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3. Kapitel SCHÖN, DASS DU DA BIST

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Die erste Saison in der Nationalmannschaft

Nationalmannschaft alt neu – die Rolle des jungen Spielers – wie eine Mannschaft Verantwortung verteilt – warum Deutschland keine guten Freundschaftsspiele spielt – was es heißt, öffentlich verspottet zu werden – was man aus einem verkorksten Turnier lernen kann – was zählt mehr: Niederlage oder gute Leistung? – von wem man echte Bestätigung bekommt – die Kunst, öffentlich Ziele zu setzen

Zu meinem ersten Treffen mit der Nationalmannschaft fahre ich im Februar 2004 mit dem Zug von Stuttgart nach Frankfurt. Ich teile das Abteil mit Kevin Kurányi und Andreas Hinkel. Die jungen Wilden vom VfB Stuttgart haben in der Nationalelf gerade Konjunktur.

Im Hotel treffen wir uns mit dem Stamm der Nationalmannschaft. Christian Wörns ist da, Jens Nowotny, Didi Hamann, Michael Ballack. Und natürlich Oliver Kahn.

»Wahnsinn«, denke ich mir, »der Titan.« Irgendwie jagt mir Oliver Kahn allein durch seine schiere Präsenz einen höllischen Respekt ein. Eigentlich kenne ich ihn ja schon vom Training beim FC Bayern, wenn ich für ein Trainingsspiel von den Amateuren rüber zu den Profis gerufen wurde. Aber da passierte nicht viel mehr als ein höfliches Hallo oder Ciao, und ich versuchte, nichts anzustellen, wofür mich der Titan vielleicht fressen könnte. Jetzt stehe ich mit ihm in der deutschen Nationalmannschaft. Vor sieben Monaten habe ich noch Regionalliga gespielt.

Ich mache die Runde und begrüße alle. Sehr höflich. Rudi Völler, der Bundestrainer, sagt: »Schön, dass du da bist.«

Finde ich auch. Danke, Trainer.

Wenn ich geglaubt habe, dass sich irgendwer um mich als Neuling besonders kümmern wird, habe ich mich getäuscht. Die alten Nationalspieler, die alle schon zig solche Treffen erlebt haben – Anreise, Einchecken ins Hotel, zwei, drei Trainingseinheiten, Reise zum Spielort, Länderspiel, Rückflug, Abreise zu den Klubs –, bleiben untereinander und machen sich den Aufenthalt so gemütlich wie möglich. Es wird viel gelacht. Ich halte mich mit Witzen zurück. Wir jungen Spieler – Hinkel, Hildebrand, Friedrich, Kurányi und ich – hocken beisammen, sind einfach da, sagen nicht viel, tun, was man uns sagt.

Das Training läuft erstaunlich locker ab. Ich bin natürlich die Philosophie von Felix Magath gewöhnt, der in jeder Trainingseinheit vermittelt, dass Fußball Schwer- und Schichtarbeit ist, aber so locker habe ich die Tage bei der Nationalmannschaft nicht erwartet. Wir laufen ein, zwei Runden um den Platz, um uns warm zu machen, machen ein bisschen Stretching, spielen Kreis, üben Flanken und Torschüsse und fangen nachher ein kleines Spiel an. Mir kommt das so vor, als würden ein paar Kumpels miteinander in die Ferien fahren, um Fußball zu spielen. Nach dem Training sagt keiner was. Die alten Spieler kümmern sich sowieso nicht um die Jungen, Mittelbau ist keiner vorhanden, und der Trainer findet offenbar, dass alles okay ist, wie es ist.

Wir spielen auswärts gegen Kroatien. Das Spiel findet in Split statt. Wir wissen nicht viel über den Gegner, außer über die Spieler, die wir aus der Bundesliga kennen. Es will aber auch niemand über den Gegner Bescheid wissen, und es gibt auch keine Besprechung, in der eine Taktik festgelegt würde. Die einzige Besprechung, an die ich mich erinnere, ist die, in der Rudi Völler die Mannschaftsaufstellung bekannt gibt. Ich stehe als linker Verteidiger in der Startelf.

Hammer. Erstes Spiel, und gleich in der Startaufstellung.

Wir gewinnen 2:1, ich spiele eine anständige Partie, nach dem Spiel kommt der Bundestrainer zu mir, legt den Arm um meine Schulter und sagt: »Klasse, Philipp.«

Ich sage, was ich in diesen Tagen immer sage: »Danke, Trainer.«

Auch beim 3:0 im Heimspiel gegen Belgien stehe ich in der Startaufstellung, und im Auswärtsspiel gegen Rumänien erziele ich mein erstes Länderspieltor, allerdings unter prekären Umständen: die Rumänen führen zu diesem Zeitpunkt bereits 5:0. Mein Tor ist also das, was oft als »Ehrentreffer« bezeichnet wird. Aber das Tor, das ich drei Minuten vor Schluss erziele, macht unsere Blamage kein bisschen besser.

Wir zeigen gar nichts in diesem Spiel, und die Rumänen zeigen alles. Wir haben verletzungsbedingte Ausfälle in der Innenverteidigung, die sich verheerend auswirken. Aber der Hauptgrund für das Debakel ist eine psychische Eigenart, die jeder großen Fußballnation in Freundschaftsspielen Probleme bereitet. Jeder Spieler hat im Hinterkopf, dass es in dieser Begegnung nicht um alles geht, und selbst wenn er entschlossen ist, trotzdem Vollgas zu geben, bleibt eine winzige Reserviertheit in jedem Zweikampf, in jedem Versuch einer Balleroberung, und das hat unter dem Strich fatale Auswirkungen.

Denn wenn unsere Mannschaft nicht imstande oder bereit ist, hundert Prozent zu geben, wenn sie mit 90 bis 95 Prozent ihres Potenzials auf den Platz läuft, ist sie nicht mehr gut genug, um gegen engagierte Mannschaften, die vielleicht eine Spur weniger Qualität aufbieten können, zu bestehen. So gut sind wir nicht. So gut waren wir noch nie.

90 Prozent reichen vielleicht gegen San Marino, wo der beste Spieler irgendwo in der dritten Liga kickt, aber gegen Profis, die in guten Ligen ihr Geld verdienen und voll motiviert für ihr Land antreten, können wir auf die fehlenden zehn Prozent nicht verzichten. Oder es gibt eine Klatsche wie in Bukarest. Da steht es schon zur Pause 4:0, und Oliver Kahn lässt sich entnervt auswechseln.

Die »Bild«-Zeitung macht uns zu den »Würsten aus Bukarest«. Na bravo. Drittes Länderspiel und schon das Gespött der Nation. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, den Blicken der Menschen daheim in Stuttgart nach der öffentlichen Demütigung zu begegnen. Ich kann nicht unterscheiden, ob sie mich anschauen, weil sie mich als Fußballprofi wiedererkennen, oder sehen sie in mir die Wurst aus der »Bild«? Mein Aufstieg ist abenteuerlich schnell gegangen, aber jetzt lerne ich gerade erste Schattenseiten kennen. Das Spiel ist nicht aus, wenn es in Bukarest abgepfiffen wird. Die Nachspielzeit geht immer weiter, und du bleibst ein Hauptdarsteller.

Nach Siegen gegen Malta und die Schweiz verlieren wir zu Hause gegen Ungarn 0:2. Ungarn wird von einem alten Bekannten gecoacht, von Lothar Matthäus, der in diesem Spiel den bislang größten Erfolg seiner Trainerkarriere feiert. Für uns ist das Spiel der letzte echte Test vor der Europameisterschaft in Portugal. Ich bin zwar erst seit vier Monaten dabei, aber es zeichnet sich ab, dass ich als 20-Jähriger mein erstes großes Turnier spielen darf. Die Position als linker Verteidiger ist dafür eine gute Eintrittskarte: in der Bundesliga drängt sich kein anderer Kandidat groß auf. Das ist vielleicht kein Qualitätsausweis für die Bundesliga – für mich ist es ein großes Glück, denn so komme ich zu einer Karriere in der Nationalmannschaft, von der ich bis dahin nicht einmal zu träumen gewagt habe.

Noch immer sind die Treffen mit der Nationalelf die lockersten Tage meines Profidaseins. Die Entspanntheit, über die ich vor meinem ersten Spiel gegen Kroatien noch gestaunt habe, ist die Regel. Wir trainieren nichts Spezielles, außer vielleicht Flanken von der Seite in die Mitte, wo dann irgendwer unbedrängt den Ball annimmt und aufs Tor haut. Lustig, ja, und völlig unsystematisch. Die Torhüter regen sich permanent darüber auf, wie der Ball links und rechts von ihnen einschlägt.

Pro Tag wird vielleicht eine Stunde trainiert, dann verziehen sich alle wieder auf ihre Zimmer. Ich glaube, dass damals viele Playstations geglüht haben. Es gibt keine taktischen Besprechungen. Es gibt keine Videoanalyse von kommenden Gegnern. Es gibt auch keine Videoaufzeichnungen eigener Spiele, anhand derer man die Spielweise der Mannschaft analysieren und verbessern könnte. Das Einzige, worüber wir reden, sind Fehler, die dem Bundestrainer aufgefallen waren. Da einigt man sich dann darauf, dass man sie in Zukunft nicht mehr machen will.

Aus der Sicht von heute klingt das wie eine andere Epoche von Fußball, und wahrscheinlich stimmt das auch. Ich weiß von keiner Nationalmannschaft des Jahres 2004, die sich anders, professioneller vorbereitet hätte als wir. Wie professionell die Arbeit mit den Nationalspielern überhaupt sein kann, erlebe ich sowieso erst nach dem Debakel bei der EM 2004 in Portugal.

Wir sind in der Gruppe D mit Holland, Lettland und Tschechien, das klingt nach lösbarer Aufgabe. Wir steigen mit dem Schlagerspiel gegen Holland ins Turnier ein, gehen durch einen Freistoß von Torsten Frings in Führung und kassieren erst knapp vor Schluss den Ausgleich durch ein blödes Tor von Ruud van Nistelrooy.

Ich habe meine Position gut im Griff. Das ist im Moment alles, worum es mir geht. Wenn du zwanzig Jahre alt bist, kannst du nicht die ganze Mannschaft im Blick haben, sondern musst vor allem auf dich selbst schauen.

Man kann es auch anders formulieren: ich bin noch nicht in der Situation, Verantwortung für die ganze Mannschaft zu übernehmen. Ich trage schon individuell Verantwortung genug. Für mich ist es in Portugal das höchste der Gefühle, eine anständige Partie abzuliefern und keine groben Fehler zu machen.

Im zweiten Spiel treffen wir auf Lettland und spielen 0:0. Die Mannschaft scheitert an den eigenen Schwächen. Sie ist spielerisch nicht stark genug, um einen defensiven Gegner aushebeln zu können. Das letzte Gruppenspiel gegen Tschechien wird für uns zum Entscheidungsspiel, ob wir das Viertelfinale erreichen oder nach Hause fahren.

Wir verlieren gegen Tschechien 1:2, obwohl wir durch Michael Ballack in Führung gegangen sind. Die EM ist für uns vorbei, bevor sie richtig angefangen hat.

Nach dem Schlusspfiff kommt Rudi Völler von der Betreuerbank aufs Feld, klopft mir auf die Schulter und sagt: »Sehr gut gespielt, Philipp.« Damit ist mein Dilemma perfekt beschrieben. Meine Leistungen waren anständig bis gut, und eigentlich dürfte ich durchaus mit mir zufrieden sein. Aber wie soll ich zufrieden sein, wenn wir, die große Fußballnation, die Deutsche Fußballnationalmannschaft, in der Vorrunde einer EM scheitern? Wenn wir ein Turnier ohne einen einzigen Sieg abliefern?

Bestimmt bin ich als junger Spieler noch nicht der, mit dem dieser Misserfolg persönlich identifiziert wird. Aber ich bin Teil der Mannschaft, die aus dem Turnier geflogen ist. Die Mannschaft ist ein anspruchsvolles Gefüge, alle Spieler tragen ihren Teil zu Sieg oder Niederlage bei. Bei diesem Turnier hat sich die Mannschaft noch einmal zu sehr auf die Impulse Einzelner verlassen, auf die Autorität des Trainers und die Arbeit der sogenannten Führungsspieler, die nun auch in der öffentlichen Kritik stehen, aber mit dem Scheitern der Mannschaft steht auch das Prinzip, einzelnen, starken Figuren die Verantwortung für das ganze Team aufzubürden, vor dem Ende. Es zeichnet sich ab, dass ein neues Denken, ein Bekenntnis zur kollektiven Verantwortung, zu flacheren Hierarchien nötig sein wird, um im modernen Fußball erfolgreich zu sein.

Nach dem Tschechien-Spiel fahren wir gemeinsam zurück ins Hotel. Noch am selben Abend trommelt Rudi Völler die Mannschaft zusammen und teilt ihr mit, dass er zurücktreten wird.

Ich erinnere mich an die fatalistische Stimmung in der Hotelhalle. Mehrere Spieler sprechen davon, dass auch sie ihre Karriere in der Nationalmannschaft beenden werden. Die Mannschaft steht vor einem Umbruch. Ein neuer Trainer wird kommen, und eine neue Generation von Spielern wird in den Ring steigen müssen.

Als am nächsten Morgen der allgemeine Aufbruch stattfindet, kommt Oliver Kahn zu mir, der Titan. Er war bester Spieler der WM 2002 in Japan und Südkorea, wo er die Mannschaft fast im Alleingang bis ins Finale geboxt hat, eine Legende. Obwohl ich jetzt schon ein paar Spiele gemeinsam mit ihm gemacht habe, kenne ich ihn noch immer nicht näher. Wo er ist, ist das Zentrum, und mein Platz ist an der Peripherie.

Ich stehe in den Sommerklamotten da, ohne gepackte Koffer, weil ich noch eine Woche Urlaub in Portugal anhänge. Oliver Kahn legt seine Hand auf meine Schulter, und als ich zusammenzucke, weil ich nicht weiß, was er vorhat, sagt er bloß: »An dir lag’s nicht.«

Dann nickt er mir noch mal zu, schnappt sich seine Koffer und macht sich auf den Weg zum Bus, der die Abreisenden zum Flughafen bringt.

Es ist ja nicht so, dass Oliver Kahn oft Komplimente macht. Aber ich glaube, ich habe gerade erlebt, wie Oliver Kahns Komplimente sich anhören.

Es klingt vielleicht merkwürdig, aber dieser einzelne, knappe Satz aus dem Mund des Mannschaftskapitäns ist mir mehr wert als all die Artikel in den Zeitungen, wo Michael Ballack und ich zu den »heimlichen Gewinnern dieser EM« hochgeschrieben werden. Ich kann mit diesem Lob nichts anfangen: Gewinner einer Mannschaft, die gerade verloren hat. Da ist Oliver Kahns Feststellung doch deutlich präziser, und sie hat sicher mehr Wert für einen jungen Spieler nach seinem ersten Turnier.

Der Nachfolger von Rudi Völler ist Jürgen Klinsmann. Klinsmann übernimmt die Nationalmannschaft, nachdem einen Monat lang alle möglichen Kandidaten gehandelt werden, unter anderem Arsenal-Trainer Arsène Wenger, der dänische Coach Morten Olsen oder Guus Hiddink, aber auch Ottmar Hitzfeld oder Otto Rehhagel, der mit Griechenland in Portugal Europameister geworden ist.

Ich habe Klinsmann als Spieler gekannt, aber ich bin ihm nie begegnet, höchstens einmal als Balljunge. Er ist nach einer sehr erfolgreichen Karriere als Stürmer nach Amerika gegangen und hat dort im Sportmanagement gearbeitet. Das lässt sich nicht verleugnen, als er sich mit dem Team, das er zusammengestellt hat, der Mannschaft präsentiert.

Klinsmann bringt als Manager Oliver Bierhoff und als Co-Trainer Jogi Löw mit. Er kündigt an, dass er die Strukturen der Nationalmannschaft von Grund auf erneuern und nebenbei auch den DFB reformieren will. Er hat auch ein paar Schlagworte im Programm, die super klingen. »Powerfußball« soll die Mannschaft in Zukunft spielen, die Spielweise soll offensiver als bisher sein, schnell und nach vorne, fast & furious.

Ich bin ein bisschen skeptisch. Ich glaube, das ist normal. Immer wenn was Neues auf einen zukommt, ist man ein bisschen skeptisch. Ein neuer Trainer stellt erst mal immer die Verhältnisse auf den Kopf.

Neuer Trainer, neue Vorlieben, neuer Druck. Jeder Trainer muss zuerst mal deine Qualität erkennen und dich aufstellen, und du musst im richtigen Moment deine Leistung bringen, sonst bist du wieder raus – das geht ganz schnell. Wenn du das erste Spiel gut spielst und das zweite schlecht, stehst du beim dritten schon wieder unter Druck. Du musst also konstant Leistung bringen. Du darfst dich nicht verletzen, nicht zum falschen Zeitpunkt krank werden. Das alles spielt eine Rolle, bis du endlich Stammspieler bist.

Ich denke, dass meine Chancen gut sind, auch beim neuen Bundestrainer. Ich habe sowohl in der Bundesliga als auch in der Nationalmannschaft gut gespielt. Aber hat Klinsmann nicht gesagt, er wird die Mannschaft von Grund auf erneuern, den ganzen DFB reformieren? Vielleicht spielt er ohne Außenverteidiger, wer weiß.

Aber als Jürgen Klinsmann im August 2004 seinen Kader für das Länderspiel gegen Österreich bekannt gibt, bin ich genauso dabei wie eine ganze Riege von jungen Spielern. Basti Schweinsteiger steht im Kader, Lukas Podolski, Andreas Hinkel, Kevin Kurányi. Und von der ersten Minute an, nachdem der neue Bundestrainer seinen Tarif durchgegeben hat, weht ein anderer Wind als zuvor. Klinsmann bringt aus Amerika Fitnesstrainer mit, er trennt sich von Personal, das seit vielen Jahren zum Inventar der Nationalmannschaft gehörte. Er ernennt Michael Ballack anstelle von Oliver Kahn zum Kapitän. Klinsmann begründet das damit, dass er keinen Torhüter als Kapitän haben möchte.

Alles, was im Training angefasst wird, hat plötzlich Hand und Fuß. Das gesamte Trainerteam weiß, was es will. Wir wärmen uns konzentriert mit entsprechenden »Exercises« auf, dann folgen Schnellkraftübungen. Die Bilder, auf denen wir mit Gummibändern die Muskulatur trainieren, kursieren in allen Medien und werden zu Symbolen für den Epochensprung, den die Ankunft von Jürgen Klinsmann bedeutet.

Einmal pro Jahr führt Klinsmanns Team Fitnesstests durch. Dabei werden Ausdauer, Schnelligkeit, Beweglichkeit und Kraft jedes einzelnen Spielers gecheckt – unvergessen, als der eine oder andere sich damit abmühen muss, auch nur einen einzigen Klimmzug zustande zu bringen.

Klinsmann und sein Team sammeln wie wild Daten, sie untermauern jede Übung mit sportwissenschaftlichen Fakten und Recherchen der teameigenen Analyseabteilung. Kommunikation wird ganz groß geschrieben. Klinsmann selbst spricht permanent mit allen Spielern. Jedes Gespräch zielt auf Motivation. Motivation ist Klinsmanns großes Thema. Er selbst versprüht tonnenweise Leidenschaft, und er versucht, diese Leidenschaft an uns weiterzugeben und sie zu kanalisieren. Schnelles Spiel, schönes Spiel, offensives Spiel, erfolgreiches Spiel. Das ist das neue Mantra der Deutschen Nationalmannschaft.

Jogi Löw erweist sich schon bei den ersten Trainingseinheiten als gewiefter Taktiker. Es ist interessant, was er über jede einzelne Position zu sagen weiß, vor allem für einen Spieler, dem bisher kein Trainer Anregungen gegeben hat, wie er die Position des linken Verteidigers vielleicht interpretieren könnte. Wir schauen uns Spielszenen auf Video an. Vor allem die Bilder eigener Aktionen und Fehler finde ich enorm aufschlussreich und wertvoll.

Wir Defensivspieler trainieren vor allem mit Löw. Klinsmann, der selbst Stürmer war, kümmert sich vor allem um die Offensive. Auf dem Programm stehen Spielzüge, die mit dem Torabstoß beginnen und möglichst rasch vor das gegnerische Tor führen.

Aber auch das Gefühl jedes Einzelnen für die Mannschaft wird geschärft. Zum Beispiel trainieren wir das Spiel elf gegen null. Der Gegner besteht nur aus mannsgroßen, farbigen Schablonen, die auf dem Feld aufgestellt werden. Die Spieler müssen dann durch die Formationen des Gegners durchpassen, das Mittelfeld überwinden, nach außen spielen, flanken, ein Tor erzielen.

Auch defensiv wird diese Methode angewandt. Sie soll der Mannschaft vor allem vor Augen führen, wie jede Position mit jeder anderen zusammenhängt. Die Mannschaft stellt sich in Position, der Trainer ruft: »Der Ball ist bei dem gelben Mann«, und die Mannschaft muss sich entsprechend verschieben, muss sich so positionieren, dass der gelbe Mann keinen Anspielpartner hat – bis zum nächsten Kommando.

Auch das Spiel, mit dem jedes Training beendet wird, wird meistens noch mit Zusatzaufgaben versehen – maximal zwei Ballkontakte, jeder zweite Pass muss nach vorne gespielt werden, oder Ähnliches. Plötzlich ist das Training mit der Nationalmannschaft enorm anspruchsvoll, vielseitig und unterhaltsam.

Oliver Bierhoff, ein BWL-Absolvent, der selbst Torschützenkönig in der Serie A gewesen war, schafft mit genauem Gefühl für die Bedürfnisse von Profis ein Umfeld in der Nationalmannschaft, das nach den dürren Verhältnissen davor wie ein modernes Schlaraffenland wirkt. Plötzlich ist dafür gesorgt, dass alle Nationalspieler die Möglichkeit haben, etwas anderes zu tun, als nach dem Training auf ihr Zimmer zu verschwinden und Computer zu spielen.

Außerdem formuliert der Trainerstab schon beim ersten Treffen mit den Spielern sein ehrgeiziges Ziel: »Wir wollen«, sagt Klinsmann in seinem im Kern amerikanisch gefärbten Schwäbisch, »bei der WM im eigenen Land Weltmeister werden.«

Vielleicht glauben zu diesem Zeitpunkt noch nicht alle Nationalspieler daran, dass es mit diesem Ziel tatsächlich etwas auf sich haben könnte. Aber jeder hört die Botschaft, die Jürgen Klinsmann in die Welt setzen möchte: Hier werden keine kleinen Brötchen gebacken.

Da wir als Gastgeber der WM automatisch spielberechtigt sind, müssen wir keine Qualifikationsspiele austragen. Stattdessen testen wir viel, Klinsmann will alle möglichen Kandidaten für seine WM-Mannschaft ausprobieren und der Mannschaft um die Leitwölfe Ballack, Kahn, Lehmann, Frings, Schneider in den kommenden zwei Jahren einen neuen Stamm verpassen.

Wir gewinnen gegen Österreich, spielen unentschieden gegen Brasilien, gewinnen gegen den Iran und gehen kurz vor der Winterpause auf eine Asientournee. Ich erinnere mich an Südkorea, wo wir bei knapp über null Grad 1:3 verlieren, und an das nächste Spiel in Thailand, das wir zwei Tage später bei 35 Grad im Schatten 5:1 gewinnen.

Als wir von Bangkok zurück nach Frankfurt fliegen, um zu Hause Weihnachten zu feiern, denke ich mir, dass ich gar kein Geschenk haben will, weil das Jahr 2004 für mich schon ein einziges Geschenk war. Da kann ich noch nicht ahnen, dass ich 2005 kein einziges Länderspiel bestreiten werde.

Der feine Unterschied

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