wie eben die, von der er die ganze Zeit reden und deklamieren würde und die genau daneben sitze! Alexandra allerdings fand Yorick irgendwie süß, und da der Musiker mittlerweile bei einem vorgeblichen Selbstmordversuch tatsächlich gestorben war, beschloss sie, mit ihm zusammenzukommen. Ihre Schwester hielt auf die Episode hinauf freilich Yorick für den allergrößten Trottel und ihre Schwester für den zweitallergrößten Trottel, da sie sich mit dem allergrößten Trottel auf was eingelassen hatte; könne sie denn eigentlich irgendetwas anderes als Idioten abzuschleppen? Yorick hingegen bemerkte von all dem nichts und dichtete unter dem Titel Für Alexandra noch albernere Sachen:

Tatsächlich blieb es mir versagt

Dich heute anzublicken

Doch sei´s mir deshalb nicht verargt

Dir Verse nun zu schicken

Der Zustand, in dem ich befindlich bin

Entlässt mir kein zustimmend´Nicken

Von Schmerz überzogen es mich nicht mal beginnt

Im Unterleibe zu zwicken

Wie nutzlos gilt mir nun dieser Tag!

Die Uhr hör´ich sinnlos nun ticken

Dein Antlitz ruht fern, was mich nicht vermag

In Zusammenhänge der Freude zu verstricken

Anstatt im Schatten deiner Brust zu ruhen

Und an dieser mich zu erquicken

Hab ich Armer nämlich nichts and´res zu tun

Als Verse zusammenzuflicken!

...

Selten hatt´ ich Grund zu klagen

Über den Mund in meinem Gesicht

Wahrlich, denn ich muss schon sagen,

Unpraktisch ist so ein Mund ja nicht!

Und so nähert sich dem prächtigen

Edlen Tor zu deinem Schlund

In einer ziemlich verdächtigen

Kussabsicht mein Mund

Einen Monat blieb Yorick mit Alexandra zusammen. Und Yorick entpuppte sich auf einmal als völlig unkomplizierter und seiner Freundin treu ergebener Mensch. Das wurde Alexandra zuviel, und so erinnerte sie sich daran, dass sie ja eigentlich schon seit Jahren hoffnungs- und erfolglos in jemanden verliebt war, der gar nichts von ihr wollte, von dem sie sich aber einbildete, er würde ihr seelischer Zwillingsbruder sein. So sagte sie zu Yorick, dass das zwischen ihnen niemals etwas werden würde und für alle Zeiten zum Scheitern verurteilt sei, wobei sie es aber freilich gerne haben würde, wenn sie beide gute Freunde bleiben könnten. (HÄHÄHÄ!! freute sich da die Schwester, aber nur für einen Moment, dann kam ihr zu Bewusstsein, dass das, was ihre Schwester damit tat, ja noch idiotischer oder zumindest nicht weniger idiotisch war, als das, über das sie sich vorher geärgert hatte.)

Elegie

Die Sonne

Trocknet meine Tränen nicht

Sie versengt sie nur

Und gräbt ihre Spuren in mein Gesicht

In denen eine originelle Person

wie in den Marskanälen –

Leben vermuten könnte

Da hätte sie recht!

Düst´re schwere Wesen wohnen dort

Die sich selbst verzweifelt auslachen

Ob ihrer düsteren Schwermut

Die da wird, weil sie nicht zur Ruhe kommen ob folgendem Gedanken:

Die Sonne ist ein Stern

Er spendet uns Licht und ist unerreichbar

Und Wärme spendet er uns keine

so Yoricks im Übrigen einzige Reaktion auf die Affäre. (Bis heute ist jene Alexandra übrigens, genauso wie im Weiteren auch ihre ähnlich temperierte Schwester, ein zutiefst unglücklicher Mensch geblieben.)

Da sich der momentane Stand der Erzählung gerade gut dafür eignet, kann auch noch jene Episode geschildert werden,

wie Yorick am ehesten von allen Fällen in die Nähe eines Verhältnisses kam,

aus dem dann aber doch keines wurde.

Strahlenden Mittelpunkt bildete dabei eine vierundzwanzigjährige Physiotherapeutin, die sich nicht allein als außergewöhnlich hübsch, sondern auch als sehr humorvoll beschrieben hatte, als ein Mensch also, der gerne lacht und über vieles lachen kann, woraufhin der komische Yorick sich gedacht hatte, dass das wohl genau der richtige Mensch für ihn sein müsse, und so sogleich geschrieben hatte:

Verehrtes unbekanntes, aber mit Sicherheit allerholdestes Wesen! Ich weiß zwar nicht, woran ich bin, verwette aber mein wichtigstes Organ darauf, dass es sich bei Ihnen um das zauberhafteste aller Geschöpfe, um den Mensch gewordenen Sinn des Lebens, um die allerschönste aller wunderschönen Blumen im Garten der Natur handelt! Mehr vermag ich leider im Moment nicht zu sagen, die Erregung umnebelt meine Sinne, welche da tanzen und singen um den stehenden Gedanken an Sie! Vielleicht hältst Du, Wesen!, es ja für möglich, Dich bei mir zu melden, was mir unter anderem auch deshalb wichtig wäre, um in Erfahrung zu bringen, ob ich nun mein wichtigstes Organ verwettet habe, oder nicht. Hochachtungsvoll jener, der allerhöchste Hochachtung gebührt, Y.

und tatsächlich bekam er einige Tage darauf unter der Adresse affenzahn@yogibär.cc eine Rückmeldung,,

Hi! Du brauchst dein „wichtigstes Organ(;-)) nicht zu verwetten, denn ich bin tatsächlich das allerbezauberndste und allerschönste aller Wesen! Ich antworte dir, weil ich deine Zuschrift witzig gefunden habe und selbst ein Mensch bin, mit dem man viel Spaß haben kann, und der gerne lacht. Ich habe eine Menge Humor Meine Hobbies sind fortgehen, neue (und witzige) Leute kennen lernen, Inlin eskaten, nichts tun, und dann und wann ein spannendes Buch zu lesen. Ich fahre morgen mit einer Freundin für ein paar Tage nach Amsterdam, freue mich schon riesig, vielleicht lässt du ja inzwischen was von dir hören. :- )) Ruth

was ihn natürlich unter den Gesichtpunkten allerschönstes Wesen, eine Menge Humor und vor allen Dingen liest gerne ein spannendes Buch letzteres ließ in seinem Gehirn gleichsam die Alarmglocken schrillen – sofort zu folgender Poesie inspirierte, die er ihr auch sogleich zukommen ließ:

Die unbekannte Ruth

Entfacht in mir die Glut

Mit einem Ziel von großer Klarheit

Sie drängt sich an die Wahrheit

Unbeherrscht, mit tollem Mut

Der Feuerstrom der Glut

Ein Ziel allein kennt, nämlich Ruth

Er verschafft sich letztlich Bahn

Durch das wichtigste Organ

Und dann ist alles gut

Unter der Adresse affenzahn@yogibär.cc sollte er, trotz einiger wiederholter Versuche, keine Zuschriften mehr empfangen. (Da Yorick der Umstand beschäftigte, dass seiner ersten Zuschrift, der mit dem wichtigsten Organ, immerhin ein gewisser Erfolg beschieden war, unternahm er in seinem Forschergeist aber etwas, und stellte seine eigene Anzeige mit seinem eigenen Profil in die Öffentlichkeit, veränderte dabei aber die Geschlechtsangabe, um zu sehen, was passieren würde, und wie sich die durchschnittliche männliche Artikulationsfähigkeit im Hinblick auf die Formulierung schriftlicher Avancen ausmachen würde – und er hatte die Anzeige keineswegs irgendwie anzüglich formuliert. Die Resultate waren zahlreich und insgesamt verheerend.)

Insofern jedoch bekanntlich jede Frau zwei Männer in ihrem Leben benötigt, einen heterosexuellen fürs Bett und einen homosexuellen für die Seele, hatte auch Yorick eine dauerhafte Freundin, und zwar Sabine, mit der er sich ausgezeichnet verstand. Da saß er zum Beispiel wieder einmal mit Sabine zusammen und unterhielt sich mit ihr über das, worüber sie sich die meiste Zeit über zu unterhalten pflegten, wenn sie zusammensaßen, nämlich über Sabines Beziehungsprobleme, hinsichtlich welcher sie über einen großen und in mannigfacher Art schimmernden Reichtum verfügte, der sich scheinbar ganz von selbst vermehrte. (Sabine hatte Yorick kennengelernt, als er ihr in seiner ihm eigenen Weise unmittelbar nachdem sie sich zum ersten Mal gesehen hatten und sie ihm ihren Namen mitgeteilt hatte, sofort den als galant gedachten Vorschlag unterbreitet hatte, sie anstatt Sabine doch viel lieber Adelaida Iwanowna rufen zu dürfen. Den Namen hatte er, da er es immer für hilfreich erachtete, gut vorbereitet zu sein, dem Personenverzeichnis aus Dostojewskis Idioten entnommen.) Sabine klagte in schöner Ausführlichkeit darüber, von jemandem, der sich als professioneller Lebensberater und Persönlichkeitscoach verkaufte, und der erwiesenermaßen auch tatsächlich einige Sportler, Gebrauchtwagenhändler und andere wenig imposante Persönlichkeiten hinsichtlich ihres Lebensvollzugs beriet und coachte, und der ganz allgemein Menschen Probleme einredete oder aber ihre vorhandenen Probleme überdramatisierte, um dadurch Macht über sie zu erlangen, versetzt worden zu sein, und sie war ungeheuer beleidigt! Der Lebensberater hatte ihr alles Mögliche eingeredet und suggeriert, um sich in seiner Rolle als Frauenversteher zu unterstreichen. Da er eine gewisse Ahnung davon hatte, wie die Dinge zu laufen pflegen (bzw. in Wirklichkeit gegenüber seinen Mitmenschen eben nicht anders konnte), und er außerdem, wie Sabine zu guter Letzt erkannt hatte, impotent war, hatte er es mit dem Trick Vereinnahmung über Distanz probiert, und mit Sabine vornehmlich schriftlich kommuniziert, wobei sich diese schriftlichen Mitteilungen vorwiegend aus raffinierten (wie Sabine dachte) Anzüglichkeiten zusammensetzten wie langsam und in stetiger Erregung schiebt sich die Lust hervor und verfestigt sich zitternd zu einem ehernen Monument ihrer selbst, denke ich an dich oder

Im blau-grünen Stich Deiner Augen

Wogt der Ozean phlegmatisch und unbewegt

Von den banalen Nöten der Sehnsucht

Die die Menschenseele in sich trägt

Und bei einem Blick in Deine Augen versinke ich

In des Meeres Tiefen, deren uns´rer Seele Unrast gleicht

Mag der Hinangezogene hoffen,

Dass auf dem Grunde er dich, Mädchen, erreicht

Vielleicht find´ ich Dich nie oder finde Dich doch

Und lasse gerade deshalb ein Leben

Im stürmischen Walten des Urelements

In das Deine Augen mir Einlass gegeben,

was einigermaßen peinlich war, da der Lebensberater bereits ein Mann von gesetztem Alter war, und kein Kind mehr wie Yorick. Wahnsinnig gut mit der Sprache könne er umgehen, der Lebensberater, meinte, davon ausführlich erzählend, Sabine. Unglaublich, wie der Lebensberater es verstehe, Menschen mit der Sprache zu manipulieren, klagte Sabine, ausführlich von den Untaten des Lebensberaters Bericht erstattend, an. Verheerend, auf was alles die immer reinfalle, schwieg Yorick, den Bericht entgegennehmend, dazu. (Zwei Papageien habe sie auf ihrem Pullover aufgestickt, das sehe er wohl, brachte Yorick im Anschluss daran, als sie sich kennengelernt hatten, vor, welche Namen die beiden denn wohl tragen würden?, fragte er sie scherzhaft, denn er war in Fahrt geraten. Vielleicht Anton Antonowitsch Skwosnik-Dmuchanowskij und Ammos Fjodorowitsch Ljapkin-Tjapkin? Ja, Anton Antonowitsch Skwosnik-Dmuchanowskij und Ammos Fjodorowitsch Ljapkin-Tjapkin, das würde sich vorzüglich eignen (jene beiden Namen hatte er, da er Wert darauf legte, auf solche Situationen vorbereitet zu sein, aus dem Personenverzeichnis von Gogols Revisor entnommen.) Sabine entgegnete damals, darüber noch nie wirklich nachgedacht zu haben.) Eine der hervorstechendsten Eigenschaften von Sabine war es, auf so gut wie alles reinzufallen, was ihr Aufmerksamkeit und Interesse entgegenbrachte, und darin vorrangig auf ältere Männer fixiert zu sein, die so auftraten, als würden sie über eine umfangreiche Lebenserfahrung verfügen, dies sogar auch taten und diese Lebenserfahrung verkörperten, andererseits diese Lebenserfahrung aber auch nutzten, unerfahrenere Menschen zu manipulieren. Mit jüngeren Männern könne sie nichts anfangen, sagte Sabine immer wieder in einer wegwerfenden Geste, die würden ihre komplizierte Persönlichkeit nicht zu ergänzen imstande sein. Jüngere Männer würden persönlichkeitstechnisch (sic!) noch in die Hose scheißen. Was sollte sie mit Männern, die sich in die Hose scheißen? (so Sabine). Yoricks Lebenserfahrung dagegen war vorwiegend theoretischer, das heißt insgesamt ungefährlicher Natur, und so schätzte ihn Sabine als harmlosen Gesprächspartner. (Und wie diese beiden markanten Brüste, die sich unter dem Pullover verbergen, wohl heißen würden, fragte er im Anschluss daran, kurz, nachdem er sie kennen gelernt hatte, Sabine, vielleicht Romana Romanowna und Ksenia Lalalaida (darauf hatte er sich nicht vorbereitet, sondern frei improvisiert) Oder Jossif Wissarionowitsch und Vladimer Iljitsch? Oder Rasputin Raskolnikow und Vladlem – Es sei schon gut, antwortete Adelaida Iwanowna darauf. (Oder Zarin Katharina I. und Zarin Katharina II.?, plapperte Yorick noch ein bisschen weiter.))

Und seine Gesprächspartnerin geriet in ihr Element, denn ihr Herz war voll bis oben. Sie schleuderte die Frage heraus, warum sie die Sache mit dem dummen und eitlen Lebensberater so mitnehme, es gebe ja gar keinen Grund dafür! Und Yorick antwortete: Weil sie eine Kränkung erlitten habe, und es ganz natürlich sei, dass sie sich ärgere bzw. eben gekränkt fühle (wobei er wusste, dass seine Freundin die Sache, die sie so mitnehme, in gut drei Tagen wieder mehr oder weniger vollständig vergessen haben würde). Sabine fragte: Wie man nur so lange in einer so dämlichen Beziehung leben könne! Und Yorick antwortete (sich etwas genüsslich zurücklehnend): Der Mensch habe ein Grauen vor der Einsamkeit (das hatte er von Balzac), und das treibe so manches Mal sonderbare Blüten. Sabine fragte: Warum allgemein zwei Menschen in einer Beziehung leben könnten, obwohl sie gar nicht zueinander passen, und sie sich darüber gegenseitig zermürben würden! Und Yorick antwortete (sich eine Zigarette anzündend): Es gebe viele destruktive Energien im Menschen, welche eben auch im Rahmen von Beziehungen zutage träten und zutage gefördert werden würden. Sabine fragte: Sie kenne da eine Beziehung, wo die beiden gar nicht zueinander passen würden, da sie ganz konträre Vorstellungen vom Idealbild ihrer eigentlichen Traumpartner hätten, und die sich gegenseitig nur annörgeln würden, übereinander öffentlich schimpfen, und immer wieder verkünden würden, sie hätten seit dem gestrigen Tag nun endgültig, definitiv, miteinander Schluss gemacht, was dann aber doch nie der Fall sei. Wie das gehe, was in aller Welt die beiden nach wie vor zusammenhalten würde! Und Yorick antwortete (zurückgelehnt an seiner Zigarette schmauchend): Die beiden hätten in dem jeweils anderen wohl ihr gegenseitiges Negativphantasma gefunden, an das sie sich nun klammern würden; obwohl sie sich hervorragend ergänzen könnten, würden sie es vorziehen, sich gegenseitig zu kritisieren, Beispiel für eine sogenannte Beziehungsfalle. Sabine fragte, denn sie war in einen dieser Zustände der Aufregung geraten, in denen man (beziehungsweise sie) überhaupt alles als fragwürdig empfand: Warum sie so viel Süßigkeiten esse, obwohl sie wisse, dass das nicht gut für sie sei, unglaublich sei das: Ihr Gehirn würde ihr sagen, keine Süßigkeiten zu essen, allein, sie könne trotzdem nicht davon lassen, ob das nicht völlig überirdisch sei! Und Yorick antwortete (in derselben Position wie eben, zusätzlich die Beine übereinandergeschlagen): Weil es ganz natürlich sei, dass der Geist möglicherweise willig, das Fleisch in den meisten Fällen aber schwach sei, und es überhaupt im Wesen eines Suchtverhaltens oder auch nur der Gewohnheit liege, dass die eingeübten körperlichen Bedürfnisse weit über die Klarsicht und Weitsicht des Intellekts triumphieren würden, so Yorick. Warum sie sich keinen Mann finde, der sie in den Arsch fickt und sie auspeitscht und der Rollenspiele mit ihr mache! Dabei lasse sie sich so gerne in den Arsch ficken und auspeitschen, am besten zuerst auspeitschen, und dann in den Arsch ficken, oder nein, am besten überhaupt sich gleichzeitig in den Arsch ficken und dabei auspeitschen lassen, das habe sie so gerne: Arschficken! Auspeitschen! Aber sie fände sich keinen Mann dafür sprudelte es aus Sabine heraus. Yorick (in derselben Position wie eben, allerdings mit der Fußspitze des übergeschlagenen Beines wippend) war nunmehr etwas peinlich berührt von diesem spontanen Vortrag. Da sehe man wieder, was für Schlappschwänze die Männer seien: Immer groß reden – Arschficken! Auspeitschen! –, dann aber würden sie, wenn es ernst werden würde, lieber saufen gehen!, meinte lautstark Sabine. Yorick sagte dazu nichts. Etwas später war es Yorick dann gelungen, zum eher aktiveren der beiden Gesprächspartner aufzusteigen, und so nutzte er den Zusammenhang, um sich über den Charakter der schriftlichen Mitteilungen des Lebensberaters zu mokieren. An dem aufgeblasenen und gleichzeitig völlig läppischen Stil des Lebensberaters sehe man, dass er von der fernöstlichen Weisheit, die er immer wieder versuche anklingen zu lassen, überhaupt keine Ahnung habe, so Yorick, und Sabine bekräftigte. Die Sprache der fernöstlichen Weisen sei nämlich, entgegen der herkömmlichen Meinung, alles andere als dunkel oder schwülstig, sondern hell, reduziert und vollkommen klar, so Yorick, daher sei der Lebensberater wohl kaum ein echter Weiser, und Sabine fiel ihm, mehrere Male wiederholend und exzessiv nickend, in die Rede, nein, der Lebensberater sei ganz sicherlich kein echter Weiser! Und außerdem bekomme er keinen hoch! (--hämisch).Während die Sprache der fernöstlichen Weisen hell, reduziert und vollkommen klar sei, so wie eben auch die Weisheit selbst hell, reduziert und vollkommen klar sei, sei die Sprache des Lebensberaters aufgeblasen und läppisch, da eben mit Sicherheit auch der Lebensberater als Ganzes nicht mehr als aufgeblasen und läppisch sei, so Yorick, und Sabine war vor lauter Freude bereits aufgesprungen. Schließlich äfften sie beide das Gefasel des Lebensberaters nach, und Sabine, die nunmehr ihre volle Souveränität gegenüber ihren Abhängigkeitsgefühlen bezüglich des Lebensberaters wiedererlangt hatte, zerkugelte sich (Yorick, der sich statuarisch sitzend und leicht lächelnd ebenfalls amüsierte, durchzog derweil in diesem Moment der ganz und gar abgeschmackte Gedankengang statuarisch sitzend und in Vornehmheit lächelnd freut sich der Weise, tieferes Empfinden verbirgt sich darin als hinter dem groben Gelächter der Bodenständigen, welches die Welt mit seinem Lärm erfüllt, der Weise hingegen etc). Oh Yorick, ich liebe dich, weil man mit dir so gut über alles reden kann, sagte, als sich alles so vorteilhaft entwickelt hatte, Sabine. Und Yorick lächelte. Da jedoch kam ein kleiner hässlicher Italiener vorbei und bedeutete Sabine isse dasse schöne Pullove mit so schöne Farbe und schöne Papageie, worauf Sabine ihn zunächst noch ignorierte und sich mit Yorick weiter unterhielt. Schöne Pullove füre schöne Fraue, bedeutete der (kleine und hässliche) Italiener weiter, Sabine murmelte Danke und blickte den Störenfried kurz an, um sich wieder Yorick zuzuwenden. In Italia wire habe schöne Pullove füre schöne Fraue, iche dir zeige, wenn du mit mir gehe in Italia, sagte der Italiener, Aha, sagte daraufhin Sabine und schenkte ihm einen etwas längeren Blick. Wie du heisse? Sabine? Aaah, schöne Name! Schöne Name füre schöne Fraue!, woraufhin Yorick sich entschuldigte und ging, der untergehenden Abendsonne entgegen, und das konkrete Thema der nächsten Konversation mit seiner Freundin bereits klar vor Augen habend.

Eine auffällige Figur aus Yoricks engerem Umkreis war auch der alte Schwede Lasse Benissen, der manchmal auch Bennister genannt wurde oder aber auch Bennäler oder Benni oder Bussi-Benussi oder Benner (von Seiten Yoricks) oder Benis (von Seiten seiner selbst). Lasse Benissen war noch dicker als Yorick (und eines seiner Lieblingsgesprächsthemen war im Übrigen sein Bauchumfang), und im Weiteren noch gutmütiger und leutseliger. Wie auch Yorick wollte er von allen geliebt werden, im Gegensatz zu Yorick hingegen war er in diesen Bemühungen aber erfolgreicher. Auch er hielt die Gesellschaft für ein großes Haus mit vielen Stockwerken und unzähligen offenen Türen, durch seine unkomplizierte Art, aufzutreten, standen ihm auch tatsächlich viele Türen offen, aber echt. Die Kommunikation zwischen den beiden war von einigermaßen zerstreuter Natur; vorrangiges Thema waren die Angehörigen des anderen Geschlechts, diesbezüglich wiederum vorrangig waren die Rekapitulationen des dicken Lasse Benissen hinsichtlich seiner neuesten und jüngsten Erfahrungen und Erlebnisse. Lasse Benissen war nämlich ein sogenannter Draufgänger, oder anders gesagt, war dauernd verliebt, und jedes Mal, wenn man ihn traf, in irgendjemand anders. So ein Zuckermauserl!, berichtete er dann immer, sei diejenige gewesen, die er am Vorabend getroffen habe (für einen Schweden beherrschte er die einheimische Idiomatik ziemlich gut), und erging sich anschließend in ausführliche Beschreibungen; da habe er sich wieder gefreut, der große Benissen! (sagte er immer). Und auch der kleine! (fügte er hinzu). Ungeheuer verliebt sei er schon wieder, der gute Yorick könne sich ja gar nicht vorstellen, wie verliebt er schon wieder sei, erging sich der dicke Lasse Benissen. Yorick fragte den dicken Lasse Benissen dann immer (die Antwort wurde von Yorick natürlich antizipiert), worauf sich die Gefühlslage des dicken Lasse Benissen denn begründen würde, denn die Liebe sei ja schließlich ein außerordentlich starkes Gefühl, und Lasse Benissen antwortete dann immer (oder meistens): Die Betreffende habe ihm, als er sie gesehen hat, einen Blick zukommen lassen! So ein süßer Rohrspatz! Der habe sich wieder festgesetzt an seiner Stange und sitze seitdem dort! Das, und so, war Lasse Benissen.

Der alte Schwede Lasse Benissen war in außergewöhnlichem Maße Sozialtalent, da er so dick, gutmütig und leutselig war. Es war erstaunlich, mit wie vielen Menschen Lasse Benissen bekannt war oder fortwährend Bekanntschaft schloss. Yoricks wissenschaftlichen Schätzungen zufolge kannte er gut 0,2 Prozent aller auf der Straße ihm entgegenkommenden Personen, weshalb es im Übrigen mühsam war, sich mit Lasse Benissen gemeinsam durch die Innenstadt zu bewegen, noch dazu, wenn man ein konkretes örtliches oder zeitliches Ziel vor Augen hatte, das zu erreichen man bestrebt war. Es entsprach nämlich Lasse Benissens Art, sämtliche ihm irgendwie bekannten Leute, welche unversehens seinen Weg kreuzen sollten, nicht allein, wie es unter normalen Menschen üblich war, bloß zu grüßen, sondern in ein gut fünfminütiges Gespräch zu verwickeln, welches sich um so Themen drehte wie ich gehe dort und dort hin, und wohin gehen Sie? oder wir kommen von dort und dort her und von wo kommen Sie? oder wir beide haben uns ja schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen! oder wir beide sehen uns ja schon wieder! oder wir sehen uns ja heute schon zum dritten Mal! um obligatorischerweise mit dem Vorschlag zu schließen, dass man unbedingt wieder einmal miteinander telefonieren müsse, um sich wieder einmal zu sehen, da es völlig klar sei und notwendig, dass man sich wieder einmal sehen müsse, daher man also auf jeden Fall Telefonnummern austauschen müsse (für den Fall, dass sie einander nicht gegenseitig vorlagen), um sich etwas auszumachen, um sich wieder einmal zu sehen, er, Lasse Benissen, freue sich schon ungemein darauf. (Es handelte sich also um einen sogenannten Smalltalk. Yorick dachte dabei, etwas dümmlich daneben stehend, immer an Heideggers Begriff vom Gerede.) So ging das vor sich, und es konnte gut sein, dass Lasse Benissen fünf Meter weiter wieder auf irgendeinen Bekannten traf, das heißt, das Ganze sich also wiederholte. Ging man durch die Innenstadt, allein, den Innenstadtlärm wahrnehmend, in seinen einzelnen Sensationen natürlich bestenfalls halbbewusst, da man in der Regel ja ein konkretes Ziel vor Augen hatte, welchem die eigene innere Konzentration galt, welche wiederum die Konzentration auf das Äußere für sich vereinnahmte und in sich hinein ablenkte, dahin also führend, dass man für die äußeren Sensationen eine allein halbartige Aufmerksamkeit aufzubieten hatte, so passierte es hin und wieder (eigentlich ziemlich oft), dass man angesichts zufällig im Vorbeilaufen aufgeschnappter akustischer Eindrücke der Art gestern auf dem Nachhauseweg um halb Vier Uhr früh habe sich noch etwas Bedeutsames ereignet und überhaupt müsse man unbedingt Telefonnummern austauschen, plötzlich darauf aufmerksam werden konnte, dass man in seiner Geistesgegenwart gerade an Lasse Benissen vorbeigegangen war, der wieder einmal jemand getroffen hatte. Als es Yorick zufällig einmal in die Glasscherbengegend draußen am Stadtrand verschlagen hatte, an einen jener seltsamen Übergangsorte und Schwellen zwischen Zentrum und Peripherie, an einen jener auratisch-nichtauratischen Steppenbereiche zwischen Barbarei und Zivilisation, an einen jener seltsamen Räume, dessen Atmosphäre durch den Zustand der ihr selbst eigenen, wie die Anglophonen sagen würden, suspended animation ausgefüllt und bestimmt war, oder, in so genannter postmodern-philosophischer Diktion gesprochen, an einen sogenannten Nicht-Ort, und sich in diesem Zusammenhang gerade an einem Gedächtniseindruck einer Szene aus einem uralten Donald-Duck-Comic, den ihm seine Mutter als Kind aus ihrem eigenen Besitz aus ihrer eigenen Kindheit zum Schmökern gegeben hatte, abarbeitete, nämlich wie die drei Brüder Tick, Trick und Track von ihrem Onkel Donald, der sie in dem konkreten Zusammenhang der Geschichte auszutricksen gedachte, als Botenjungen draußen auf den, wie es in der Geschichte hieß, Müllweg im Armenviertel am Rande von Entenhausen geschickt wurden, konkret zur Adresse Müllweg Nummer 238, wobei sie, am Müllweg angekommen, feststellen mussten, dass es am Müllweg aufgrund seiner geographischen und sozialen Exzentrizität gar keine Hausnummern mehr gab, fand er sich in seinen Abschweifungen jählings unterbrochen, indem er es plötzlich auf einmal wieder hören konnte, und, als er um die Ecke des stillgelegten Schlachthofes gebogen war, auch sehen: dass man unbedingt wieder einmal telefonieren müsse, um sich unbedingt wieder einmal zu sehen; und auch Lasse Benissen, der dort mit einem anderen gestanden war, wurde gleichzeitig seiner, das heißt Yoricks, ansichtig, was sofort natürlich eine ausführliche Begrüßung nach sich zog. Dämmrig war es bereits, und es war an der Zeit sich nach Hause zu begeben, da eine solche Gegend gegen Ende der Abenddämmerung nichts mehr zu bieten hatte, sogar gefährlich werden konnte, zumindest aber denjenigen gegenüber, die sich in ihr aufhielten, nichts als kalte Indifferenz aufzubringen imstande war, als Yorick den einsamen Feldweg entlangging, im November, weit draußen vor dem Stadtrand, in der Einöde, von der aus es nur mehr wenige, zwei, vielleicht drei Kilometer waren bis zum Hochmoor, und mit am Rücken verschränkten Armen, den Blick auf den Weg in eineinhalb Metern Entfernung vor sich gerichtet, ihn fixierend, schritt, aus Gründen des Zusammenhangs ein klassisches Gedicht im Kopf, welches einsetzt mit den Worten

Ich ging durch Einöde, durch sandig-dürre Heide

Und klagte der Natur die Schmerzen, die ich leide;

da fand er sich schon wieder jäh aus seiner melancholischen Selbstbetrachtung gerissen, indem er es plötzlich wieder hören konnte und, als er aufblickte, auch sehen: der Genuss des Würstchens gestern am Imbissstand habe noch so einige Blähungen nach sich gezogen, man sollte sich vielleicht wieder einmal treffen, um wieder einmal ausführlich miteinander plaudern zu können, am besten, man tausche gleich Telefonnummern aus. Lasse Benissen war auch da, gut fünfzehn Meter weiter vorn auf dem Feldweg in der Dämmerung im November, zwei, vielleicht drei Kilometer entfernt vom Hochmoor, und schon wieder einmal hatte er jemanden getroffen.

Lasse Benissen tat nicht viel, sondern lebte von jähen kreativen Explosionen von in der Regel recht sonderbarer Natur. Einmal zum Beispiel marschierte er, Schwarzafrikaner, die er kennengelernt hatte, an einer Leine nach sich ziehend zum Marktplatz, und positionierte sich dort mit seinen schwarzafrikanischen Freunden sowie einem selbst angefertigten Schild mit der Aufschrift Verkaufe Neger. Eine Zeitlang funktionierte das ganz gut, und die Erlöse aus den Verkäufen hatten sie sich geteilt, freilich gleich darauf auch wieder verzecht, bis, und das natürlich schon nach kurzer Zeit, die ganze Truppe wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses ins städtische Gefängnis geworfen wurde, und daher letztendlich immerhin eine Geschichte zu erzählen hatte. Ein anderes Mal organisierte er für eine Aufführung von Mozarts Requiem im städtischen Dom während der Weihnachtsfeiertage ein ganzes Orchester samt dazugehörigem Chor, die Ersten Städtischen Philharmoniker, das Orchester für jedermann, bei denen jeder, der zumindest ein Musikinstrument besaß, mitmachen konnte; auch Yorick beteiligte sich daran, denn er verfügte über eine Geige (mit einem schlecht bespannten Bogen). Als die Ersten Städtischen Philharmoniker mit ihrer Interpretation von Mozarts Requiem im städtischen Dom am Christtagabend loslegten, war aus den Mienen des Publikums sehr schnell jegliche Feierlichkeit und angespannte Erwartung gewichen, und nach gut fünf Minuten ergaben sich tumultartige Zustände, deren Dokumentation eines lautstark und sich selbst darin offenbar auch irgendwie gefallend Schimpfwörter rufenden Mozartpublikums am Christtag im städtischen Dom immerhin den Weg ins Fernsehen schaffte. Die Ersten Städtischen Philharmoniker hatten daraufhin für einige Zeit noch sogenannten Kultstatus, bis sich das Konzept freilich sehr schnell wieder erlahmt hatte und ausgereizt war. Gut Informierte wissen sich bis heute auch noch an das Stück Liedgut zu erinnern, das Lasse Benissen unter der Formation Benissen 3000 verfasst hatte. Das Stück Benissen, dessen Minimal-Soundkulisse, welche er sich von einem stadtbekannten Elektronikmusiker hatte anfertigen lassen, mit dem Text Der Benissen! Der Benissen/der Benissen/der Benissen/der Benissen/der Benissen!! in einem gleichsam dialektischen Zusammenhang stand, hatte in der so genannten Untergrundmusikszene Hitcharakter; die Nachfolgenummer Bäucher (mit dem Refrain Bäucher!! Huuh!!) verkaufte sich ebenfalls blendend, konnte an den Erfolg des Vorgängers aber nicht mehr anschließen.

Lasse Benissen war also ein nicht unbegnadeter Schauspieler seiner selbst. Daher tat er sich auch leicht beim anderen Geschlecht, das ihn, wie wir bereits gesehen haben, faszinierte. Seine diesbezüglichen Erfolge waren jedoch in erstaunlicher Regelmäßigkeit zwiespältiger Natur, da sie über einen Zeitraum von vierundzwanzig Stunden nur selten hinausgingen. Er fand sich nämlich ausschließlich Frauen, die genauso schauspielerten und ausprobierten wie er oder ganz allgemein an jugendlichem Leichtsinn und jugendlicher Orientierungslosigkeit litten. Dann verwendete er, rekapitulierend, um den Gefühlen, die ihn bewegten, Ausdruck zu verleihen, nicht mehr Worte wie So ein Zuckermauserl!, sondern: So eine Borderlinerin! (das war sein Lieblingsausdruck). Und daran anschließend sollten sie beide, wie dann eben immer, die Köpfe senken, Lasse Benissen und Yorick, um in die Welt hinein den Seufzer auszustoßen, der der Frage galt warum – sie könnten sich das ganz einfach nicht erklären – die ganzen Hohlköpfe, Sonderlinge und Idioten bei den Weibern so gut abräumen würden, im Gegensatz zu so tollen Kerlen wie ihnen, das sei wirklich ein riesiges Mysterium und übersteige ihr Verstandesvermögen. Bevor beide in ihrer Konversation wieder von neuem loslegten, trat an dieser Stelle dann also eine kurze melancholische Pause ein.

Die mögliche Annahme, Sabine/Adelaida Iwanowna und der alte Schwede Lasse Benissen wären die einzigen Menschen gewesen, die Yorick in irgendeiner Weise nahe standen, ist falsch. Da gab es im Weiteren nämlich auch noch Eisel und Peisel. Eisel und Peisel wurden von niemandem so, also Eisel und Peisel, genannt, außer von Seiten Yoricks, der in einer Biographie des Komponisten Arnold Schönberg gelesen hatte, dass der große Gustav Mahler den jungen Schönberg und irgendeinen Zweiten, der mit Schönberg immer gemeinsam unterwegs gewesen war (Yorick hatte vergessen, wer), mit dem dualen Spitznamen Eisel und Peisel belehnt hatte; ihre wirklichen Namen, die von Eisel und Peisel, waren Fritz und Fratz, der übrigen Welt waren sie unter den Spitznamen Clown und Pfosten bekannt. Wenn Eisel und Peisel in die Studierstube des Yorick auf Besuch kamen, gefiel sich der dicke und leutselige Yorick in seiner Rolle als Gastgeber sehr und servierte Kaffee und Kuchen oder auch anderes. Oftmals endeten diese Treffen Yoricks, Eisels und Peisels in einem gehörigen Streit, da jeder gerne seine eigene Meinung vertrat und zu behaupten suchte, aber das machte nichts, beim nächsten Treffen war alles wieder vergessen, nicht allein aus edler Gesinnung und Respekt gegenüber den anderen im freundschaftlichen Bunde, aus Gründen der Nachsicht und der Toleranz und was es da sonst noch so an Vorbildlichem gibt, sondern auch, weil sie schnell feststellten, dass sie für sich genommen verloren waren. Beruhigend zu wissen, dass die meisten Zusammenkünfte aber friedlich und in großem Einklang zwischen Yorick und Eisel und Peisel verliefen, da ein jeder zwar seine eigene Meinung hatte, und sie seinem Naturell gemäß ohne größere Rücksichtnahme auf Persönliches verbreitete und auf ihr beharrte, sich in seinem eigenen Vortrag und in dessen Lebhaftigkeit von den Vorträgen des anderen in aller Regel aber nicht weiter stören ließ.

Da war zunächst Eisel. Eisel war, nach eigenen Maßstäben gemessen, so etwas wie ein Universalkünstler und schäumte nur so über vor Ideen zu künstlerischen Projekten, von denen er gerne und mit großem Nachdruck berichtete. Er arbeite gerade an einem neuen künstlerischen Projekt, pflegte Eisel kurz nachdem er zur Tür von Yoricks Studierstube beziehungsweise eigentlich egal welcher reingekommen war, seine Garderobe abgelegt und Platz genommen hatte, oder manchmal auch schon vorher, zu berichten, und Fragen der Art, um was für ein künstlerisches Projekt es sich denn handeln würde, kam er in aller Regel durch seinen eigenen erläuternden Einsatz zuvor, sodass man selber im Umgang mit Eisel wenig Aufwand hatte.

Eisel erzählte zum Beispiel: Er arbeite gerade an einem neuen Projekt. Sein Plan sei es, ein Cellokonzert zu verfassen, so Eisel. Das Cellokonzert als künstlerische Ausdrucksform gilt der Versinnbildlichung des Konflikts zwischen dem Individuum, dargestellt durch das Solocello, und der Gesellschaft, dargestellt durch das Orchester, entgegnete Yorick dann wie aus der Pistole geschossen und lehnte sich in seinem Lehnstuhl reflexartig und mit einem plötzlich leuchtenden Ausdruck in seinen Augen nach vorne. Er habe davon gehört, entgegnete wiederum Eisel ruhig, was auch der Grund sei, wieso er anstrebe, ein Cellokonzert zu schreiben (ansonsten hatte er keine Ahnung von Musik). Beim nächsten Mal berichtete Eisel: Er verfolge gerade ein neues künstlerisches Projekt. Er plane die Verfassung eines Klavierkonzerts, so Eisel. Das Klavierkonzert ist ein Solokonzert, bei dem das Soloinstrument das Klavier ist, welches von einem Orchester begleitet wird, entgegnete Yorick wieder mit einer plötzlichen Bewegung nach vorn, denn auch er wollte dazu etwas zu sagen wissen. Ein anderes Mal erläuterte Eisel: Er verfolge ein neues Projekt. Er plane die Verfassung eines dramatischen Werkes in der Tradition Shakespeares mit dem Titel „Plinius der Jüngere“ (Eisel hatte, wie sich im weiteren Verlauf herausstellte, einen Film des japanischen Regisseurs Akira Kurosawa gesehen, der, wie man vielleicht weiß, sich gerne mit Shakespeare-Sujets auseinandersetzt). Dann wäre es erforderlich, zunächst einmal genau zu recherchieren, wer Plinius der Ältere gewesen sei, entgegnete Yorick mit einem diesmal etwas unsicheren Ausdruck in den Augen und nach einer kurzen Pause (er hatte es, wie er nach einiger Zeit zugeben musste, in diesem Moment nicht im Kopf, wer Plinius der Jüngere eigentlich war und welcher Art dessen historische Rolle gewesen sein soll, und wie es sich herausstellen sollte, wusste Eisel dergleichen im Wesentlichen auch nicht), der Flüssigkeit der darauf folgenden gegenseitigen Monologe Eisels und Yoricks über das Wesen des dramatischen Kunstwerks, und auch anderes, tat das erfreulicherweise jedoch keinen Abbruch.

Die weitere Reihenfolge von Eisels Projekten zu dieser Zeit (die, sagen wir einmal, eine Spanne von gut sechs Wochen umfasst) war: einen Dokumentarfilm zu drehen über den Alltag in Pensionistenheimen mit dem Titel „Wartezimmer zum Tod“/ eine Environment-Installation zu schaffen, die aus hundertundfünfzig aufgehäuften künstlichen Autoreifen aus Papiermaché bestehen würde / eine Operettenkomödie zu schreiben mit dem Titel „Der Brunzer und der Scheißer“/ ein Bild zu malen, wie sich Cezanne wohl einen Kuhfladen vorgestellt hätte / ein Haus zu konstruieren wie das unheimliche Haus ur des deutschen Künstlers Gregor Schneider / ein Ballet zu choreographieren nach dem Vorbild von Bernd Bienert / einen ungeheuren wilden Wurm in einen mit Formaldehyd gefüllten Behälter einzulegen, mit dem auf Damien Hirst und Richard Wagner gleichzeitig angespielt werden würde / eine große dokumentarische Darstellung über die einheimische Kulturszene zu konzipieren mit dem Titel „Der Hyänenkäfig“ / einen großen Roman zu schreiben / eine Performance zu machen, bei der eine Lastwagenladung Fleisch neben einer Demonstration von Veganern auf den Gehsteig gekippt werden würde / eine multimediale Installation zu konstruieren, die bei der nächsten Ars Electronica ausgestellt werden würde.

Dann wieder einmal erläuterte Eisel, er plane, ein wissenschaftliches Werk zu verfassen mit dem Titel Probleme und Perspektiven innerhalb der gegenwärtigen Weltordnung, woraufhin Yorick aber einwarf: Das habe bereits er gemacht! (es handelte sich um eine Seminararbeit an der Universität im zweiten Semester, die mit dem Vermerk Themenverfehlung – Nicht genügend versehen worden war), wobei Yorick im weiteren Verlauf aber einräumte, dass die Ergebnisse und Behauptungen, die in dieser Arbeit aufgestellt worden seien, bereits ein halbes Jahr nach ihrem Erscheinen durch den weiteren Gang der weltpolitischen Ereignisse und der Weltgeschichte zu einem großen Teil wieder überholt gewesen wären, und es Eisel daher an seiner Stelle von Neuem versuchen könne. Bei der darauf folgenden Zusammenkunft informierte Eisel dann aber ohnehin wieder alle, dass sein neues Projekt vorsehe, Kapitalismus und Kommunismus miteinander zu vereinigen (da es sich bei beiden schließlich um Projekte handeln würde, bei denen das Ökonomische im Vordergrund stehe und mit quasi-religiösen Heilsversprechen verknüpft sei, so dachte sich das zumindest Eisel). Yorick sah sich etwas irritiert, freute sich aber darüber, über die Gleichzeitigkeit des ökonomisch Ungleichzeitigen als Charakteristikum aller möglichen Epochen, wie es bereits in der berühmten „Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie“ von Marx in brillanter Weise ausgeführt werde, zu referieren, und nach nur zwei Stunden der Diskussion kam ihm in den Sinn, dass der Unterschied zwischen Kapitalismus und Kommunismus in der Frage nach der Stellung des Privateigentums bestünde, und dieser Unterschied einen unversöhnlichen und unüberbrückbaren Gegensatz markieren würde, das Projekt „Vereinigung Kapitalismus und Kommunismus“ daher zum Scheitern verurteilt sei (was im weiteren Verlauf bei Eisel und Yorick den Gedanken produzierte, dass ein derartiges Ergebnis eigentlich im Widerspruch zur marxistischen Dialektik stünde, nach der es keine unüberbrückbaren Gegensätze geben könne, und dass der Marxismus daher möglicherweise falsch sei).

In seinen Schilderungen über seine Projekte ging Eisel auf wie Germteig und ähnlich erging es, in seinen Repliken, Yorick. Man muss sich das etwa so vorstellen, aus der Totale betrachtet: In seiner Sitzgelegenheit wie Germteig ging auf Eisel, in seinem Lehnstuhl gegenüber wie Germteig auf ging Yorick; ein interessantes Projekt wäre es gewesen, diesen Prozess unter der Zuhilfenahme künstlicher Mittel filmisch festzuhalten, allein, auf eine solche Idee kamen weder Eisel noch Yorick, wobei es allerdings unwahrscheinlich gewesen wäre, dass Eisel und Yorick, hätten sie eine solche Idee gehabt, diese auch ausgeführt hätten. Zu der Ausführung seiner Ideen war vor allen Dingen Eisel immer viel zu sehr beschäftigt. Zum Verhältnis zwischen Eisel und Yorick ist zu sagen, dass sich Eisel und Yorick in ihrer gegenseitigen Anwesenheit außerordentlich schätzten, obwohl sie sich auf persönlicher Ebene eigentlich gar nicht besonders mochten und keine großen Stücke aufeinander hielten; freilich freuten sie sich aber über die Möglichkeit, die die Präsenz des jeweils anderen eröffnete, eine Rede über sich selbst zu führen. Vor allen Dingen Eisel redete ja immer gerne über seine Projekte; und Yorick gab dazu seine Kommentare ab. Eisel: Projekt – Yorick: Kommentar. Und beim nächsten Mal war alles wieder vergessen, da Eisel mit einem neuen Projekt daherkam. Zu all dem muss angemerkt werden, dass Eisel ein grundgütiger Mensch war und keiner Menschenseele jemals etwas zuleide tat (er war auch zu klein dazu).

Eisel und Yorick kannten sich noch von der gemeinsamen Schulzeit. Eisel wollte damals: sich ein Elektronenmikroskop kaufen / auf einer Bohrinsel arbeiten/ Diamantenschürfer werden / Relativitätstheorie und Quantenmechanik miteinander vereinigen / einen Lastwagen kaufen und sich selbstständig machen / Astronaut werden / einen Düsenantrieb konstruieren / Profi-Catcher werden/ Uhrmacher / Millionär / Milizionär / Söldner / Dirigent / Polizist / Entwicklungshelfer / Bombenentschärfer / Profiler / General / Anwalt / Kommunist / Schriftsteller / Regisseur / Krimi-Autor / Detektiv / Künstler / Eisenbahnfahrer / Journalist, Gitarrist und Christ, und einiges, was das Erinnerungsvermögen übersteigt, mehr, denn Eisel wollte ja beinahe jede Woche irgendwas anderes. (Yorick war etwas beharrlicher, seine Pläne konzentrierten sich allein darauf, Relativitätstheorie und Quantenmechanik miteinander zu vereinigen.) Eisel und Yorick kannten sich im Übrigen nicht von der Grundschulzeit, sondern von der Hochschule.

Wie anders als Eisel war da doch Peisel! Peisels Handlungen und Beiträge zur Geselligkeit beschränkten sich im Wesentlichen darauf, mit doppelt verschränkten Beinen und kreuzweise übereinander verschränkten Armen auf seinem Stuhl zu sitzen und Zigaretten zu rauchen (und dabei den Rauch in die Luft zu blasen). Im Sinne einer möglichst vollständigen Schilderung der Situation darf Peisels dabei eingenommene Kopfposition nicht vergessen erwähnt zu werden, nämlich von der Vertikale nach links abweichend und nach oben gerichtet, mit den Augen dabei zusätzlich nach rechts oben blickend, das heißt also an die Zimmerdecke, den Eindruck machend, diese zu studieren, und zwar eingehend. (Peisel! Was geht ab am Plafond? oder Peisel! An der Decke alles klar?, mit diesen scherzhaften Fragen beliebten Yorick und Eisel den Peisel in seinen mysteriösen Betrachtungen zu unterbrechen, in den kurzen Momenten, in denen sie sich von ihrer Beschäftigung mit sich selbst erholten, um neue Kraft zu schöpfen, woraufhin Peisel, sich mit solchem Nachdruck angesprochen und ins Zentrum gerückt sehend, meistens etwas murmelte oder brummte: Es gab zwei Optionen, wie seine Reaktionen sich gestalten konnten, entweder er murmelte etwas oder er brummte (weswegen Yorick und Eisel sich gerne den Spaß leisteten, Wetten darüber abzuschließen, welche der beiden Optionen sich bei der nächsten Reaktion des Peisel wohl realisieren würde: dass Peisel etwas murmelte oder brummte). Mysterium, sprich!, neckten Yorick und Eisel bei solchen Gelegenheiten dann den Peisel, der daraufhin entweder etwas murmelte oder brummte, oder aber angesichts der Konfrontation mit derartiger Dummheit und Niedrigkeit einen tiefen Zug von seiner Zigarette zu sich nahm, um ihn mit einem stillen, aber ebenso tiefen Seufzer wieder von sich zu geben (in Richtung Zimmerdecke, versteht sich)). Aufgrund seiner Körperhaltung machten sich der kunstsinnige Yorick sowie der kunstsinnige Eisel gerne das Vergnügen, dem Peisel einen Kunstband mit Bildern des britischen Malers Francis Bacon unter die Nase zu halten und eifrig darüber zu diskutieren, welches wohl die größte Ähnlichkeit mit dem Peisel hätte. Zu den Favoriten zählten die Studie für ein Porträt von Lucian Freud aus dem Jahr 1971, das Triptychon der Drei Studien von Lucian Freud aus dem Jahre 1969, die Porträts von George Dyer, sich im Spiegel betrachtend aus den Jahren 1967 und 1968 sowie die rechte männliche Figur aus Mann und Kind aus dem Jahr 1963. Schau her, Peisel, richte deinen Blick Richtung Buch!, forderten Yorick und Eisel dann immer den Peisel auf, versuchend, ihn in die Debatte mit einzubeziehen, welches Kunstwerk des Francis Bacon wohl am ehesten, wenngleich unfreiwillig, den Peisel wiederzugeben imstande gewesen wäre. Tatsächlich konnte es geschehen, dass Peisel den ihm unter die Nase gehaltenen Francis-Bacon-Porträts einen kurzen Blick schenkte, um ihn anschließend wieder Richtung Zimmerdecke zu wenden und einen tiefen Zug von seiner Zigarette zu nehmen (und den Rauch in die Luft zu blasen).

Peisel war Wissenschafter. Daher erschien es ihm womöglich als zu unseriös, sich mit anderen Leuten zu unterhalten. Hin und wieder erregte etwas seine Aufmerksamkeit, dann richtete er seinen Blick weg von der Decke und fixierte Eisel und Yorick. Das bedeutete natürlich noch nicht, dass er etwas sagte, aber in einigen Fällen konnte genau das vorkommen. Meistens handelte es sich um einen unartikuliert ausgesprochenen, irgendwie abschätzig wirkenden Kommentar zu den Hervorbringungen Eisels und Yoricks. Wenn Eisel und Yorick über etwas lachten, verdrehte Peisel meistens die Augen und bedeutete über sein Gebahren ganz allgemein, als wie unglaublich primitiv das Niveau der Leute um ihn herum seines Erachtens nicht einzuschätzen wäre. Hin und wieder konnte es natürlich auch vorkommen, dass Peisel von den Späßen Eisels und Yoricks tatsächlich positiv überwältigt war. Dann verzog er seinen Mund zu einem leichten Lächeln. Er bemühte sich dabei aber, den Mund nicht zu stark zu verziehen, was bei Yorick und Eisel dann immer mal wieder den Impuls auslöste, sich unter Gelächter an der Visage des Peisel zu schaffen zu machen, um ihr durch tatkräftige Verformung ein freundlicheres Aussehen zu verleihen, was natürlich dauerhaft nicht gelang, denn die Kontrolle über seine Mimik lag bei Peisel, und dessen Pläne waren, wie man sich denken kann, anderer Natur. Deshalb probierten es Yorick und Eisel hin und wieder mit Wäscheklammern, einen freundlichen Ausdruck in der Visage des Peisel zu fixieren, oder aber mit Klebestreifen, mit denen sie immerhin ein temporär befriedigendes Resultat erzielten. (Und einmal ging Yorick so weit, zu diesem Behuf beinahe einen Superkleber einzusetzen, er konnte aber noch rechtzeitig zurückgehalten werden.) Peisel ließ sich davon nicht beeindrucken. Hin und wieder führte das schelmische Treiben Eisels und Yoricks zu dem Ergebnis, dass Peisel mit dem Ausstoß des inhalierten Zigarettenrauchs gleichsam einen seiner für ihn charakteristischen tiefen, stillen Seufzer fahren ließ, dann hatten sie beinahe schon gewonnen. Bei einer Gelegenheit leerten sie dem mit seinen doppelt verschränkten Beinen und seinen verschränkten Armen Richtung Zimmerdecke blickenden rauchenden Peisel ein Glas Bier über den Kopf, was Peisel, seine Position beibehaltend, einen Zug von seiner Zigarette nehmend (und den Rauch in die Luft blasend), immerhin mit einem gemurmelten ist mir wurscht quittierte.

Peisel war, wie gesagt, Wissenschafter. Wie wissenschaftlich er tatsächlich war, konnte allerdings niemand sagen, denn er hatte noch nie ein wissenschaftliches Werk veröffentlicht, und auch noch nie einen wissenschaftlichen Vortrag gehalten, ja, eigentlich noch nie auch nur einmal etwas Wissenschaftliches gesagt. Hin und wieder mischte er sich in die wissenschaftlichen Vorträge Yoricks oder Eisels ein, und dabei blickte er ihnen sogar in die Augen, und zwar meistens mit den Worten, woher sie denn das wüssten; woher sie glaubten, dass sie das wüssten, oder ob sie glauben würden, dass das tatsächlich stimme. Das war alles. Hinsichtlich seiner Kompetenz war es Peisel also beschieden, nach einer gewissen Zeit einen etwas zwiespältigen Eindruck zu hinterlassen. Das Geheimnisvolle und Mysteriöse an Peisel war jedoch, dass er laut eigenen Angaben, welche niemand wagte anzuzweifeln, an einem ganz großen wissenschaftlichen Werk arbeiten würde. Das war seine Hauptbeschäftigung. Er arbeite an seiner Arbeit, sagte er, und sei von dem Arbeiten an seiner Arbeit ganz und gar in Anspruch genommen, denn bei dieser Arbeit würde es sich nicht um irgendeine Arbeit handeln, sondern um ein ganz großes, ein umwälzendes, alles in seinen Grundfesten erschütterndes, revolutionäres Werk, weshalb er eben auch darüber noch nicht sprechen könne, und tatsächlich war über den Gegenstand des ganz großen wissenschaftlichen Werks nichts bekannt, denn Peisel gelang es, sein Inkognito zu wahren. Alles was man wusste war, dass es sich um eine komplette Umwälzung und Neudeutung der Weltgeschichte handeln würde. Das musste freilich eine Sache von höchst aufwendiger Natur sein, und so hatten alle großen Respekt vor Peisel. (Die Geschicke des Zufalls wollten es einmal, unbeabsichtigterweise einen Einblick in die Intention der geheimnisumwitterten Arbeit des Peisel zu verschaffen, und legten frei, dass Peisel mit ihr den Zweck verfolgte, den Beweis zu erbringen, dass Alexander der Große, Karl der Große, Julius Cäsar und Jesus Christus ein und dieselbe historische Person gewesen sind. (Was Yorick und Eisel einen Anhaltspunkt lieferte, warum, wie sie sich erinnern konnten, Peisel an jenem denkwürdigen Tag, an dem der Name Plinius des Jüngeren fiel, indem er plötzlich aufstand, nervös im Zimmer herumzulaufen begann und schließlich (ohne sich zu verabschieden, versteht sich) die Örtlichkeit verließ, so seltsam und gar nicht seiner Art gemäß reagierte.))

Und dann gab es noch jemand anderen, dem Yorick regelmäßig seine Aufwartung machte: einen anderen Philosophen, genannt der Andere Philosoph. Der Andere Philosoph war etwas älter als Yorick, und gesetzter. Yorick hatte eine große Hochachtung vor ihm, was somit für den Anderen Philosophen hinsichtlich der damit verbundenen Qualitäten ein so genanntes zweischneidiges Schwert darstellte. Wie intelligent und gebildet der Andere Philosoph war! Der Andere Philosoph wusste, so hatte man den Eindruck, scheinbar immer alles und hatte für alles eine bestechende und klare Erklärung sowie auf jede Frage eine umfassende und überzeugende Antwort. Der Andere Philosoph war ein großer Philosoph! Der Andere Philosoph war Magister und Doktor der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften sowie Master of Advanced International Studies sowie Major in Conflict and Development, und arbeitete zurzeit gerade an der Erlangung seines fünften akademischen Grades. Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich als Tankwart. Die Kunden an der Tankstelle hatten ja keine Ahnung und wussten nichts davon, dass derjenige, der ihnen die Windschutzscheibe reinigte oder ihnen den Reifendruck kontrollierte, der Andere Philosoph war.

Was das Verhältnis zwischen Yorick und dem Anderen Philosophen anbelangt, so war dieses nun von etwas asymmetrischer Natur. Immer sollte es Yorick sein, der den Anderen Philosophen in seiner Studierstube aufsuchte, beziehungsweise war es selten umgekehrt. Dann flog die Tür zur Studierstube des Anderen Philosophen brüsk auf, und der eintretende Yorick wünschte dem Anderen Philosophen einen philosophischen Guten Tag!, woraufhin der in diesem Augenblick immer unmerklich zusammenzuckende Andere Philosoph, an seinem Sekretär sitzend, philosophische Texte vor sich liegen habend, sich in seiner Sitzgelegenheit nicht auffällig langsam, aber auch ohne auffällige Eile umwandte und mit nüchternem Blick und in die Schiefe gezogenem Mund entgegnete: Einen „philosophischen Guten Tag“ auch dir, mein lieber Yorick! Und dann begann die Konversation, das heißt, Yorick begann damit, das heißt, Yorick konfrontierte den Anderen Philosophen mit seinen jüngsten und neuesten philosophischen Erkenntnissen und Erregungen, das heißt, Yorick erhitzte und vertiefte sich gleichermaßen und emittierte wie ein Kühlturm eines sowjetischen Atomkraftwerks, so konnte man sich das in etwa vorstellen, das heißt, Yorick war auf der Sprachebene von der Philosophie besetzt und auf der Gedankenebene von Denken Sie an die Möglichkeit eines Yorick! Unterschätzen Sie nicht die Möglichkeit des Auftretens eines Yorick etc., so hatte man in etwa den Eindruck. Der Andere Philosoph hörte immer geduldig zu (was in seinem eigenen Kopf vorging, blieb unbekannt, wahrscheinlich artverwandte Gedanken zu Rechnen sie in ihrer täglichen Existenz mit der Möglichkeit eines Yorick! Unterschätzen sie nicht die Möglichkeit des Auftretens eines Yorick!) und gab dann einen Kommentar dazu ab, der zwar gehaltvoll, in der Regel aber immer von ziemlich einfacher Art war, also vom Stil her wie auch vom Inhalt gar nicht so wirklich zu Yoricks Hervorbringungen zu passen schien. Was für ein Kontrast! Yorick sagte so viel, und der Andere Philosoph sagte dann immer so wenig! Darauf dachte sich Yorick, dass der Andere Philosoph die Komplexität seiner Argumentation offenbar nicht ganz verstanden habe, und wunderte sich insgeheim über diesen für ihn wenig erklärlichen Umstand, da der Andere Philosoph schließlich erwiesenermaßen ein großer Philosoph war. Vielleicht müsse er die ganze Sache aber tatsächlich noch einmal überdenken, sagte sich bisweilen Yorick, denn er hatte eine große Hochachtung vor dem Anderen Philosophen, woraufhin einige Tage darauf ein weiteres Mal die Tür zur Studierstube des Anderen Philosophen brüsk aufschlug und der hineinstampfende Yorick dem Anderen Philosophen einen philosophischen Guten Tag ausrichtete. (Es kam nur zwei Mal vor, dass der Andere Philosoph die Studierstube des Yorick aufsuchte. Das eine Mal, als der Andere Philosoph an einem Sonntag um 11 Uhr 30 Vormittag plötzlich sturzbetrunken in der Studierstube des Yorick gestanden war (den Schlüssel dafür hatte Yorick ihm Jahre zuvor einmal gegeben, für alle Fälle) und behauptet hatte, das hier wäre seine Studierstube (wenngleich er in einem ganz anderen Stadtviertel ansässig war); das zweite Mal, als der Andere Philosoph einmal bei Yorick anläutete (den Schlüssel zu seiner Studierstube hatte Yorick ihm zuvor wieder weggenommen) und Yorick fragte, ob er sich schnell drei Zigaretten von ihm leihen könne.)

Meistens kam Yorick aber über kurz oder lang mit dem Anderen Philosophen ins philosophische Einvernehmen, da die Kommentare des Anderen Philosophen ihren Wert hatten, und Yorick erkannte das, denn er war intelligent. Daraufhin bedeutete Yorick dem anderen Philosophen dann immer in enthusiastischer Bewunderung, wie sehr er den praktischen Verstand, den Alltagsverstand des Anderen Philosophen schätze; was wäre er, Yorick, nur ohne den klaren, einfachen Verstand des Anderen Philosophen, ohne den Alltagsverstand des Anderen Philosophen wäre Yorick wohl nur ein halber Yorick oder ein Dreiviertel oder ein Siebenachtel auf jeden Fall aber nicht der ganze, vollständige Yorick, so überschüttete er den Anderen Philosophen dann immer, der die Komplimentlawine stets mit einem etwas gequält wirkenden Lächeln entgegen nahm (denn er war ein großer Philosoph). Und wie interessant diese Konversationen doch nicht auch für den Anderen Philosophen sein müssten, dachte sich Yorick, ständig bekomme der Andere Philosoph von ihm, Yorick, philosophische Anregungen von sicher alles andere als geringem Wert, die der Andere Philosoph in seiner Arbeit sicherlich aufgreifen und verwenden würde (dachte sich Yorick (und vielleicht war es ja auch so)). Und mit dieser Überzeugung gerüstet, trat er wieder und wieder ein in die Studierstube des Anderen Philosophen, ihm einen philosophischen Guten Tag wünschend, und fand sich vom Anderen Philosophen in der immer gleichen jovialen Manier aufgenommen (außer einmal, als der bei dieser Gelegenheit Verflucht! rufende Andere Philosoph bei Yoricks Eintreten in seine Studierstube schnell aufsprang und sich ebenso schnell den Hosenschlitz zuzumachen bemüht war.) Solcherart war also das Verhältnis zwischen Yorick und dem Anderen Philosophen.

Einmal in der Woche machten sich Yorick und der Andere Philosoph gemeinsam auf den Weg, denn sie waren eingeschriebene Mitglieder des Philosophenzirkels, welcher sich allwöchentlich traf, und zwar im Gasthaus Zur lustigen Kuh. Der Philosophenzirkel war der Meinung, dass die Welt deswegen so schlecht sei, weil die gewöhnlichen Menschen nichts von der Philosophie verstehen würden, da sie bereits als Kinder in der Schule durch das SYSTEM geistig und seelisch verkrüppelt werden würden, damit sie aufhören würden, für das SYSTEM eine Gefahr darzustellen (da es sich das SYSTEM nicht leisten könne, würden sich die gewöhnlichen Menschen der Philosophie bewusst werden). Und das meinte der Philosophenzirkel durchaus ernst! Der Philosophenzirkel meinte, dass das SYSTEM gesprengt werden würde, wenn sich die Leute für Philosophie interessieren würden, und dass daher das SYSTEM die Leute ständig manipulieren müsse, um sie von der ernsthaften Beschäftigung mit der Philosophie abzuhalten, die ansonsten unausweichlich sei. Während es den Mitgliedern des Philosophenzirkels überhaupt keine Schwierigkeiten bereitete zu erkennen, wie sich andere ideologische Gruppierungen ständig in die Ausrede und die Automanipulation flüchten, dass die Welt deswegen nicht so sei, wie sie ihrer jeweiligen Meinung nach sein solle, weil das SYSTEM die Leute ständig und bereits von frühesten Kindesbeinen an in der Schule manipulieren würde, erkannten sie dasselbe Muster bei sich selbst natürlich niemals. Für alles, was der Philosophenzirkel schlecht fand, verwendete er meistens die Begriffe Qulismus, amnihythetisch und babig. Für alles, was der Philosophenzirkel gut fand, verwendete er meistens die Begriffe Dodekaismus, orthothehytisch und globig. Die Philosophen des Philosophenzirkels philosophierten meistens darüber, dass das SYSTEM zu den Männern so infam sei, natürlich aber auch zu den Frauen, die Philosophinnen philosophierten meistens darüber, dass das SYSTEM zu den Frauen so infam sei, natürlich aber auch zu den Männern. Beide Fraktionen hatten stets keine konkrete Vorstellung und kein konkretes Verständnis, was die andere eigentlich meinte, wobei die Philosophen allerdings deutlich weniger Vorstellung und Verständnis von der Philosophie der Philosophinnen hatten und von ihrer Kapazität her aufzubringen waren, als es umgekehrt bei den Philosophinnen der Fall war. Daher ergaben sich innerhalb des Philosophenzirkels des Öfteren bedeutende Auseinandersetzungen. Sobald es jedoch jemandem gelungen war, eine besonders gute Rede gegen das SYSTEM zu führen, waren alle tief ergriffen und der Meinung, im Rahmen des entsprechenden Treffens bedeutende Fortschritte erzielt zu haben.

Der Philosophenzirkel verstand sich also als ein Verein, dessen Zweck die systematische philosophische Kritik am SYSTEM sei, sein diesbezüglich umfassend erklärendes Programm freilich umfasste achtzehn (eng bedruckte) Seiten, und ebenso freilich gab es fast nur eine einzige Sache auf der Welt, die der Philosophenzirkel noch irritierender zu finden pflegte als das SYSTEM, und zwar, wenn eine bestimmte systematische Kritik am SYSTEM anders ausfiel als die, auf die sich der Philosophenzirkel geeinigt hatte. Am Irritierendsten fand er es, wenn eine bestimmte systematische Kritik am SYSTEM im Großen und Ganzen nur geringfügig, aber eben doch anders ausfiel als die eigene. Dann widmete der Philosophenzirkel immer ganze zusammenhängende Treffen, um die andere systematische Kritik am SYSTEM als paraamnihythetisch und kryptobabig zu entlarven. Und so bestand der Philosophenzirkel aus insgesamt genau sieben Personen, und zwar aus Yorick, dem Anderen Philosophen, dem Geschmeidigen Philosophen, den Philosophinnen Linda, Olga und Pampa sowie zu guter Letzt der sogenannten Stimme der Vernunft. Die Stimme der Vernunft wurde so genannt, weil sie als einziges Mitglied des Philosophenzirkels an Hume geschult war (alle anderen hatten Hume nie gelesen) und ihr philosophisches Hauptaugenmerk auf die vorurteilsfreie, vernunftgemäße Erfassung der Dinge, so wie sie eben zu sein schienen, legte, sowie auf einen nüchternen, stringenten und möglichst komplexitätsreduzierten sprachlichen Ausdruck in der Mitteilung ihrer philosophischen Ideen. Die Stimme der Vernunft war immer dasjenige Mitglied des Philosophenzirkels, das am besten von allen vorbereitet war und das seine philosophischen Ausführungen immer schön säuberlich vom Blatt ablas, auf das es in sauberer, nein, säuberlichster Handschrift immer alles notiert hatte. Die anderen Mitglieder des Philosophenzirkels konnten damit selten etwas anfangen, da ihnen das alles ganz einfach zu unspektakulär war, und zum allgemeinen Bedauern gar nicht auf eine geheimnisvolle Wirklichkeit hinter einer als vordergründig gedachten Wirklichkeit hinzuweisen schien (daher wurde der Stimme der Vernunft gerne vorgeworfen, dass sie SYSTEMimmanent und nicht SYSTEMtranszendent denke und sich scheue, einen philosophischen Blick über den Tellerrand zu werfen (was die Stimme der Vernunft dann auch immer wieder zu der Replik veranlasste, dass der Rest des Philosophenzirkels sich genauso davor scheuen würde, vor lauter SYSTEMtranszendenter Betrachtung über den Tellerrand hinaus seinerseits auch einmal einen philosophischen Blick innerhalb des Tellerrandes zu werfen)). So wurde die Stimme der Vernunft die Stimme der Vernunft genannt, weil sie sich immer ordentlich an dem orientierte, was die Vernunft einzugeben schien und dies ganz ordentlich und vernunftgemäß zum Ausdruck brachte – um anschließend vom Rest des Philosophenzirkels ignoriert und so links liegen gelassen zu werden, als hätte die Stimme der Vernunft gar nichts gesagt! Der ganze Philosophenzirkel war sich dieses Umstandes sogar vollauf bewusst und hin und wieder wurde über diese Tatsache sogar gewitzelt, was aber gar nicht zur Folge hatte, dass sich an diesem Umstand je irgendetwas änderte. Hin und wieder wurde sogar gewitzelt, dass man die Stimme der Vernunft am besten ganz allein an den Tisch ganz am anderen Ende der lustigen Kuh setzen solle oder dass man sie am besten in einen Koffer stecken und nach China schicken solle, damit sie die Argumentation des Philosophenzirkels nicht ständig durcheinanderbringe. Schon aber fuhr dann der Philosophenzirkel mit seiner eigentlichen Aufgabe fort, das SYSTEM philosophisch-kritisch zu kritisieren. Einmal brachte die Stimme der Vernunft vor, dass es den Frauen innerhalb unseres SYSTEMS in Wirklichkeit doch gar nicht so schlecht gehen würde, wie die Frauen des Philosophenzirkels immer täten. Daraufhin legte sich über die Philosophinnen des Philosophenzirkels ein etwas peinlich berührtes Schweigen, den Philosophen des Philosophenzirkels war diese Feststellung insgesamt aber gar nicht einmal so unangenehm, und so lächelten sie etwas in sich hinein. Aber nur kurz, denn schon setzte die Stimme der Vernunft dazu, dass es den Männern innerhalb des SYSTEMS in Wirklichkeit doch gar nicht so schlecht gehen würde, wie die Männer des Philosophenzirkels immer täten, woraufhin sich freilich auch über die Männer ein etwas peinlich berührtes Schweigen legte. Ein anderes Mal hatte der Philosophenzirkel beschlossen, sich dem Thema des impliziten Alltagswissens philosophisch zu widmen, da er die Vermutung hegte, dass die gewöhnlichen Menschen auf der Ebene des impliziten Alltagswissens doch wissen würden, dass die Welt nicht so sei, wie sie sich das auf der Ebene des expliziten SYSTEM-Wissens vorstellen würden, was sie sich aber nicht trauen würden zuzugeben und wofür sie auf der Ebene der expliziten SYSTEMsprache keine Begriffe hätten, das auszudrücken. Nachdem der Philosophenzirkel das Thema über Monate hinweg in einer Reihe von Treffen ausführlich behandelt hatte, das heißt, alles, was für die von ihm selbst getroffene Annahme sprach, groß in den Vordergrund gestellt, und alles, was gegen die von ihm selbst getroffene Annahme sprach, ignoriert hatte, meldete sich endlich einmal die Stimme der Vernunft zu Wort und las von ihrem Blatt, dass sie beobachtet habe, dass die Philosophen und Philosophinnen des Philosophenzirkels auf der Ebene ihres impliziten Alltagswissens doch wissen würden, dass die Welt nicht so sei, wie sie sich das auf der Ebene des expliziten philosophischen Wissens vorstellen würden, was sie sich aber nicht trauen würden zuzugeben und wofür sie auf der Ebene der expliziten Philosophensprache keine Begriffe hätten, das auszudrücken. Daraufhin sagte Pampa als Einzige unter den ansonsten sprachlosen Philosophinnen und Philosophe Ja eh, dann wurde wieder so getan, als sei gar nichts geschehen. Einmal hatte die Stimme der Vernunft Geburtstag und durfte zur Feier des Tages ein von ihr selbst verfasstes Pamphlet mit dem Titel J´accuse vorlesen, wo unter anderem drinnenstand:

... Ein prekäres, wenngleich auf seine Art vollkommen reziprokes Verhältnis zur Wirklichkeit pflegt der Philosophenzirkel ... Da sich die Wirklichkeit nur marginal den Wunschvorstellungen und den philosophischen Konstruktionen des Philosophenzirkels fügt, revanchiert sich der Philosophenzirkel, indem seine philosophischen Konstruktionen und Wunschvorstellungen nur marginal etwas mit der Wirklichkeit zu tun haben, und das die ganze liebe Ewigkeit ... In den Kategorien von wahr oder falsch, gut oder schlecht zu denken, hat der Philosophenzirkel ganz und gar überwunden: Er denkt und spricht in den Kategorien von babig und globig, und ist ganz davon überzeugt: Das sei die Welt! Das aber ist nicht die Welt ... Und wie löst der Philosophenzirkel ein Problem? Er steht auf, schimpft auf das SYSTEM, kappt gleich darauf die Nabelschnur eines jeden weiterführenden Gedankens ab, und setzt sich darauf wieder hin, um sich zu denken: Jetzt hat er es dem SYSTEM wieder gegeben! Wenn nur alle Leute so wären wie er! ...

Nachdem die Stimme der Vernunft geendet hatte, blickte Linda die Stimme der Vernunft mit ganz aufgeschlossenem und interessiertem Gesichtsausdruck an und bemerkte, dass das aber interessant sei. Doch was habe die Stimme der Vernunft denn eigentlich genau damit gemeint? Die Stimme der Vernunft hatte in einem langen (jedoch nicht zu langen) und systematisch aufbereiteten Vortrag ganz klipp und klar gesagt, was sie gemeint hatte, auf das hinauf war die Stimme der Vernunft jedoch nur mehr sprachlos. Was für ein Glück daher, dass das Gespräch gleich wieder auf ein anderes Thema gebracht wurde, soll heißen, auf die Frage nach dem SYSTEM. (Am vorangehenden Wochentag traf sich am Stammtisch des Philosophenzirkels immer eine Gruppe von Kulturschaffenden, um darüber zu jammern, dass ihnen der Staat und die Gesellschaft nicht den roten Teppich ausrollen würden, und darüber, dass sie öffentlich angefeindet werden würden, für den Fall dass ihre in gesellschaftlich-provokativer Weise gehaltenen Kulturwerke die Gesellschaft tatsächlich provozierten.)

Der Philosophenzirkel traf sich stets allein im Gasthaus Zur lustigen Kuh, und außerhalb dieser wöchentlichen Treffen pflegten die Mitglieder einander selten bis nie zu sehen. Einmal hatte der Philosophenzirkel probiert, ein Picknick mit Barbecue im Freien zu organisieren. Dabei saßen die Mitglieder des Philosophenzirkels relativ verstreut um die Feuerstelle, lasen jedes für sich in einem Buch, und sprachen fast gar nichts. Einmal ergab sich eine nervenzerfetzende Diskussion darüber, wie der Senf richtig aus der Tube gedrückt zu werden habe, die über eine Stunde in Anspruch nahm, weil es sonst nichts zu reden gab. Als der Geschmeidige Philosoph zu Linda sagte, ob sie auf die Glut an der Feuerstelle etwas aufpassen könne, da sie ja gleich daneben sitze, sagte Linda, ohne von ihrem Buch aufzublicken, er solle es doch selber machen.

Hin und wieder zerstritt sich der Philosophenzirkel natürlich ordentlich. Als Yorick einmal bemerkte, dass es doch schwul sei, sich immer nur mit Wirtschaftsthemen zu beschäftigen und nie mit Umweltthemen, entgegnete der Geschmeidige Philosoph geistesgegenwärtig, dass doch genau das Gegenteil richtig sei und die Umweltthemen schwul seien und nicht die Wirtschaftsthemen. Da stürzten sich Linda, Olga und Pampa auf die beiden und herrschten sie an, was das denn solle, was – doch bevor die drei ausreden konnten, beeilte sich schon der Geschmeidige Philosoph zu entgegnen, dass die Verwendung dieses Ausdrucks natürlich unverzeihlich sei, er aber in dem Moment von sich selbst überrumpelt worden sei, was zeige, wie tief die Phallokratie und der Phallogozentrismus in alle hineinreichen würde, er schäme sich so, er schäme sich so, doch der Phallogozentrismus sei eben so mächtig und vielleicht sei es letztlich gar nicht möglich, dem Phallogozentrismus zu entkommen, aufgrund des phallokratischen Charakters der Gesellschaft, wobei er bei der Aussprache des Begriffes Phallogozentrismus ständig mit dem Oberkörper nach vorne wippte. Yorick hingegen witzelte bloß, dass das das Schwulste sei, was er überhaupt jemals gehört habe, auf das hinauf explodierten Linda, Olga und Pampa und forderten daraufhin ständig einen Diskurs über Frauenphilosophie ein. Nach einigen Monaten explodierte dann ebenso unerwarteterweise die Stimme der Vernunft, die zum ersten Mal ohne vom Blatt abzulesen und in einer Mischung aus Wut und Verzweiflung etwas vorbrachte, nämlich dass er es nicht mehr aushalten würde, wie Linda, Olga und Pampa die Zusammenkünfte des Philosophenzirkels dazu missbrauchen würden, ständig ihre Frauendiskurse in den Vordergrund zu stellen, er würde auch gerne einmal was sagen, könne aber nicht, aufgrund der ständigen Frauendiskurse, die Linda, Olga und Pampa allen aufzwängen würden, dringend sei außerdem zu diskutieren, wie der Philosophenzirkel im nächsten Jahr finanziell überleben wolle und dergleichen mehr, was auch alle wissen würden, und was auch Linda, Olga und Pampa wissen würden – dass man finanziell praktisch auf einen Eisberg zusteuere, trotzdem würden sie aber nichts unternehmen, und es vorziehen, ständig ihre Frauendiskurse allen aufzuzwängen. Da bekam Olga einen Schreikrampf und forderte den Ausschluss der Stimme der Vernunft aus dem Philosophenzirkel und schließlich fing sie zu weinen an, was Linda und Pampa etwas peinlich berührte, da das Verhalten ihrer Freundin ihre Frauenphilosophie auf ebenso etwas peinliche Weise konterkarierte. Schließlich einigten sich Linda, Olga und Pampa darauf, dass die nächsten 35 Treffen einem Diskurs über die patriarchalen Strukturen innerhalb des Philosophenzirkels gewidmet zu sein hätten. Der Geschmeidige Philosoph schloss sich mit Verve an, um über das Vehikel jenes Diskurses die Machtverhältnisse innerhalb des Philosophenzirkels zu seinen Gunsten zu ändern, und seine eigene Agenda durchzusetzen. Der Geschmeidige Philosoph gab Linda, Olga und Pampa immer recht und erging sich selbst stets in komplizierten Ausführungen über den Phallogozentrismus; er sprach sehr schön und auch sehr viel, allerdings nur, wenn Linda, Olga und Pampa da waren. Sobald Linda, Olga und Pampa nicht mehr da waren, hörte man vom Geschmeidigen Philosophen plötzlich nichts mehr über den Phallogozentrismus und Ähnliches, er redete ganz normal, als hätte man einen Schalter umgelegt. Die Agenda des Geschmeidigen Philosophen sah im Geheimen vor, möglichst viele Frauen zu ficken und ein bisschen angenehm über Poststrukturalismus, Diskursanalyse und Medientheorie zu plaudern. Linda, Olga und Pampa ließen sich aber nicht ins Boxhorn jagen, woraufhin die Ausführungen des Geschmeidigen Philosophen immer aufgedonnerter wurden. Schließlich unterbrach ihn der Andere Philosoph, der das eigentliche und gegenseitige besondere Hassobjekt des Geschmeidigen Philosophen darstellte, mit einem schiefen Lächeln und der Bemerkung, dass die Ausführungen des Geschmeidigen Philosophen gar keinen Wert hätten, da es phänomenologisch gar nicht als gesichert gelten könnte, dass es den Geschmeidigen Philosophen überhaupt gebe. Der Geschmeidige Philosoph brachte erschreckt ein paar poststrukturalistische Argumente für die Tatsache seiner Existenz an, die der Andere Philosoph schnell zerpflückte, und dem Geschmeidigen Philosophen vorwarf, dass seine Argumentationen gar keinen Wert hätten, da es ihn in Wirklichkeit gar nicht geben würde. Schließlich wusste der Geschmeidige Philosoph nicht mehr, was er sagen sollte, und war ganz verunsichert. Auf das hinauf wiederholte sich dann immer wieder dasselbe, und wenn der Geschmeidige Philosoph zu sprechen anfing, konfrontierte der Andere Philosoph den Geschmeidigen Philosophen mit der Behauptung, dass es ihn gar nicht geben würde. Sonderbarerweise ließ sich der Geschmeidige Philosoph stets darauf ein und ebenso sonderbarerweise verlor er stets und recht zügig dabei das Gleichgewicht und argumentierte zum Schluss nur mehr in flehentlichem, bittendem Ton, dass tatsächlich kein Beweis dafür existiere, dass es ihn gebe, sondern lediglich Wahrscheinlichkeitsgründe von allerdings sehr hohem Grade wie zum Beispiel die Einheitlichkeit seines Wahrnehmungsverlaufs oder – doch der Andere Philosoph brauchte dem nur ein spöttisches Pffft entgegenzusetzen, und der Geschmeidige Philosoph wirkte tatsächlich nur mehr wie ein Ballon, aus dem man die Luft herausgelassen hatte, klein, bewegungsunfähig und stumm. Mit großer Konsterniertheit blickte der Rest des Philosophenzirkels auf die Chose, in der der Andere Philosoph mit der haarsträubenden, wenngleich syllogistisch stets sauber ausgeführten Argumentation, dass es ihn gar nicht geben würde, den sonst so eloquenten und wortreichen Geschmeidigen Philosophen ganz einfach zusammenklappte, so wie einen Liegestuhl. Der Grund dafür lag darin, dass es den Geschmeidigen Philosophen tatsächlich gar nicht gab. Der Geschmeidige Philosoph war ein von der Natur ersonnener Scherzmechanismus, dessen Zweck darin aufging, möglichst viele Frauen zu ficken und ein bisschen angenehm über philosophische Modethemen zu plaudern. Ansonsten, im eigentlichen, substanziellen Sinn, gab es den Geschmeidigen Philosophen jedoch gar nicht. Yorick sagte zu alldem gar nichts, sondern ließ sich lächelnd den Gedanken durch den Kopf gehen, dass er allein durch seine Anwesenheit, seine Yorick-Anwesenheit, und ansonsten ohne irgendetwas zu sagen, eine ganze Gesellschaft beherrsche. In dem Moment beugte sich der völlig angetrunkene Andere Philosoph zu ihm, um ihm in seinem Ausnahmezustand das bemerkenswerte Eingeständnis zu machen, dass er alle Menschen hasse und allein mit völliger Verachtung auf die gesamte Menschheit blicke und die Philosophie für ihn allein ein Mittel, einen Behelf, darstelle, seine absolute Überlegenheit gegenüber dem Rest der so genannten Menschheit wenigstens in irgendeine Form zu bringen, da seine Überlegenheit ansonsten formlos sei. Wie auf Würmer, wie auf Pünktchen, wie auf Amöben blicke er aus seinem einsamen Adlerblick auf den Rest der Menschen und sein schönstes Vergnügen sei, auf diese Pünktchen und Amöben zu treten und sie dabei laut und fatal zerknirschen zu hören und dieses Zerknirschen unter seinen Füßen angenehm zu spüren. Die Philosophie und die Philosophen seien für ihn auch allein Amöben; Stirner sei der einzige Philosoph, den er halbwegs schätzen würde, Stirner, wenngleich auch der weit unter ihm stehen würde, klarerweise. Überhaupt wisse er gar nicht, wohin mit seinem ganzen Ekel auf alles. An der gesamten Musik schätze er allein die ersten beiden Alben der polnischen Nazi-Black-Metal-Band Graveland, freilich finde er den dort artikulierten rassistischen Suprematismus lächerlich und peinlich, was aber würde man sich von Polacken schon anderes erwarten können?, der rücksichtslose und konsequente Elitarismus, der sei jedoch ganz nach seinem Geschmack, da könne er ausnahmsweise einmal gar nicht anders, als einen anderen Menschen für etwas zu loben, dann hielt der Andere Philosoph inne und verharrte über zwei Stunden regungslos in einer sehr unbequemen Position, da er zu betrunken war, um sich zu bewegen. Yorick hatte den Worten des Anderen Philosophen gar nicht richtig zugehört, er hatte derweil bei einem Blick auf die Uhr festgestellt, dass es zufälligerweise genau so spät war, wie er sich gedacht hatte, und sich daraufhin lieber in den Gedankengang vertieft, Yorick könne durch bloßes Nachdenken die Zeit dingfest machen etc. (Am darauf folgenden Wochentag saß am Stammtisch des Philosophenzirkels dann immer eine Runde von Berufsfernfahrern, die ihre Gruppenidentität aus dem Motto Mit dem LKW! Oder wollen Sie es selber tragen? schöpfte, und die dann immer wieder darüber diskutierte, ob die Leute, die gegen die LKWs seien, es denn tatsächlich lieber selber tragen würden wollen.) Das Gasthaus Zur lustigen Kuh jedoch gehörte einem kontinentalen Immobilienkonzern, dessen Eigentümer wiederum die schreckliche Sekte Scientology war.

Yorick - Ein Mensch in Schwierigkeiten

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