Читать книгу Wölfe - Philipp Probst - Страница 9

4

Оглавление

Er hiess Lasse Svensson, war Selmas Kontaktperson in Engelberg und sah gut aus. Das registrierte das fotografische Auge der Reporterin sofort. Lasse hatte halblange, leicht gewellte, blonde Haare, blaue Augen, gebräunter Teint. Er hatte einen kräftigen Händedruck und ebenso kräftige Arme, auf denen sich die Adern deutlich abzeichneten. Dass Lasse nicht mehr ganz jung war, erkannte Selma daran, dass sich der Haaransatz ziemlich weit oben befand und sich auf der Schädeldecke die Haarreihen bereits gelichtet hatten. Auch die Falten am Hals und im Gesicht wurden nur noch rudimentär durch den blonden Dreitagebart verdeckt. All das schmälerte Lasses Attraktivität keineswegs. Nicht nur Selmas fotografisches Auge war von der Erscheinung angetan.

Lasse Svensson war Schwede und so etwas wie der Manager und Vermarkter der Engelberger Freerider, einer Gruppe tollkühner, junger Skifahrerinnen und Skifahrer aus der Schweiz, Schweden, Kanada, USA und Australien. Auch ein junger Russe gehörte dazu. Die rund 25 Frauen und Männer gehörten zu jenem Kreis von internationalen Snowboardern und Skifahrern, die immer auf der Suche nach dem besten Powder waren – dem besten Pulverschnee – und der steilsten und gefährlichsten Berghänge dieser Welt. Da der Innerschweizer Tourismusort Engelberg dies bieten kann, über eine perfekte Infrastruktur verfügt und nur anderthalb Stunden vom Zürcher Flughafen entfernt liegt, war er in den letzten Jahren ein internationaler Hotspot dieser verrückten Szene geworden.

«Geschneit hat es, das Wetter ist gut, und nun bist auch du da», sagte Lasse in gutem Deutsch. Sein leicht schwedischer Akzent war äusserst sympathisch. «Morgen kann es losgehen.»

«Dazu hätte ich noch einige …»

«Später, jetzt trinken wir erst mal etwas, okay? Weisst du, wir nehmen hier alles ein bisschen easy.» Lasse lächelte und begab sich hinter die Theke der Hell-Bar – der Höllen-Bar – im Powder-Inn, in dem Selma ein Zimmer gebucht hatte. Das Powder-Inn war ein alter Hotelkasten. Er lag nur wenige Schritte hinter dem Engelberger Bahnhof und war liebevoll renoviert und ausgestattet worden. An den Wänden der Hell-Bar hingen alte Skis und viele Plakate und Fotos. Die Plakate warben für die Olympischen Winterspiele der letzten Jahrzehnte auf den verschiedenen Kontinenten dieser Welt. Die Fotos zeigten Skirennfahrer und Skispringer aus ebenfalls längst vergangener Zeit. Dazwischen hingen Masken und Figuren kleiner Teufel und Hexen. Die Höllen-Bar stand eindeutig für Höllenritte im alpinen Schneesport. Und das Hotel Powder-Inn war das Zentrum der Engelberger Freeriderszene.

Selma war über Lasses Ausdrucksweise irritiert. «Alles easy» war nicht ihre Sache, war es niemals gewesen und würde es auch niemals sein. Der so attraktive Lasse hatte bereits einen ersten Kratzer erhalten.

Den zweiten fügte er wenige Minuten später hinzu: Statt Kaffee oder Tee oder Wasser zu trinken, schenkte sich Lasse ein Bier aus dem Zapfhahn ein. Dabei war es erst kurz nach halb elf Uhr morgens.

«Cheers», sagte Lasse. «Oder: Skål! Du bist doch Schwedin, oder? Jonas hat sowas gesagt.»

«Jonas sagt viel, wenn der Tag lang ist», meinte Selma und hob ihr Latte-Macchiato-Glas: «Skål!» Sie nahm einen Schluck, leckte sich mit der Zunge den Milchschaum von den Lippen und löffelte den Rest aus dem Glas. Plötzlich bemerkte sie, wie Lasse sie beobachtete und anlächelte.

Selma lächelte verlegen zurück, versuchte aber mit der Hand ihr Grübchen in der rechten Wange zu verdecken. Ihr Grübchen, das sie einfach nicht mochte.

«Jonas sagt zudem», meinte Lasse, «dass du die Beste für diesen Job bist.»

«Wie bereits erwähnt: Jonas sagt viel. Leider hat er mir vergessen zu sagen, dass es diesen Job überhaupt gibt. Ich habe erst gestern davon erfahren.»

«Oh. Wir wissen seit drei Monaten, dass du kommen wirst.»

«Entweder wird Jonas alt. Oder er …», Selma deutete auf Lasses Bierglas, «… er trinkt zu viel.»

Lasse lachte, ergriff sein Glas und schüttete das Bier in den Ausguss. «Besser so?»

Punkt für ihn, dachte Selma. Und: Ja, er ist süss, charmant, gutaussehend. Aber nicht mein Typ. Er flirtet viel zu offensiv. Und er hat überhaupt nichts vom zurückhaltenden, typischen Schweden.

Sie fuhr sich mit den Händen durch ihre Haare und sagte betont sachlich: «Die Reportage über euch soll im Bordmagazin der Scandinavien Airlines erscheinen. Das wisst ihr?»

«Klar. Jonas hat gesagt, die Story über die verrückten Freerider in Engelberg soll sogar auf die Titelseite.»

«Ja, ja, Jonas …»

«… sagt viel, wenn der Tag lang ist», ergänzte Lasse und lachte. Auch Selma musste lachen.

Zwei Stunden später fuhren sie mit der grossen Seilbahn auf den Titlis, zusammen mit vielen Touristen aus Indien und anderen asiatischen Ländern. Obwohl das Wetter ziemlich trüb war, liessen sich die Touristen ihre Stimmung nicht vermiesen. Sie genossen den Ausblick aus der sich langsam drehenden Kabine der Titlis-Rotair, fotografierten den Gletscher, zogen die Reissverschlüsse ihrer Daunenjacken bis zum Hals hinauf und drückten ihre Mützen tief ins Gesicht.

Auf dem Gipfel stürmte es. Und es war minus zehn Grad kalt. Kleine Eiskristalle wurden in der Luft herumgewirbelt. Selma zurrte die Kapuze ihrer Skijacke zu und schaute belustigt den ausländischen Gästen zu, wie sie in ihren Sneakers durch den Schnee stapften und immer wieder ausrutschten. Mit ihrer kleinen Kamera schoss Selma einige Bilder.

Lasse redete fast ununterbrochen und zeigte mit den Händen in diese und jene Richtung. Selma konnte ihn kaum verstehen, weil der Wind so laut war. Lasse erklärte ihr wohl, wo und wie morgen das Fotoshooting stattfinden sollte und wo die Freerider in den Hang einsteigen würden.

Schliesslich gingen Selma und Lasse wie die Touristen über die Hängebrücke und durch die Gletschergrotte wieder zurück zur Titlis-Bergstation. Im Restaurant roch es nach Curry und Koriander. Neben dem asiatischen Buffet stand eine Kaffeemaschine. Selma und Lasse liessen sich zwei Latte Macchiato von der Maschine zubereiten und setzten sich an einen Tisch. Lasse zog eine Karte der Schweizer Landestopografie hervor, zeigte Selma die genaue Route und markierte mit kleinen Kreuzen die besten Standorte für die Aufnahmen.

«Wir machen das nicht zum ersten Mal», erklärte er Selma. «Ich werde dich zu all diesen Punkten führen, damit du dich ganz aufs Fotografieren und Filmen konzentrieren kannst. Wir machen auch einen Clip, oder?»

«Ja. Deshalb brauche ich einfach Zeit und verschiedene Standorte. Und das Wetter muss mitspielen.»

«In der Nacht sollte es wieder schneien und frischen Powder geben. Am Tag soll dann die Sonne scheinen. Wir werden fantastische Bedingungen haben. Ein bisschen Sorge …» Lasse zögerte.

«Sorge?»

«Na ja, es soll wieder wärmer werden.»

«Darüber wäre ich nicht unglücklich.»

«Wärme ist für einen Gletscher immer schlecht. Und ebenso für Freerider und Bergsteiger, die sich darauf bewegen. Aber wir passen auf. Zudem sind wir alle bestens ausgerüstet. Für dich haben wir auch geeignetes Material.»

«Gut. Aber ich bin keine Freeriderin. Ich fahre nicht über den Gletscher.»

«Öhm», Lasse stockte kurz, «das wird sich leider nicht vermeiden lassen, Selma. Du seist eine ganz hervorragende Skifahrerin, sagt …»

Selma sprang auf und wählte auf ihrem Handy die Nummer von Jonas Haberer. Während die Verbindung aufgebaut wurde und es schliesslich klingelte, murmelte Selma aufgebracht: «Ein paar Porträts machen, dass ich nicht lache, Habilein!»

Jonas Haberer nahm den Anruf nicht entgegen.

Wölfe

Подняться наверх