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2. Kapitel UM DEN ZAUN ZU DEN PROFIS

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Jugend in Gern und beim FC Bayern

Immer die Freude am Fußball behalten – Vertrauen in das eigene Gefühl entwickeln – immer nur an den nächsten Schritt denken – nicht zu große Ziele setzen – aus Schwächen Stärken entwickeln – die Freude, Teil einer Mannschaft zu sein – die eigenen Möglichkeiten erkennen – die richtige Unterstützung suchen

Am Anfang verlieren wir jedes Spiel. Wir verlieren hoch, wir verlieren knapp, wir holen nicht einmal ein Unentschieden.

Ich bin hin- und hergerissen. Macht mir das Fußballspielen mehr Spaß, als mich das Verlieren ärgert? Oder nervt mich das Verlieren so, dass ich irgendwann keine Lust mehr auf Fußball habe?

Ich bin fünf Jahre alt, als ein Kindergartenfreund vor unserer Haustür in Neuhausen steht und fragt: »Darf der Philipp mit zum Training kommen?«

Meine Mama lacht und sagt, was sie seither immer gesagt hat: »Wenn er will …«

Okay, dann will ich halt. Gehe zum ersten Mal ins Training der Freien Turnerschaft Gern und füge der stattlichen Zahl der Lahms in diesem Verein einen weiteren hinzu.

Mein Papa spielt bei der FT Gern. Mein Onkel spielt bei der FT Gern. Mein Opa hat bei der FT Gern gespielt. Meine Mama wird bald im Büro der FT Gern sitzen und darauf schauen, dass jede einzelne Jugendmannschaft hat, was sie braucht. Der Platz der FT Gern ist genau fünf Minuten von unserer Wohnung in Neuhausen entfernt.

Man könnte also denken, dass mein Weg in diesen Klub vorgezeichnet ist.

Aber ich will im Grunde nur bolzen. Gegenüber von unserem Haus beginnt der Olympiapark, dort finden sich immer ein paar Jungs, die miteinander spielen. Eine Gruppe von Kindern, ein Ball, zwei Tore: gibt es was Schöneres?

Die FT Gern spielt in der Kreisklasse. Mein Papa hat Talent, die Sechziger wollten ihn haben. Aber statt Zweite Bundesliga zu spielen, ist der Papa lieber am Wochenende daheim.

Fußball gehört in unserer Familie zum Alltag, aber nie in Verbindung mit enormem Ehrgeiz. Für den Ehrgeiz bin offenbar ich zuständig.

Sobald ich mit meinem neuen Klub die erste Niederlagenserie kassiert habe, schmeiße ich mich noch mehr rein als bisher. Wäre doch gelacht! Beim Training merke ich, dass es mir leichter fällt als den meisten anderen, dem Ball klarzumachen, was ich von ihm will. Ich schieße ganz gut, und ich kann fast jeden Ball stoppen. Weil mir der Ball nicht dauernd vom Fuß springt, kriege ich ihn auch öfter zugespielt als die anderen. Es dauert also nicht lange, und ich spiele in meiner Mannschaft eine Rolle. Wir spielen kreuz und quer, aber ich bin immer in der Mitte.

Das gefällt mir. Aber noch mehr gefällt mir, dass wir nicht mehr so sicher verlieren, wie das Amen in der Kirche. Wir spielen hie und da unentschieden, und an guten Tagen gewinnen wir sogar.

Meine Mitspieler sind meine Freunde. Würden wir nicht gemeinsam Fußball spielen, würden wir irgendetwas anderes aushecken. Aber wir kommen nicht dazu, denn Schule und Fußball nehmen den ganzen Tag in Anspruch.

Auf Münchens Fußballplätzen treiben sich immer Nachwuchsscouts der großen Vereine herum. Sie schauen sich Spiele aller Jugendmannschaften an und versuchen, die vielversprechenden Jungs zu ihren Klubs zu lotsen. Viele Profikarrieren haben auf diese Weise begonnen.

Eines Tages, ich bin gerade zehn geworden, spricht mich nach einem Spiel ein freundlicher Mann an. Ihm habe gefallen, wie ich die Mannschaft nach vorn trieb. Ob wir nicht noch ein bisschen auf dem Nebenplatz kicken wollen?

Mit meinem Papa und zwei Kumpels kicken wir noch ein bisschen auf dem Nebenplatz. Der Mann schaut aufmerksam zu, wie wir den Ball behandeln, ihn stoppen und weiterspielen. Dann rückt er mit seinem Anliegen heraus. Ob ich nicht Lust hätte, zu 1860 München zu kommen? Wenigstens für ein Probetraining.

»Hm«, sage ich. »Weiß nicht.«

Aber dann interessiert mich doch, wie bei den Sechzigern trainiert wird. Obwohl ich fast sicher bin, dass ich nicht von der FT Gern weggehen werde, fahre ich zum Probetraining nach Giesing.

Das Erste, was ich sehe, ist der Zaun hinter dem Tor. Der hat große Löcher.

»Nein«, sage ich. »Hier will ich nicht spielen.«

Ein paar Wochen später treffen wir in der Meisterschaft der U12 auf die Löwen, genau auf die Mannschaft, bei der ich nicht spielen wollte. Wir verlieren 2:7, aber immerhin haue ich ihnen unsere beiden Tore rein.

Es dauert ein Jahr, bis mir nach einem Spiel wieder ein Mann entgegenkommt, den ich nicht kenne.

»Servus, Philipp. Hast du vielleicht Lust, zur U11 des FC Bayern zu kommen? Ich bin der Trainer.«

Jetzt ist die Antwort nicht mehr so einfach. Mein Ehrgeiz hat ziemliche Fortschritte gemacht. Schon wenn ich zu Hause beim Mensch-ärgere-dich-nicht verliere, ist die Hölle los, und mit der FT Gern werden wir bei aller Freundschaft nichts Großes gewinnen. Hm.

Wahrheitsgemäß antworte ich: »Ich weiß nicht.«

Aber der Trainer ist hartnäckig. Er redet mit meinen Eltern. Die sind irgendwie geschmeichelt, aber sie warten ab, was der Bub sagt. Was ich sage.

»Wir rufen Sie an.«

Aber der Trainer lässt nicht locker. Er wirft eine Angelschnur mit einem fetten Köder nach mir aus.

»Wenn du zum Probetraining kommst, darfst du im Olympiastadion den Balljungen machen.«

Verdammt. Jetzt muss ich also doch zum Probetraining.

Aber ich bleibe skeptisch. Die Vertrautheit unseres Fußballplatzes, der Geruch der Kabinen, der Spaß, den ich mit den Jungs habe – kriege ich beim FC Bayern etwas, was mir genauso viel wert ist? Wird das Training dort ein Kampf statt dem vertrauten Spaß in Gern? Und: bin ich überhaupt gut genug für den großen FC Bayern?

Als mich die Mama zum Probetraining fährt, schaut sie mich vom Fahrersitz aus prüfend an. Sie merkt, dass ich nervös bin. Aber sie will mir die Peinlichkeit ersparen, es abzustreiten, deshalb schweigen wir.

Ich weiß nicht, was ich mir erwartet habe, aber die Schülermannschaft des FC Bayern ist voll in Ordnung. Ein Spieler, der ein halbes Jahr älter ist als ich, nimmt mich sofort unter seine Fittiche. Er heißt Enzo. Sein kleiner Bruder Diego Contento wird Jahre später mit mir bei den Profis des FC Bayern spielen.

Enzo ist sofort so was wie ein Verbündeter. Außerdem hat er die Aufgabe übernommen, mit mir ins Olympiastadion zu fahren und mich dort in die Pflichten eines Balljungen einzuweisen.

Auf der Rückfahrt nach Gern habe ich das Gefühl, dass ich auch beim FC Bayern sehr schnell Freunde finden werde. Das Gefühl ist stärker als die Traurigkeit, dass ich meine Freunde von zu Hause in Zukunft nicht mehr so oft sehen werde. Als ich darüber nachdenke, merke ich, dass ich mich bereits entschieden habe. Ja, ich werde zum FC Bayern wechseln.

Zum ersten Mal begreife ich, was Ordnung auf dem Platz ist. Unser Trainer Jan Pienta unterbindet alle Versuche, wie in Gern draufloszubolzen, mit einem Pfiff seiner Trillerpfeife. Er schärft jedem Spieler ein, die Position zu halten, die ihm zugewiesen ist, und sich an das Grundmuster zu halten, das unserem Spiel zugrunde liegt.

Ich spiele auf der Position des Achters. Defensives Mittelfeld mit ein bisschen Spielraum nach vorn. Liegt in der Familie, auch der Papa hat immer mit der 8 gespielt. Zum ersten Mal höre ich den Begriff »Stellungsspiel« in Verbindung mit verständlichen Anweisungen. Zum ersten Mal begreife ich den Zusammenhang zwischen den Zeichnungen, die der Trainer in der Kabine an die Wand pinnt, und dem Lauf des Balls auf dem Feld. Ich wittere Fußball. Ich ahne Niveau.

Aber ich muss viel lernen, um ganz in der Mannschaft anzukommen. Ich muss zum Beispiel lernen, von zu Hause fort zu sein. Ich habe bis jetzt noch nie auswärts geschlafen, und jetzt fahren wir zu einem Turnier nach Berlin, wo wir bei Gasteltern untergebracht werden. Ich muss lernen, auf meine Freunde zu verzichten, denn ich habe drei Mal in der Woche Training an der Säbener Straße, und am Wochenende wird gespielt.

Meistens gewinnen wir, das macht Spaß.

Als wir in der Münchner Olympiahalle den Hertie-Cup spielen, treffen wir im Finale auf 1860. Unentschieden nach der regulären Spielzeit, und als ich in der Nachspielzeit das Golden Goal erziele, bin ich in dem Knäuel von Spielern, die dieses Tor feiern, ganz unten. Alle anderen liegen auf mir.

Am Abend merke ich, dass ich ganz dicke Stellen am Hals habe. Wir gehen zum Arzt. Der Doktor untersucht mich und stellt schnell fest, dass ich eine geschwollene Milz habe, vermutlich durch eine Infektion, die ich bis dahin nicht bemerkt habe. Bloß nicht stark draufdrücken, sagt der Doc, die Milz könnte reißen. Gut, dass er mir das jetzt schon sagt.

Beim FC Bayern spielen die besten Nachwuchsspieler Münchens. Eine zusätzliche Herausforderung besteht darin, dass die U12 in den Wettbewerben der U13 antritt, die U13 in denen der U14, die U14 in denen der U15. Erst die U17 misst sich wieder mit gleichaltrigen Gegnern.

Als wir 14 werden, beschließt der Verein, eine neue U15 ins Rennen zu schicken. Wir müssen ganz unten anfangen, gegen die schlechtesten Klubs. Alle regen sich darüber auf, nicht über die zweistelligen Packungen, die wir den Gegnern verpassen, aber über die roten Staubplätze, auf denen wir in diesem Jahr spielen müssen.

In der U14 werde ich für die Münchner Auswahl nominiert: meine erste Berufung in ein Auswahlteam. Zwei Jahre später folgt die Berufung in die Bayern-Auswahl, und als ich 16 bin, werde ich von Uli Stielicke in die U17-Nationalelf eingeladen. Wir spielen gegen Finnland, ich bringe nichts Besonderes auf die Reihe, und Uli Stielicke lässt ein Jahr lang nichts von sich hören.

In Duisburg gewinne ich mit der U16 der Bayern-Auswahl meinen ersten Titel, die Deutsche Meisterschaft im Ländervergleich. Auf der Rückfahrt lassen wir die Sau raus. Der Bus muss bei einer McDonald’s-Raststätte ranfahren, und die Mannschaft stößt mit Sekt auf den Titel an: in Plastikbechern, versteht sich.

Der Gedanke, Profi zu werden, ist in jeder Schüler-, in jeder Jugendmannschaft zu Hause. Jeder Junge, der fünf Mal die Woche trainiert und am Wochenende spielt, hat den Traum, irgendwann Bundesliga zu spielen oder Champions League. Nichts ist reizvoller als der Gedanke an das Trikot deines Klubs, wo unter einer super Nummer dein Name steht.

Natürlich träume auch ich davon. Aber ich habe auch einen anderen Plan in Reserve. Vielleicht will ich Banker werden wie mein Opa und mein Onkel. Zahlen liegen mir. In der Schule zählt Mathematik zu meinen Lieblingsfächern. Noch belastet mich der Gedanke an Entscheidungen, die in der Zukunft fallen, nicht.

Am spannendsten wird es immer zu Saisonende. Zu Saisonende sagt der Trainer, wen er nächstes Jahr noch in der Mannschaft sehen möchte. Das bedeutet das Ende mancher Träume. Drei, vier, fünf Spieler müssen gehen, einen anderen Verein suchen, manche hören mit dem Fußball überhaupt auf.

Ich rutsche von Jahr zu Jahr in die nächste, höhere Mannschaft. Andere Spieler, vor denen ich großen Respekt hatte, werden nicht mitgenommen.

In den Mannschaften bin ich immer einer der Jüngsten. Ich habe im November Geburtstag, und da die Jugendmannschaften nach Geburtsjahr zusammengestellt werden, spiele ich oft gegen Jungs, die fast ein Jahr älter sind als ich. Das ist für Zwölf-, Dreizehn-, Vierzehnjährige oft ein Unterschied von einiger Tragweite.

Weil ich nicht besonders groß bin, muss ich mein Spiel so anlegen, dass ich das durch besonders fixes Denken ausgleiche. Dass ich schon am richtigen Ort stehe, bevor der Ball dorthin gespielt wird. Dass ich vorausahne, was der Gegner als Nächstes tun will, und ihm den Weg abschneide.

Die Trainer stellen mich zuerst als Achter auf, dann als Rechtsaußen und schließlich als rechten Verteidiger.

Das Training wird zum Motor meines Alltags. Zuerst drei, dann vier, dann fünf Mal die Woche quer durch die Stadt fahren, trainieren, zurückfahren. Meine Freunde aus Gern gehen am Nachmittag schwimmen, ich gehe trainieren. Wir lernen Mädchen kennen. Die Freunde gehen am Samstag in die Disco, ich gehe schlafen: wir spielen ja am nächsten Tag.

Es sind die Jahre, wo viele Jungs, die gut Fußball spielen, beschließen, mit dem Fußball aufzuhören. Das heißt, sie beschließen es gar nicht. Aber sie bleiben zuerst einmal, dann öfter dem Training fern, rufen den Trainer an und sagen, dass sie erkältet sind, um mit den Mädels ausgehen zu können, und irgendwann sind sie so weit von der Seele des Spiels entfernt, dass sie nicht mehr zurückfinden.

Ich kann diese Unsicherheit verstehen. Ich möchte auch gern zum Schwimmen gehen. Aber ich will auch am Fußball dranbleiben. Wenn ich heimlich überlege, ob ich einmal das Training schwänzen soll, muss ich nur bei meinem Ehrgeiz nachfragen. Bleib dran, sagt der Ehrgeiz, wenigstens dieses Jahr, wenigstens, bis du weißt, dass du von der U14 in die U15 mitgenommen wirst.

Den Rest erledigt der Fußball selbst. Sobald ich auf dem Platz stehe, sobald der Trainer uns in zwei Mannschaften aufteilt und in ein Spiel schickt, sieben gegen sieben oder elf gegen elf, ist auch der Spaß wieder da, der Spaß am Spiel, am Trick, am Gefühl, wie herrlich es ist, den richtigen Pass zu spielen und der Stürmer tunnelt den gegnerischen Torwart. Fußball ist so ein Vergnügen.

Ich glaube, Ehrgeiz allein genügt nicht, um Fußballprofi zu werden. Disziplin allein genügt auch nicht. Es braucht diesen Spaß am Spiel, dieses erfüllende Gefühl, sobald du auf dem Platz stehst, das Nicht-mehr-an-die-Freunde-Denken, die jetzt beim Schwimmen sind, der Ball, du, das Tor, deine Welt.

Ich spiele jetzt in der U17 des FC Bayern. Ich brenne für die Mannschaft. Als wir das Finale um die Deutsche Meisterschaft in Berlin gegen Hertha BSC 0:1 verlieren, sitze ich in der Kabine und heule vor Zorn, und es ist mir nicht einmal peinlich. Neben mir sitzen ein paar andere, denen es genauso geht. Selbst in diesen bitteren Momenten merke ich, wie großartig es ist, Teil einer Mannschaft zu sein.

Wir teilen alles. Die Niederlage, den Zorn über die Niederlage, die Entschlossenheit im Training, den Ehrgeiz im nächsten Spiel, das erste Tor, den Sieg, den Jubel, die Party in der Kabine und später am Abend. Du bist nie allein. Du teilst mit allen Kameraden das gemeinsame Ziel. Du musst dich nicht mehr fragen, warum du dir das alles antust, das viele Training, die knappe Freizeit.

Meine Eltern kommen zu jedem Spiel. Sie sehen uns oft gewinnen. Meine Mutter ist genauso Fan der Mannschaft wie mein Vater, aber obwohl beide durchaus etwas vom Fußball verstehen, halten sie sich mit Kommentaren zum Spiel zurück. Sie loben mich, ja, aber sie bilden sich nie ein, mir erklären zu müssen, was ich besser machen könnte.

Das finde ich großartig. So bleibt uns der Fußball ein gemeinsamer Schatz, der nie zum Schauplatz von Konflikten wird.

Als ich mit 17 Jahren in die U19 aufrücke, verdiene ich wie alle anderen 400 Mark im Monat, Aufwandsentschädigung und Fahrgeld. In der U17 waren es 100 Mark gewesen, in der U18 200 Mark. Neben der Chance, für die A-Jugend zu spielen, geht auch schon ein Fenster in die Welt des Erwachsenenfußballs auf. Ich könnte auch für die Amateure des FC Bayern eingesetzt werden, die damals in der Regionalliga spielen, der dritten Liga des deutschen Fußballs. Darüber gibt es nur noch die Zweite Bundesliga und die Bundesliga.

Mein Trainer in der U19 heißt Roman Grill. Er hat selbst viele Jahre für die Amateure des FC Bayern gespielt und eine klare Vorstellung davon, was auf dem Platz zu passieren hat. Er kommt vom Schliersee. Sein Bayrisch ist so klar und lupenrein, dass es irgendwann zum Weltkulturerbe der UNESCO erklärt werden wird. Roman hat, was ein guter Trainer haben muss: Autorität. Wenn wir darüber reden, was ich als rechter Verteidiger oder im defensiven Mittelfeld für Aufgaben übernehme, merke ich, wie klar seine Vorstellungen sind.

Wir sind erfolgreich. Mit Roman an der Seitenlinie schaffen wir es 2001 ins Finale der deutschen U19-Meisterschaft. Unser Gegner ist Bayer Leverkusen, bestimmt die beste Jugendmannschaft dieses Jahres. Wir spielen in Leverkusen in der BayArena. Das Stadion ist fast ausverkauft, auf den Tribünen gut 20.000 Zuschauer.

Wir schlafen im Stadion, zu der BayArena gehört auch ein Hotel. Meine Nacht bleibt kurz. Ich bin nervös. So viele Zuschauer, die meisten werden die Heimmannschaft unterstützen. Für das Spiel hat mir Roman eine zentrale Rolle zugedacht. Wir treten gegen den offensiv starken Gegner mit zwei Sechsern an, einem massierten, defensiven Mittelfeld. Ich bin einer der beiden Sechser.

Im Tor steht bei uns Philipp Heerwagen. Philipp ist ein super Torhüter. Neben mir spielt Markus Feulner, wir müssen vor der Abwehr das Spiel dicht machen. Im offensiven Mittelfeld soll Zvjezdan »Zwetschge« Misimovic, ein begnadeter Techniker, mit langen Bällen auf unsere Sturmspitzen für Kontermöglichkeiten sorgen.

Das Spiel geht los, und nach wenigen Minuten ist klar: Der Gegner spielt überragend. Wir bringen gar nichts zustande. Wenn Philipp Heerwagen nicht weltklasse halten würde, hätten wir das Spiel schon in der Halbzeit verloren. Das 0:0 nach 45 Minuten schmeichelt uns. Ich habe im zentralen Mittelfeld genau sechs Ballkontakte gehabt und Markus Feulner sieben. Nichts geht.

Als wir in die Kabine gehen, sagt Markus: »Was ist denn da los, Philipp? Was machen wir?«

Ich schüttle ratlos den Kopf

Also trifft Markus eine Entscheidung. Er schnürt seine Stollenschuhe auf und pfeffert sie in seinen Spind. Mit Stollenschuhen rutschst du wegen der langen Stollen aus Stahl in der Regel weniger, außer der Boden ist ungemein hart, dann rutschst du mit jedem Schuh. Ich bevorzuge bei jeder Wetterlage Stollenschuhe, denn als Defensivspieler kann jedes Ausrutschen fatale Folgen haben. Markus kramt in seinem Spind, holt seine Noppenschuhe heraus und zieht sie sich an. Die Stollenschuhe können bestimmt nichts dafür, dass wir so scheiße gespielt haben, aber Markus hat einfach das Gefühl, dass er etwas verändern muss, weil bei ihm gar nichts geht.

Wir laufen zurück aufs Feld, ich auf Stollen, Markus auf Noppen. Die Zuschauer pfeifen, sie sind gegen uns. Irgendwie haben sie recht. Unser Spiel ist erbärmlich.

Ein paar Minuten nach der Pause bekommen wir einen Freistoß von der Seite zugesprochen. Der Ball kommt hoch vors Tor, Dominik Haas – dessen Bruder Leonhard inzwischen beim FC Ingolstadt spielt – erwischt den Ball mit dem Kopf, und es steht 1:0 für uns.

Fünf Minuten später zieht Zwetschge Misimovic von außerhalb des Strafraums ab, und der Ball landet im Tor. 2:0. Der Spielstand stellt den Spielverlauf total auf den Kopf. Wir haben genau eineinhalb Chancen gehabt und zwei Tore erzielt.

Bayer Leverkusen hält jetzt wütend dagegen.

Als einer ihrer Stürmer im Strafraum umfällt, pfeift der Schiedsrichter Elfmeter. Grenzwertige Entscheidung. Aber der Strafstoß sitzt. Nur noch 2:1.

Zehn Minuten vor Schluss gleicht Bayer aus. Wir sind platt. Jetzt rächt es sich, dass wir in der ersten Halbzeit nur dem Ball nachgelaufen sind. Es ist eine Frage der Zeit, bis Bayer das Spiel endgültig umdreht.

Aber in der 88. Minute spielen wir noch einmal so was wie einen Konter. Plötzlich steht Piotr Trochowski auf Linksaußen, fast auf der Grundlinie, und während alle darauf warten, dass er den Ball in die Mitte spielt, chipt er ihn mit viel Effet ins allein gelassene Tor.

Dann ist das Spiel aus. So platt war ich noch nie, aber die Freude über den Titel lässt die Batterien noch einmal kurz aufflackern, und unser Jubel ist ausgelassen und wild, wir sind Deutscher Meister, haben gewonnen, obwohl wir keine Chance gehabt haben, wir tanzen auf dem Spielfeld, umarmen uns, von der Betreuerbank kommt Herbert Harbich angesprintet und springt mit der vollen Wucht seines doch schon etwas stärkeren Körpers auf die Jungs, krawumm, Deutscher Meister, und wie dieser Sieg zustande kam, als schwächere Mannschaft mit heute mehr Glück, macht die Sache noch ein bisschen süßer, noch ein bisschen schöner.

Ich bin 17 Jahre alt, 1 Meter 70 groß, mein Körper ist schmächtig. Ich spüre, dass bald eine Entscheidung fällig ist. Mit 17 ist der Profifußball zwangsläufig in Reichweite, wann sonst.

Noch nie ist die U19 des FC Bayern Deutscher Meister gewesen. Vielleicht ist es ein Zeichen, dass ausgerechnet wir es geschafft haben.

Mit der U19-Nationalmannschaft spiele ich die Europameisterschaft in Norwegen. Meine Eltern reisen zum ersten Mal nach Skandinavien. Sie sind entsetzt, wie teuer hier alles ist.

Wir gewinnen unsere Gruppe, ich steuere ein Kopfballtor gegen England bei, dann stehen wir im Finale. Im Finale – das einzige Spiel, in dem ich nicht aufgestellt werde – treffen wir auf Spanien und verlieren 0:1. Torschütze: ein gewisser Fernando Torres. Es wird Momente in meiner Karriere geben, in denen mir dieses Spiel wieder einfällt.

Der Sprung aus der Jugend zu den Profis eines Vereins ist immer schwierig. Im Profifußball gelten andere Gesetze als in den Jugendklassen. Während im Nachwuchs in jeder Saison die Besten des nächsten, jüngeren Jahrgangs nachrücken, besorgen sich die Trainer der Profimannschaften ihre Wunschspieler auf dem Transfermarkt.

Beim FC Bayern ist es besonders schwierig, aus der eigenen Jugend zu den Profis vorzurücken. Für den FC Bayern ist es eine Sache der Klubphilosophie, dass die besten Spieler Deutschlands nach München geholt werden. Ein Spieler aus der eigenen Jugend muss also schon besonders auffällig sein, um seine Chance zu bekommen.

Aber es muss ja nicht gleich beim FC Bayern sein. Mit mir stehen andere Spieler in der Mannschaft, die auch ihre Chance wittern. Piotr Trochowski zum Beispiel, Zvjezdan Misimovic, Markus Feulner, Florian Heller. Mehrere von uns spielen in der Jugendnationalmannschaft. Alle verfolgen konzentriert das Ziel, bessere Fußballer zu werden. Wenn ab und zu in der Lokalpresse ein Artikel über Nachwuchsfußball erscheint, heißt es darin, dass an der Säbener Straße vielleicht eine goldene Generation heranwächst. Damit meinen die uns.

Auf dem Trainingsgelände des FC Bayern gibt es zahlreiche Plätze. Die vorderen, dem Klubgebäude zugewandten sind den Profis vorbehalten. Hinten, weiter weg von den Kabinen, trainieren Amateure und Jugend.

Es kommt immer wieder vor, dass die Profis im Training noch jemanden brauchen. Dann kommt der Assistenztrainer um den Zaun herum und bittet Hermann Gerland, den Cheftrainer der Amateurmannschaft, einen Spieler rüberzuschicken.

Gerland weiß, dass diese Möglichkeit harte Währung für uns ist. Wer bei den Profis mitspielen darf, profitiert gleich doppelt. Erstens kann er sich von Effenberg, Elber & Co. etwas abschauen, zweitens hat er die Chance, beim Cheftrainer ein Gesichtsbad zu nehmen, und wer weiß, vielleicht, eines Tages …

Eines Tages sind bei den Profis gerade einmal sieben Spieler und zwei Torhüter anwesend. Alle anderen sind bei ihren Nationalmannschaften. Ein Assistenztrainer kommt um den Zaun: »Ich brauche einen Spieler, Tiger.« Um zwei gleich große Mannschaften bilden zu können, brauchen sie noch einen Spieler.

Hermann Gerland, den alle den »Tiger« nennen, zeigt auf mich.

Wir spielen vielleicht fünf Minuten fünf gegen fünf, als sich ein Spieler verletzt und in die Kabine muss. Der Trainer sagt Danke zu mir, aber jetzt braucht er mich nicht mehr.

Als ich zurück zu den Amateuren gehe, haben die gerade ein Spiel laufen: acht gegen acht. Der Tiger sieht mich und fragt: »Was machst du hier?«

Ich erzähle, was passiert ist, und frage: »Kann ich mitspielen?«

»Nein«, sagt Gerland. »Wir brauchen gerade keinen.«

Es ist schwer an der Schwelle zwischen Amateuren und Profis.

Eines Tages fragt mich Markus Husterer, ob ich schon einen Berater habe. Markus ist mit 15 zum FC Bayern gekommen. Wir haben uns auf Anhieb verstanden und sind bis heute befreundet.

»Nein«, sage ich. »Wieso?«

Markus stellt die Gegenfrage: »Kennst du dich mit Verträgen aus? Weißt du, wie viel der Verein für einen Vertragsamateur bezahlt?«

Das weiß ich nicht, und mit Verträgen kenne ich mich auch nicht aus.

Also macht Markus einen Termin mit dem Mann aus, der seit Kurzem sein Berater ist. Wir gehen eine Pizza essen, und ich habe einen ganz guten Eindruck. Der Mann wirkt kompetent und freundlich. Beim nächsten Treffen, denke ich mir, machen wir alles klar.

Am nächsten Tag beim Training erzähle ich einem unserer Betreuer vom Treffen mit Markus’ Berater.

»Aha«, sagt der. »Aber hast du schon mal mit dem Roman geredet?«

Roman, unser Trainer, hat begonnen, junge Spieler zu beraten.

»Ich mach mal was aus für dich. Sprich mit Roman, bevor du deine Entscheidung triffst.«

Ich treffe also Roman. Ihn kenne ich schon lange, ich weiß, wie er über Fußball denkt, wie er Fußball spielen lässt. Zu ihm habe ich Vertrauen, und wir werden schnell einig. Wir geben uns die Hand, dann ist er mein Berater. Einen Vertrag brauchen wir nicht. Bis heute gibt es zwischen uns keine schriftliche Vereinbarung.

Am nächsten Tag rufe ich Markus’ Berater an und sage ihm ab.

Wenig später bessert Roman den ersten Vertrag, den ich noch selbst abgeschlossen habe, für mich nach. Statt zwei Jahre läuft die Vereinbarung jetzt fünf Jahre, ich verdiene mehr als die ursprünglich vereinbarten 1000 Mark im Monat. Von 2002 bis 2004 soll ich bei den Amateuren in der Regionalliga spielen, Option auf drei weitere Jahre bei den Profis.

Natürlich ist dieser Vertrag in erster Linie eine Leitplanke für meine Perspektiven. Aber die Perspektive, Profifußballer zu werden, wird immer konkreter.

Ich habe die Schule mit der mittleren Reife abgeschlossen. Bevor ich jetzt auf einen anderen Beruf losgehe, probiere ich, was im Fußball geht, auch wenn mein wichtigster Lehrer meine Eltern beschwört, mich etwas Handfestes lernen zu lassen.

Nach dem Meistertitel mit der U 19 spiele ich für die Amateure des FC Bayern in der Regionalliga Süd. Der Trainer setzt mich als rechten Verteidiger ein. Mit mir in der Mannschaft stehen Zwetschge Misimovic, Steffen Hofmann, Hansi Pflügler, Markus Husterer, Markus Feulner, Stefan Wessels. Von Zeit zu Zeit stoßen Profis der ersten Mannschaft zu uns, die entweder ihre Form suchen oder nach Verletzungen Spielpraxis brauchen. Ich spiele eine gute Saison, und dann noch eine.

Als ich dann Profi beim VfB Stuttgart bin, meldet sich der Lehrer wieder. Er gratuliert meinen Eltern und entschuldigt sich fast dafür, dass er mein Talent, Fußball zu spielen, nicht richtig eingeschätzt hat.

Der feine Unterschied

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