Читать книгу Grundkurs Theorien der Sozialen Arbeit - Philipp Sandermann - Страница 8

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1 Was sind Theorien der Sozialen Arbeit?


Das Ziel dieses Kapitels ist es zu klären, was Theorien der Sozialen Arbeit sind. Dafür ist es zunächst wichtig zu verdeutlichen, inwieweit Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit logisch eng miteinander zusammenhängen. Im ersten Unterkapitel 1.1 werden wir der Ausgangsthese folgen, dass sich Theorien immer auf etwas beziehen, was sie als „real“ ansehen. Umgekehrt gilt damit zugleich, dass die Beschäftigung mit Theorie immer auch eine Auseinandersetzung darüber einschließt, worauf sich Theorie bezieht. Im Falle der Sozialen Arbeit ist dieser Bezugspunkt üblicherweise „die Praxis“. Welchen Auftrag Theorien genau haben, darüber gibt es allerdings – gerade in den Sozial- und Geisteswissenschaften – nicht nur Konsens, sondern auch entscheidende Kontroversen und Differenzen. Dies gilt auch im Bereich von Theorien, welche das Ziel haben, Wissen über die Soziale Arbeit zu generieren. Strittig ist dabei vor allem, was als „wertvolles“ Theoriewissen zur Sozialen Arbeit anzusehen ist. Eine entscheidende Dissenslinie verläuft z. B. zwischen Positionen, die Theorien in der Pflicht sehen, normatives Handlungswissen bereitzustellen, und Positionen, die diese Möglichkeit bestreiten oder sie zumindest der Aufgabe von Theorien unterordnen, reflexives, analytisches Wissen zu produzieren. Weitgehende Einigkeit besteht jedoch darin, dass sich theoretische Erkenntnisse über die Praxis, die durch Theorien der Sozialen Arbeit generiert werden, nicht einfach „in die Praxis“ übertragen oder für eine Veränderung von Praxis „benutzen“ lassen. Warum das so ist, werden wir in Kapitel 1.2 erläutern. In Kapitel 1.3 werden wir noch einmal zusammenfassen, warum es wertvoll ist, sich innerhalb des Studiums mit Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit zu beschäftigen – zumal man sich reflektierterweise gar nicht für nur eines von beidem entscheiden kann. Abschließend werden wir noch einmal verdeutlichen, welchen theoretischen Blick dieses Buch auf Theorien der Sozialen Arbeit richtet.

1.1 Zum konstitutiven Zusammenhang von Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit


Theorie interessiert mich nicht, denn ich will ja in die Praxis!“ Diesen Satz hört man von Studierenden der Sozialen Arbeit immer wieder. Nachfolgend verdeutlichen wir, warum es Sinn macht, diesem Satz mit äußerstem Misstrauen zu begegnen.

Aus dem Alltagsverständnis, dass es sich bei Theorie und Praxis um zwei unterschiedliche Dinge handelt, wird gelegentlich geschlussfolgert, dass Theorie und Praxis eigentlich nichts oder jedenfalls nicht unmittelbar etwas miteinander zu tun haben (können). Wir werden im Folgenden zeigen, dass sich zwar die erste Annahme („Theorie und Praxis sind etwas Unterschiedliches“) durchaus gut begründen lässt. Das heißt jedoch gerade nicht, dass Theorie und Praxis zwei völlig unterschiedliche oder gar unvereinbare Sachverhalte sind.

Aber der Reihe nach: Zunächst einmal macht es tatsächlich einen Unterschied, ob man über Theorie spricht oder über Praxis. Auch deswegen gibt es z.B. unterschiedliche Bände innerhalb der vorliegenden Reihe „Soziale Arbeit studieren“, von denen nur einer explizit das Thema „Theorien der Sozialen Arbeit“ behandelt. Man kann also durchaus davon ausgehen, dass sich die Unterscheidung von Theorie und Praxis in der Sozialen Arbeit eingebürgert hat und ihr damit auch eine gewisse Sinnhaftigkeit zukommt.

Diese Sinnhaftigkeit ist bereits daran zu erkennen, dass wohl kaum jemand spontan bestreiten würde, dass beides zu existieren scheint: Es gibt einerseits „Theorie der Sozialen Arbeit“ und andererseits „Praxis der Sozialen Arbeit“, sonst würde man nicht ständig über beides sprechen. Die Aussage, dass es Praxis der Sozialen Arbeit gibt, ist jedoch keineswegs so selbstverständlich, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Sie hat bereits mit einer Besonderheit zu tun, auf die wir im Verlauf dieses Buches verschiedentlich zu sprechen kommen werden.

Um ein erstes Verständnis für diese Besonderheit zu entwickeln, kann ein Blick auf andere Fachdisziplinen hilfreich sein. Hierzu ein Gedankenexperiment:


Stellen Sie sich vor, Sie studierten ein anderes Fach als „Soziale Arbeit“, z.B. Philosophie, Soziologie oder auch Physik. Was eine „Praxis der Philosophie“ sein könnte, leuchtet Ihnen vielleicht noch relativ spontan ein. Wie sieht es aber mit Ihren spontanen Assoziationen zu so etwas wie einer „Praxis der Soziologie“ oder einer „Praxis der Physik“ aus? Eine Vorstellung davon ist zwar keineswegs unmöglich. Sich ein konkretes Bild davon zu machen, erscheint aber auf den ersten Blick voraussetzungsreicher zu sein als eine Vorstellung von der „Praxis der Sozialen Arbeit“. Eine solche Vorstellung wird jede/r Leserin dieses Bandes spontan entwickeln können – wenngleich sie sich, wie wir später zeigen werden, auf den zweiten Blick nicht notwendigerweise als tragfähig herausstellen muss. Trotzdem gehen die meisten Menschen davon aus: „Natürlich, eine Praxis der Sozialen Arbeit, das gibt es!“ Aber eine Praxis der Physik?

Während es in der Physik meist schwerer fällt, ein spontanes Bild von Praxis zu entwerfen, ist es hier im Umkehrschluss leichter, sich vorzustellen, was Physik mit Theorie(n) zu tun hat. Ähnlich könnte es im Fall der oben angesprochenen Disziplinen Soziologie und Philosophie, aber auch vielleicht bei der Literaturwissenschaft oder der Mathematik sein.

Wir bleiben der Anschaulichkeit halber noch für einen Moment beim Beispiel der Physik. Eine physikalische Theorie wäre bspw. die Gravitationstheorie der klassischen Physik. Diese erklärt logisch überzeugend, warum der Bleistift, den Sie im Vorlesungsraum fallen lassen, auf dem Boden landet und nicht an die Decke fliegt. Weil dies theoretisch schlüssig ist, muss man diesen Vorgang auch nicht stetig in Experimenten wiederholen, um weiterhin daran glauben zu können, dass es sich hierbei um ein Gesetz handelt. Die Theorie ist stattdessen in der Lage, jeden einzelnen neuen Vorgang dieser Art im Lichte einer generellen Regel darzustellen. Die Regel lässt sich sogar in der Sprache der Mathematik reformulieren. Gerade ihre hohe Erklärungskraft bei gleichzeitiger mathematischer Klarheit haben Theorien der klassischen Physik über lange Zeit hinweg so überzeugend gemacht, dass man sie als Vorbild für alle anderen Wissenschaften angesehen hat. Entscheidend ist hier aber noch etwas Anderes: Bevor die Gravitationstheorie irgendetwas erklärt, hält sie zunächst einmal eine Beobachtung fest. Sie beschreibt konkrete Phänomene in einem bestimmten Zusammenhang (hier: ein Bleistift fällt auf den Boden), findet Parallelen zu anderen konkreten Phänomenen in einem für sie ähnlich wirkenden Zusammenhang und richtet damit einen Blick auf die Welt, der es ihr erst ermöglicht, eine generelle Regel (man könnte auch sagen: ein Muster) zu bestimmen. Erst nachfolgend geht es dann darum, diese Regel logisch widerspruchsfrei mit Erklärungen zu verbinden. Am Beispiel gesprochen: Es wird zunächst die generalisierte Beobachtung festgehalten, dass alle Dinge auf dem Planeten Erde, die schwerer als die sie umgebende Luft, aber ausschließlich von Luft umgeben sind, auf den Boden fallen, wenn sie nicht daran gehindert werden. Erst danach geht es ans Erklären und Schlussfolgern.

Vergegenwärtigt man sich diesen Erkenntnisprozess, so wird deutlich, dass die erwähnte Gravitationstheorie durchaus auch etwas mit „Praxis“ und lebenspraktischen Erfahrungen zu tun hat. Denn die Gravitationstheorie wird erst greifbar, wenn man sie auf konkrete, „praktische“ Phänomene bezieht (hier die „praktische“ Situation mit Ihrem Bleistift im Vorlesungssaal).

Im Umkehrschluss hat die Theorie damit auch einen unmittelbar praktischen Wert. Sie erleichtert es Ihnen, das Phänomen des nach unten fallenden Bleistifts einzuordnen und hierauf bezogen ein hohes Maß an Erwartungssicherheit aufzubauen, welches über Ihre reine Erfahrung mit ständig nach unten fallenden Gegenständen hinausgeht. Weder der nach unten fallende Bleistift noch der nach oben steigende Helium-Luftballon, der Ihnen aus der Hand gleitet, wird Sie dann noch überraschen. Auf eine prägnante Formel gebracht könnte man also sagen: Gute Theorie hilft Ihnen dabei, Ihr Leben erwartungssicherer zu machen.

Aus diesem von der Physik entlehnten Beispiel lässt sich nun etwas Allgemeines zum konstitutiven Verhältnis von Theorie und Praxis festhalten: Theorie fängt nicht bei der Erklärung eines Phänomens oder gar bei Vorschlägen zu seiner Veränderung an, sondern bereits im Moment der Beschreibung. Theorie ist damit nichts, das nur irgendwo fernab der praktischen Welt eine Rolle spielt. Im Gegenteil: Jede Theorie braucht einen Gegenstand, auf den sie sich bezieht, um sich überhaupt als Theorie „in Stellung bringen“ zu können. Ein solcher Gegenstand muss nicht unbedingt ein greifbares und alltäglich vertrautes Phänomen sein. Vielmehr kann dieser Gegenstand auch etwas sehr Abstraktes oder zumindest schwer Beobachtbares sein, denkt man etwa an Gegenstände wie „Gesellschaft“, „Hirnströme“, „Gravitationswellen“, „Ozonloch“ oder „Familie“. Aber eine Theorie kann nicht einfach eine Theorie sein, sondern immer nur eine Theorie von etwas.

Das heißt im Umkehrschluss aber zugleich, dass auch für jede Beschreibung eines „praktischen“ Phänomens Theorie nötig ist. Dies gilt auch und gerade dann, wenn man nichts weiter im Sinn hat als „einfach nur über die Praxis zu sprechen“, man also gerade nicht über Theorie nachdenken will. Das Paradoxe in diesem Moment ist: Gerade hier nutzt man permanent Theorie(n)!

Wir hoffen, man erkennt spätestens an dieser Stelle, wie lohnend die Reflexion von Theorie(n) für Studierende und Fachkräfte der Sozialen Arbeit ist. Denn erst, indem man bei der Beschreibung einer (praktischen) Situation zugleich auf ein (theoretisches) Bild dessen, womit man es zu tun hat, zurückgreift, kann man überhaupt etwas über diese Situation sagen. Damit beginnt man – geradezu zwangsläufig und unabhängig davon, ob man es will oder nicht – in jedem Moment, in dem man „über Praxis redet“, zugleich auch, Theorie zu (re)produzieren.

Der amerikanische Philosoph und Logiker Charles Sanders Peirce hat diesen Zusammenhang von Theorie und jeglichem von der Theorie beschriebenen Gegenstand bereits Ende des 19. Jahrhunderts scharf analysiert und in diesem Zuge festgehalten, dass wir

„nicht den kleinsten Schritt […] in unserer Wissenserweiterung über das Stadium des leeren Starrens hinaus tun [können], ohne dabei bei jedem Schritt eine Abduktion zu vollziehen“ (Peirce 1901; dt. Übersetzung zit. nach Reichertz 1993, 266).

Was Peirce hier als „Abduktion“ bezeichnet, ist genau die notwendige Zusammenfügung einer einzelnen konkreten Sinneswahrnehmung, die man beschreiben will, mit einer generelleren Kategorie, durch die man beschreiben muss, sobald man irgendetwas beschreibt. Vereinfacht ausgedrückt: Um einen Baum zu beschreiben, muss man bei sich selbst und seinem Gegenüber zugleich auf eine allgemeine theoretische Vorstellung davon zurückgreifen, was ein Baum „eigentlich“ – also jenseits des konkreten Gebildes, auf das man da „starrt“ – ist.

Der von Peirce beschriebene Zusammenhang, dass man für alles, was man beschreiben möchte, zugleich notwendigerweise Theorie verwenden muss, dass also theoriefreie Aussagen überhaupt nicht möglich sind, gilt heutzutage weitgehend unbestritten in allen wissenschaftlichen Disziplinen. Die Annahme von der Theoriebeladenheit aller Beobachtung gehört zu den zentralen Einsichten der sog. „postpositivistischen“ – d.h. eine „Unmittelbarkeit der Dinge“ anzweifelnden – Wissenschaftstheorie, wie sie sich seit den 1930er Jahren sukzessive durchgesetzt hat (Feyerabend 1978, 40 ff.; Hanson 1969; Popper 1935).

Der Gegenstandsbereich Sozialer Arbeit bildet dabei keine Ausnahme. Insofern könnte man das oben skizzierte Beispiel mit dem Bleistift und der Rolle der Theorie darin ebenso auf alle möglichen Gedanken und Beobachtungen zur Praxis der Sozialen Arbeit übertragen.


Wenn man z. B. die Auffassung vertritt, dass es für den Aufbau einer sog. „helfenden Beziehung“ zu einer Klientin, die man in einer Beratungssituation adressieren will, wichtig ist, sich Zeit zu nehmen, eine ruhige Atmosphäre zu schaffen sowie konzentriert und zugewandt zu sein, so ist diese Auffassung nicht ganz so bedingungslos „praktisch“ wie sich das vielleicht zunächst anfühlt. Und zwar nicht nur deshalb, weil damit bereits tiefgreifende theoretische Vorstellungen von entscheidenden Kriterien eines „sozialpädagogischen Beziehungsaufbaus“ verbunden sind, sondern auch schon auf einer viel banaleren Ebene. Denn um z. B. überhaupt so etwas wie eine „ruhige Atmosphäre“ schaffen zu können, braucht man eine theoretische Vorstellung davon, was das sein könnte. Nur so kann man sich bei der Herstellung einer entsprechenden Situation zumindest grob orientieren. Man hat dann bspw. die konkrete Vorstellung im Kopf, dass es für die Herstellung von „ruhiger Atmosphäre“ förderlich ist, der AdressatInnen zunächst einen Tee oder Kaffee anzubieten, sie dabei „in Ruhe ankommen“ zu lassen und nicht direkt mit Fragen, Angeboten oder Problembeschreibungen, die einem in Bezug auf den „Fall“ wichtig erscheinen, zu konfrontieren. Die Aspekte des Kaffeeanbietens und Nicht-viel-Sprechens sind somit nicht einfach Tatsachen, sondern eben theoretische Vorstellungen einer „ruhigen Atmosphäre“, die eine Person zu ihren Zwecken nutzen will. Erst vor dem Hintergrund dieser Vorstellungen nimmt man die Tätigkeit des Kaffeetrinkens oder Zunächst-nichts-Sagens also im Moment des Geschehens als „ruhige Atmosphäre“ wahr.

Auf den zweiten Blick dürfte beim gerade genannten Beispiel aber auch ein Unterschied auffällig werden zwischen dem, worum es in der Physik, und dem, worum es in der Sozialen Arbeit geht. Dieser Unterschied zwischen der Sozialen Arbeit und anderen Wissenschaften, wie etwa der Physik, wird bereits anhand der unterschiedlichen Begriffe deutlich, die üblicherweise in Physik und Sozialer Arbeit benutzt werden. Dies gilt auch und gerade dort, wo es um die Rolle von Theorie(n) geht:

PhysikerInnen würden bei der o.g. Beispielsituation mit dem Bleistift im Vorlesungssaal normalerweise wohl eher von einem „empirischen“ als von einem „praktischen“ Beispiel sprechen.


Als empirisch bezeichnet man Formen wissenschaftlicher Erkenntnis, die auf der Grundlage methodisch kontrollierter Erfahrungen gewonnen wurden. Entscheidend ist also, dass diese Erkenntnisse auf einem äußeren Weltkontakt beruhen und den Status eines erfahrungsbezogenen Wissens haben, das wiederum von anderen Formen wissenschaftlichen Wissens abgegrenzt wird, welches allein der Gedankenwelt entspringt. Der Empirismus ist damit zugleich logisch mit bestimmten Axiomen (Definition in Kap. 5.2), also Vorannahmen verbunden, welche jedoch bewusst so konkret wie möglich gehalten werden, was zugleich wissenschaftshistorisch mit einer bestimmten Entstehungsepoche verbunden ist (Gawlick 2000). Dass empirische Erkenntnisse auf methodisch kontrollierte Erfahrungen aufbauen, bedeutet, dass es sich um Erkenntnisse und Informationen handelt, die z. B. auf der Grundlage von Experimenten, Beobachtungen oder Befragungen ermittelt worden sind. Gemeinhin wird dabei zwischen „quantitativen/quantifizierenden“ (also auf die Verteilung und Häufigkeit interessierender Phänomene fokussierten) und „qualitativen“ (also auch die Tiefenstruktur und Einzelfallrekonstruktion von Phänomenen gerichteten) Methoden empirischer Sozialforschung unterschieden, wobei heutzutage in Studien vermehrt auch methodische Mischformen oder Methodenkombinationen verwendet werden.

Die Physik ist als Wissenschaft grundsätzlich an allen möglichen Erfahrungen (also: empirisch über die Sinne vermittelten Eindrücken) interessiert, die sie zugleich mit einer bestimmten Art wissenschaftlicher Theorien begreifen kann. Ob im Zuge der in der Physik theoretisch relevant gemachten Erfahrungen jemand auch „praktisch arbeitet“, ist für PhysikerInnen nicht von primärem Interesse.

Anders sieht es in der Sozialen Arbeit aus. Wenn über Soziale Arbeit gesprochen wird, so bezieht man sich in der Regel auf Erfahrungen, die nicht nur empirisch über die Sinnestätigkeit irgendwie einfangbare Momente darstellen, sondern die zugleich auch regelmäßig als „Praxis“ bestimmter Akteure in den Blick genommen werden. Diese Momente werden – um einen in diesem Zusammenhang häufig zu findenden Ausdruck zu verwenden – dann oft auch direkt als „Praxiserfahrungen“ bezeichnet.

Dass dies so ist, könnte im Umkehrschluss auch für die Rolle relevant sein, welche Theorien in der Sozialen Arbeit zukommt. Von ihnen wird erwartet, irgendwie „praxisrelevant“ zu sein. An dieser Stelle ist es jedoch wichtig, noch einmal auf das zurückzukommen, was wir oben bereits erarbeitet haben: Für eine Vorstellung davon, was Praxis ist, braucht man Theorie. Jede Vorstellung von der „Praxisrelevanz“ einer Theorie bemisst sich damit logisch zwangsläufig ebenfalls an einer theoretischen Vor-Vorstellung davon, was diese „Praxis“, für welche die Theorie relevant sein soll, überhaupt ist.

Denn „Praxis“, oder konkreter: „Praxiserfahrungen“, sind – und hier ist es dann wieder nicht grundsätzlich anders als bei der Physik (!)– nur dann überhaupt als Praxiserfahrung wahrnehmbar, wenn man sie, bewusst oder unbewusst, in Zusammenhang mit Theorie bringt, die es ermöglicht ein Bild davon zu skizzieren, was denn Praxis eigentlich sein soll. Erst hierdurch wird es möglich, die konkrete Erfahrung überhaupt als „Praxiserfahrung“ zu begreifen, oder spezifischer: als „eine Erfahrung, die etwas mit der Praxis zu tun hat“.

Was man nun zusätzlich noch braucht, um von einer Praxiserfahrung sprechen zu können, die etwas mit „Sozialer Arbeit“ zu tun hat, ist – noch mehr Theorie. Es reicht nämlich nicht, eine ganz abstrakte Vorstellung davon zu haben, was Praxis im Allgemeinen ist. Man braucht darüber hinaus auch noch eine Vorstellung davon, was eigentlich „Soziale Arbeit“ ist, um eine dann konkretere Vorstellung von der „Praxis der Sozialen Arbeit“ zu entwickeln. Erst mit dieser wiederum theoretischen Vorstellung kann man dann in einer sinnvollen Art und Weise von Praxis Sozialer Arbeit sprechen.

Mit anderen Worten: Man braucht an jeder Stelle, an der man von einer „Praxiserfahrung“, die für die Soziale Arbeit relevant ist, spricht, an jeder Stelle also, an der von einer „Praxiserfahrung in der Sozialen Arbeit“ ausgegangen wird, sowohl eine theoretische Vorstellung von „Praxis“, als auch eine – bewusste oder unbewusste – „Theorie der Sozialen Arbeit“; ein generelles Bild davon also, was Soziale Arbeit – über die einem konkret begegnende Erfahrung hinaus – ist.

Erst im Zusammenspiel zwischen einer konkreten Wahrnehmung und einer theoretischen Idee davon, was „Praxis der Sozialen Arbeit“ sein könnte, kann es also gelingen, auch eine „Praxiserfahrung in der Sozialen Arbeit“ zu machen, die als solche verbalisierbar ist. Hierdurch erst hat man das zustande gebracht, was Peirce eine „Abduktion“ nennt, und kann damit anfangen, mehr als ein „leeres Starren“ auf die Welt zustande zu bringen.

Wie Theorie und Erfahrung bei der Benennung dessen, was „Praxiserfahrungen in der Sozialen Arbeit“ sind, zusammengebracht werden, unterscheidet sich im Einzelfall natürlich sehr. Denn grundsätzlich ist es möglich, in jedem einzelnen Moment einer Erfahrung wieder eine neue Theorie zur Beschreibung dieser Erfahrung heranzuziehen.Auch dies ist den meisten Menschen aus ihrem Alltag bekannt. Ein Beispiel:


Lernt man neue Freunde kennen, so hat man oft noch ein ziemlich anderes Bild von einem Menschen als im fortgeschrittenen Stadium der Freundschaft. Bezogen auf das Verhältnis von Theorie und Erfahrung heißt das, dass sich durch unterschiedliche Erfahrungen mit der befreundeten Person auch die eigene Theorie dazu, wer diese Person eigentlich ist, verändert. Konkret gesprochen verändern Menschen also ihre Theorie zur gegenüberstehenden Person allmählich und versuchen damit ihren (neuen) Erfahrungen gerecht zu werden, obwohl es doch vermeintlich stets um „dieselbe“ Person geht. Die gängige Rede vom „sich besser Kennenlernen“ kann dabei allerdings irreführend sein, denn sie verleitet zu der Annahme, dass man eine immer bessere Theorie zum Gegenüber entwickeln könnte, bis man diese Person schließlich „ganz und gar“ kennt – und zwar so, wie sie „eigentlich“ ist. Ein solch „kumulatives“ Verständnis von Wissensgenerierung durch Theorien gilt heutzutage als überholt (Bachelard 1978; Kuhn 1962). Eher dürfte es so sein, dass man durch den laufenden Abgleich zwischen Erfahrung und Theorie dazu neigt, verschiedene Theorien zum jeweiligen Gegenstand (in diesem Fall: der befreundeten Person) zu entwickeln, die man dann je nach Situation parat hat, um eine Handlung oder eine Äußerung des befreundeten Gegenübers sinnvoll zu interpretieren. Und das scheint durchaus sinnvoll zu sein, denn über je mehr verschiedene Theorien zu einer Person man verfügt, umso handlungsfähiger bleibt man im Umgang mit ihr, weil es mit höherer Wahrscheinlichkeit gelingt, Sinn in den Äußerungen und Handlungen des Anderen zu sehen. In paradoxer Weise wird man jedoch zugleich die Erfahrung machen, dass immer mehr verschiedene Bilder zu der befreundeten Person dazu führen, dass man immer weniger darüber weiß, wer dieser Mensch „eigentlich“ ist.

So kann man allgemein auch sagen, dass Wissenszuwachs immer zugleich auch zu mehr Unsicherheit in Bezug auf die Selbstverständlichkeit dieses Wissens führt (Weingart 2003). Das Gleiche gilt im Prinzip für die Soziale Arbeit und hier spezifisch für jedes Bild von „Praxis der Sozialen Arbeit“, das man sich machen kann. Auch hierzu wird man im Laufe des Studiums, während der Ableistung von Praktika, in der ehrenamtlichen, nebenberuflichen und hauptberuflichen Tätigkeit immer wieder einzelne Erfahrungen machen, die zunächst höchst unterschiedlich sind, aber in denen man (auf der Basis von Theorien und theoretischen Schlüssen) immer wieder Muster entdecken kann. Da sich jedoch die Erfahrungen, die man macht, immer wieder unterscheiden werden, wird es gewinnbringend sein, auch hierzu immer wieder unterschiedliche Theorien zu entwickeln, die sich durchaus auch gegenseitig widersprechen dürfen, solange sie jeweils in sich schlüssig aufgebaut sind und daher etwas begreiflich machen können. Je mehr solcher Theorien man kennenlernt, umso komplizierter wird es aber auch, begründet zu entscheiden, welche Theorie nun die „beste“, „überzeugendste“ oder gar „wahrste“ ist. Denn „in sich“ machen sehr viele Theorien Sinn.

Wenn man sich näher mit Theorien der Sozialen Arbeit beschäftigt, macht man daher bald die Erfahrung, dass viele von ihnen jeweils spezifisch verstehbar machen, was Praxis Sozialer Arbeit und was „gute Praxis“ Sozialer Arbeit sein könnte. Man bezeichnet diese Einsicht in die „Inkommensurabilität“ verschiedener Theorien in der Wissenschaftssoziologie auch als sog. Duhem-Quine-These, unter Bezugnahme auf ihre beiden Referenzautoren Pierre Duhem und Willard V.O. Quine (Weingart 2003, 58).


Mit Inkommensurabilität bezeichnet man die Unversöhnbarkeit zweier Aussagen(-systeme) bei gleichzeitiger Ebenbürtigkeit der getroffenen Aussagen in Hinsicht auf ein bestimmtes Kriterium, z. B. „Wissenschaftlichkeit“.

Diese widersprüchliche Vielfalt von in sich jeweils stringent erscheinenden Theorien begegnet einem logischerweise nicht nur dort, wo es um ausgewiesene „Theorien der Sozialen Arbeit“ geht, sondern auch in anderen Wissenschaftsbereichen, so etwa bei psychologischen, soziologischen, philosophischen, erziehungs- oder politikwissenschaftlichen Theorien. Überall macht man die Erfahrung, dass eine bestimmte Theorie in überzeugender Weise die Welt beschreibt, während eine andere Theorie in ebenso überzeugender Weise die Welt gänzlich anders beschreibt. Das anfangs oft irritierende Ergebnis dieser Beobachtung ist, dass man auf einmal nicht mehr eine, sondern zwei und mehr Welten vor sich sehen kann – wenngleich es unmöglich ist, in exakt demselben Moment mehrere dieser Welten zugleich zu sehen. Letzteres hängt mit der oben erwähnten Inkommensurabilität der Weltsichten zusammen, die durch unterschiedliche Theorien hervorgebracht werden.


Wenn man sich auf dieses Ergebnis einlässt, wird es nach und nach möglich, verschiedene „theoretische Brillen“, durch die man die Welt betrachten kann, aktiv auf- und auch wieder abzusetzen. Theorien werden dann als „Werkzeuge“ handhabbar – eben genauso, wie Brillen Werkzeuge sind.

Dass man je nach „Theorie-Brille“, die man benutzt, Unterschiedliches sehen kann, obwohl man damit auf den ersten Blick doch vermeintlich immer auf ein und dasselbe schaut, gilt für alle Aspekte im Studium der Sozialen Arbeit: z.B. für die Betrachtung von „Kindern“, „Jugendlichen“ oder „Menschen mit Beeinträchtigungen“ (also spezifische sog. „AdressatInnengruppen“ der Sozialen Arbeit), aber auch für die Betrachtung von „Professionalität“, für die Frage danach, was eigentlich eine „Fachkraft“ in der Sozialen Arbeit ausmacht oder was das Typische am Habitus von „SozialpädagogInnen“ ist.


Als Habitus bezeichnet man durch Sozialisation erworbene, vorbewusste „Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata“ (Bourdieu 1987, 101), die z. B. in Lebensstil, Geschmack, Kleidung oder Sprache einer Person zum Ausdruck kommen. Der Habitus hängt laut Bourdieu mit der sozialen Stellung in der Gesellschaft oder einem bestimmten sozialen Feld zusammen und bildet ein System von Dispositionen, das als Erzeugungsmodus menschlicher Praxisformen erklärbar sowie letztlich auch voraussehbar machen soll, warum Menschen in einer bestimmten Weise in ihrer sozialen Umwelt agieren

Und auch bei der Betrachtung von so unterschiedlichen, und auf den ersten Blick so angenehm eindeutig wirkenden Dingen wie „psychischen Störungen“, „sozialen Dienstleistungsorganisationen“ oder „rechtlichen Regelungen“ lässt sich feststellen: Letztlich entscheidet die „Theorie-Brille“, die man gerade aufgesetzt hat, darüber, was man darunter verstehen bzw. nicht verstehen kann. Zur nochmaligen Verdeutlichung dieses Umstands wählen wir ein Beispiel aus der auf Studierende oftmals klar und eindeutig wirkenden Nachbardisziplin der Psychologie.


Wenn es in der klinischen Psychologie bspw. um „psychische Störungen“ geht, so macht es nicht einfach „in der Sache“, sondern qua Theorie einen Unterschied, ob man dabei bspw. an eine „Angststörung“ oder an eine „Inkongruenz“ denkt. Denn diese beiden Label verbinden sich nicht notwendigerweise mit unterschiedlichen empirischen Phänomenen, sondern ergeben sich aus theoretisch inkommensurablen Theorieverständnissen. Das wird besonders deutlich, wenn man beide Zuschreibungen – „Angststörung“ und „Inkongruenz“ – einmal probehalber auf dasselbe empirische Phänomen bezieht. Nimmt man dafür eine Person an, die regelmäßig große Ängstlichkeit verspürt, so kann man bei dieser Person den – theoriegestützten! – Anfangsverdacht einer „Angststörung“ äußern. Dann geht man davon aus, dass die Ängstlichkeit der Person als ein erlerntes Verhaltensmuster zu begreifen ist, das in bestimmten Situationen (die man dann zunächst noch genauer einzugrenzen versucht) auftaucht, und das dann – bspw. durch Unterstützung von PsychotherapeutInnen – auch wieder verlernbar ist. Man könnte allerdings bei derselben Person mit demselben Gefühl von Ängstlichkeit auch zunächst eine „Inkongruenz“ feststellen, und damit – anders theoriegestützt! – davon ausgehen, dass hier ein dauerhafter Widerspruch zwischen der Art und Weise, wie die Person empfindet und der Art und Weise, wie die Person gerne empfinden würde, vorliegt, was dann wiederum zu einem subjektiven Gefühl von Ängstlichkeit führt. Auch als „Inkongruenz“ könnte diese Ängstlichkeit wiederum angegangen werden mithilfe von therapeutischen Unterstützungsmethoden und einer dahinterstehenden Theorie. Jedoch eben in anderer Weise und auf Grundlage der – theoriebasierten! – Annahme eines letztlich anderen Leidens. Das hängt vor allem mit unterschiedlichen Vorstellungen davon zusammen, wie Personen „funktionieren“. Es gibt also sehr unterschiedliche Behandlungs-, aber auch Persönlichkeitstheorien innerhalb der Psychologie, von denen hier nur einmal zwei, nämlich eine kognitiv-behaviourale und eine humanistischpersonzentrierte, angerissen wurden.

Ebenso wie es mehrere in sich schlüssige theoretische Vorstellungen „psychischer Störungen“ gibt, gibt es mehrere in sich schlüssige theoretische Vorstellungen davon, was als „Praxis der Sozialen Arbeit“ zu verstehen ist. Diese Vorstellungen gehen zu großen Teilen auf solche Theorien zurück, in die wir in diesem Buch einführen, und die dezidiert versuchen zu beschreiben, was Soziale Arbeit im Kern ist.

Entsprechend lassen sich diese Theorien als „Theorien der Sozialen Arbeit im engeren Sinn“ bezeichnen (Füssenhäuser/Thiersch 2015, 1743; Hammerschmidt et al. 2017, 11). Ab Kap. 3 des vorliegenden Bandes geben wir einen strukturierenden Einblick in die Vielfalt und die Gemeinsamkeiten dieser Theorien. Zunächst erscheint es uns jedoch vorrangig, noch auf eine weitere Unterscheidung hinzuweisen, die systematisch auf einer anderen Ebene liegt und die wir bis zu diesem Punkt bewusst außer Acht gelassen haben: die Unterscheidung zwischen „wissenschaftlichen Theorien“ und sog. „Alltagstheorien“ (Hamburger 2003, 102; Joas/Knöbl 2004, 14).

Theorie und Erfahrung überlagern sich – wie wir schon gesehen haben – nicht nur dort, wo man versucht im strengsten Sinne „wissenschaftliche“ Aussagen zu treffen, sondern ständig und überall, wo man überhaupt Aussagen über etwas trifft. Damit wird Theorie auch nicht an jeder Stelle nach streng wissenschaftlichen Prinzipien genutzt (weshalb Theoriebildung andersherum auch nicht notwendigerweise etwas mit dem so oft belächelten „Elfenbeinturm“ der Wissenschaft zu tun hat).

Das besondere an wissenschaftlichen Theorien ist jedoch, dass sie für sich in Anspruch nehmen, in einem höheren Maß als nichtwissenschaftliche Theorien an bestimmten Gütekriterien orientiert zu sein. Zu diesen Gütekriterien gehören etwa Eigenschaften wie hohe argumentative Konsistenz und Transparenz, Erklärungskraft und logische Widerspruchsfreiheit bzw. -reflexivität. Erst, wenn Theorien sich diesen Kriterien unterwerfen, haben sie überhaupt eine Chance, sich als wissenschaftliche Theorien legitimieren zu können. Alltagstheorien dagegen sind vereinfacht gesprochen solche Theorien, die relativ unabhängig von einem Rückbezug auf diese Kriterien entworfen und auch wieder verworfen werden können – und genau genommen auch noch einmal vielfältig danach unterscheidbar sind, welche Prinzipien den Alltag derjenigen Person, welche die jeweilige Alltagstheorie entwirft, bestimmen (Weingart 2003). Denn im Horizont dieser Prinzipien – wie bspw. des Prinzips: einfache Handhabbarkeit – müssen nichtwissenschaftliche Theorien gut funktionieren. Sie rücken damit zugleich oftmals in die Nähe von Bewältigungstechniken.

Allgemein und in Abgrenzung zu wissenschaftlichen Theorien gesprochen lässt sich sagen, dass Alltagstheorien lebenspraktisch notwendig sind, aber sich dort auch ständig in ihrer Nützlichkeit bewähren müssen. Alltagstheorien helfen Menschen also dabei, sich einen Reim auf die eigenen Erlebnisse in der Welt zu machen, und dann auch noch in dieser Welt zu handeln.

Warum, so könnte man nun fragen, sollte man sich angesichts dieser hohen Funktionalität von Alltagstheorien dann überhaupt mit wissenschaftlichen Theorien der Sozialen Arbeit auseinandersetzen? Reicht es zum praktischen Handeln nicht eben doch aus, sich auf diejenigen „Praxiserfahrungen“ zu verlassen, welche man mithilfe der eigenen Alltagstheorien entwickelt hat, und diese Praxiserfahrungen dann vielleicht noch zusätzlich – da wo es geht – möglichst reflektiert mit Kolleginnen und Kollegen „aus der Praxis“ zu teilen?

Unsere Antwort auf diese Frage lautet, dass sich Fachkräfte der Sozialen Arbeit durchaus nicht ihr gesamtes, an das Studium anschließendes Berufsleben über intensiv mit wissenschaftlich hergestellten Theorien der Sozialen Arbeit beschäftigen müssen. Sie werden dies wahrscheinlich, zumal sie nicht selbst WissenschaftlerIn werden, auch aus Zeit- und Kraftmangel gar nicht leisten können. Die Beschäftigung mit wissenschaftlichen Theorien im Studium wird sich jedoch auch für diejenigen StudienabsolventInnen als außerordentlich nützlich erweisen, die im Anschluss an ihr Studium nicht den Weg in die Wissenschaft, sondern in andere Berufsfelder wählen. Und zwar, weil sie hierdurch erste Schritte in Richtung eines „reflektierten Umgangs mit der Praxis“ gehen können.

Genau hierin – in einem vergleichsweise höheren Maß an Reflexivität und argumentativer Sorgfalt – unterscheiden sich wissenschaftliche Theorien in der Regel von sog. Alltagstheorien. Das liegt vor allem an den unterschiedlichen Umständen ihrer jeweiligen Entstehung. Wie der Begriff andeutet, entstehen Alltagstheorien geradezu „nebenbei“ im Alltag, d.h. sie werden von situativ handelnden Menschen im Kontext dauernden Handlungsdrucks immer wieder entworfen, zur Entscheidungsgrundlage gemacht und z.T. auch schnell wieder verworfen. Dies ist situativ äußerst sinnvoll, um überhaupt handlungsfähig zu bleiben. Es zeigt sich jedoch auch, dass sich die meisten Alltagstheorien gerade aufgrund des Drucks, unter dem sie in der Regel entstehen, als wenig konkurrenzfähig mit wissenschaftlich orientierten Theorien erweisen, die geduldiger und umsichtiger entwickelt werden.

Wie wir noch zeigen werden (Kap. 5), ist zwar auch wissenschaftliche Theoriebildung Handlungsdruck ausgesetzt. Im Gegensatz zu Alltagstheorien bezieht sich dieser Handlungsdruck aber in der Regel nicht auf diejenigen Situationen, die durch die Theorie wissenschaftlich analysiert werden sollen. Das dient der sorgfältigeren Analyse ebendieser Situationen, wie u.a. Hans Thiersch in seinen Überlegungen zu einer alltags- und lebensweltorientierten Sozialen Arbeit für die Theoriebildung zur Sozialen Arbeit ausgeführt hat (Kap. 3.2).

Eine wesentliche Aufgabe des Studiums der Sozialen Arbeit als einer wissenschaftlich fundierten Ausbildung ist es also, über die Formulierung von Praxiserfahrungen mithilfe von Alltagstheorien hinauszugehen und damit den Blick dafür zu schulen, wie gerade Erzählungen über „Praxiserfahrungen“ in der Sozialen Arbeit theoretisch zustande kommen.

Die auf den ersten Blick vielleicht bequemer erscheinende Alternative zur Beschäftigung mit wissenschaftlichen Theorien liegt darin, von anderen berichtete „Praxiserfahrungen“ entweder unhinterfragt für „objektiv“ zu halten und bedingungslos zu akzeptieren, oder – wo sie nicht zu den eigenen Alltagstheorien passen – ohne nähere Begründung abzulehnen und sich auf die eigenen „Praxiserfahrungen“ zu verlassen.

Langfristig würde eine solche Strategie jedoch einem Trugschluss gleichkommen. Denn mit diesem Vorgehen wäre es nicht möglich zu benennen, was zur Praxis dazu gehört, warum dies so ist und was darüber hinaus – spätestens hier zeigt sich die Wichtigkeit des Ganzen für die Soziale Arbeit als Beruf – eigentlich mit welcher Begründung „gute Praxis“ sein könnte. Fachkräfte, die hier nur spontan äußern können, dass sie das „irgendwie richtig“ finden und auch andere kennen, die das aus ihnen nicht weiter bekannten Gründen auch denken, werden – auch „in der Praxis“ – keine sonderlich gute Figur machen.


Auch bereits im Studium wäre eine solche Strategie nicht hilfreich. Mit ihr wäre es deutlich schwerer für Sie, zu erschließen:

● worin eigentlich der Sinn eines Hochschulstudiums gegenüber einer Berufsausbildung liegen sollte, wenn Sie doch eigentlich „nur“ praktisch arbeiten wollen,

● was von Ihnen in einer Hausarbeit erwartet wird,

● was eigentlich damit gemeint ist, wenn von Ihnen in einer mündlichen oder schriftlichen Prüfung im Studium „Eigenständigkeit“ in der Argumentation, aber trotzdem keine „reine Meinung“ erwartet wird und nicht zuletzt

● was eigentlich als relevantes Wissen für einen Abschluss in einem Studiengang der Sozialen Arbeit gelten könnte.

Die angedeuteten Unzulänglichkeiten von Alltagstheorien werden gerade dort relevant, wo es darum geht, mit einer gewissen Expertise über Praxis sprechen zu können und begründet in dieser zu handeln – also bei einer der zentralen Herausforderungen, vor denen angehende Fachkräfte der Sozialen Arbeit stehen. In ihrer Nützlichkeit hierfür stechen wissenschaftliche Theorien Alltagstheorien in aller Regel aus. Zur Verdeutlichung der Begrenztheit von Alltagstheorien in der Erschließung von Praxis Sozialer Arbeit wählen wir abschließend noch eine Alltagstheorie, die Laien auf den ersten Blick selbstverständlich erscheinen mag.


Die Alltagstheorie „Praxis Sozialer Arbeit ist überall dort, wo Sozialarbeiterinnen versuchen, Menschen zu helfen“, erscheint auf den ersten Blick sehr plausibel. Was aber, wenn Sie ein Team von drei Fachkräften in einem offenen Jugendclub haben, von denen nur eine Fachkraft ausgebildete Sozialarbeiterin ist, die anderen beiden sind Erzieherinnen? Betreiben die Erzieherinnen dann keine Praxis Sozialer Arbeit, sondern „Erziehung“? Oder machen diese dann notwendigerweise etwas anderes, ja gar weniger Anspruchsvolles? Was passiert, wenn ein Jugendlicher das heutige Gespräch mit einer der Fachkräfte gar nicht als hilfreich empfunden hat? Entsprach das Gespräch dann trotzdem Ihrem Verständnis von „Praxis Sozialer Arbeit“? Und was passiert, wenn die Sozialarbeiterin des Jugendclubs nach Dienstende nach Hause geht, um später am Abend zuhause mit ihrer Tochter ein einfühlsames Gespräch über deren derzeitige Ängste in der Schule zu führen? Betreibt sie dann dort immer noch praktische Soziale Arbeit, oder versucht sie einfach nur, ihrer Tochter als Mutter beizustehen? Oder würden Sie sagen: „Das kommt darauf an?“ Aber worauf? Und was macht eigentlich die eine der beiden Erzieherinnen, falls sie ein ähnliches Abenderlebnis mit ihrer Tochter haben sollte und sich dabei bewusst einer Gesprächsführung bedient, die sie auch tagsüber im Jugendclub oft anwendet? Ist das dann doch wieder Praxis Sozialer Arbeit, obwohl sie sich weder im Jugendclub aufhält noch überhaupt formal als Sozialarbeiterin ausgebildet oder angestellt ist?

Diese Fragen „aus der Praxis“ verdeutlichen, welche engen Grenzen sog. Alltagstheorien haben. Zugleich wird am gegebenen Beispiel aber auch nochmals deutlicher, inwiefern es nicht sinnvoll ist, von einer scharfen Trennung zwischen Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit auszugehen. Die verbreitete Annahme, Theorie und Praxis seien zwei Dinge, die an sich nichts miteinander zu tun hätten, ist zwar eine wesentliche Quelle für den Argwohn vieler Studierender gegenüber der Beschäftigung mit Theorie in ihrem Studium. Wir hoffen jedoch, mit unseren Ausführungen deutlich gemacht zu haben, dass diese Annahme bei genauerer Betrachtung nicht haltbar ist. Im Studium der Sozialen Arbeit scheint es zwar auf den ersten Blick die Möglichkeit zu geben, sich „nur mit Praxis“ zu beschäftigen. Wählt man diese Option, so sollte man allerdings nicht davon ausgehen, dass diese Beschäftigung sich jenseits von Theorie vollzieht, da man von Praxis nicht anders als theoretisch sprechen kann (und dieses Sprechen stellt im Übrigen zugleich auch schon wieder eine bestimmte Form von Praxis dar, die sich wiederum theoretisch entschlüsseln lässt usw.).

Je früher man diesen Gedanken im Laufe der eigenen Beschäftigung mit Sozialer Arbeit akzeptiert, desto leichter fällt es, sich darauf einzulassen, was von Studierenden der Sozialen Arbeit oft als Zumutung empfunden wird – obgleich es unseres Erachtens den zentralen Gewinn einer akademischen Ausbildung ausmacht: Sich auf die theoretische Auseinandersetzung mit dem einzulassen, was einen meist zunächst als Praxis interessiert.


1. Warum kommen Sie sowohl im Zuge wissenschaftlichen als auch nichtwissenschaftlichen Sprechens über eine Beobachtung niemals ohne Theorie(n) aus? U. Was versteht Peirce unter einer „Abduktion“?

2. Was versteht Peirce unter einer „Abduktion“?

3. Was brauchen Sie konkret an theoretischen Vorstellungen, um überhaupt von einer „Praxiserfahrung in der Sozialen Arbeit“ sprechen zu können?

4. Welche Vor- und Nachteile sog. „Alltagstheorien“ lassen sich gegenüber wissenschaftlichen Theorien ausmachen?


Joas, H., Knöbl, W. (2004): Was ist Theorie? In: Joas, H., Knöbl, W.(Hrsg.): Sozialtheorie. Zwanzig einführende Vorlesungen. Suhrkamp, Frankfurt/M., 13-38

1.2 Zum Unterschied zwischen Rezepten und Theorien der Sozialen Arbeit


Theorien der Sozialen Arbeit haben das Ziel, Wissen zu Sozialer Arbeit zu generieren. Was dabei als „wertvolles“ Wissen gilt, ist durchaus umstritten. Weitgehende Einigkeit besteht jedoch darin, dass sich dieses Wissen nicht einfach wie ein Rezept „in der Praxis anwenden“ lässt. Das hängt einerseits damit zusammen, dass es insgesamt fraglich ist, ob rezeptartige Theorien überhaupt existieren. Diese grundsätzliche Diskussion werden wir im folgenden Kapitel aber nur streifen. Stattdessen werden wir uns auf einen zweiten Zusammenhang konzentrieren: Dass Theorien der Sozialen Arbeit keine einfach anwendbaren Rezepte sind, hängt ganz maßgeblich damit zusammen, dass sie auf einer zu abstrakten Ebene ansetzen, um eine solche Art von technologischen Ableitungen auch nur potenziell zu ermöglichen. Das wiederum entspricht ihrem Programm, wie wir im Folgenden zeigen werden.

Ebenso wie bei manchen Studierenden der Sozialen Arbeit pauschale Abwehrreflexe gegen Theorie zu finden sind, stößt man zuweilen auch auf eine buchstäblich umgekehrte Haltung, nämlich diejenige, dass mit Theorie gerade die große Hoffnung verbunden wird, sie könne die (spätere) Berufspraxis direkt anleiten. Die Vorstellung lautet dann in etwa: „Wenn ich die Theorie lerne, weiß ich, was ich in der Praxis zu tun habe!“

Die „Sprachspiele des theoretischen Wissens“ werden im Falle solcher Vorstellungen immer nur dort für relevant gehalten, wo sich „in ihnen der Gang der Handlung spiegelt“ (Dewe 2008, 168). Mit anderen Worten: Nur dort, wo in einer Theorie Auskünfte darüber getroffen werden, was in einer konkreten Handlungssituation zu tun ist, wird sie für voll genommen.

Die Idee, dass Theorien das praktische Handeln sozusagen rezeptartig anleiten können, ist zugegebenermaßen faszinierend. Denn wäre dies so, und wäre es auch im Falle von Theorien der Sozialen Arbeit so, dann würde eine ausführliche Beschäftigung mit Theorien im Studium reichen, um zu wissen, was man später in der Praxis zu tun hat. Eine Theorie der Sozialen Arbeit wäre dann als eine Art Technologie der Sozialen Arbeit zu verstehen. Damit wäre garantiert, dass bestimmte Ziele mit bestimmten Handlungen erreicht werden können, wenn man sich nur 1:1 an diejenigen Handlungen hält, welche die Theorie beschreibt.


Ein Beispiel für eine rezeptartige Technologie der Sozialen Arbeit wäre bspw. eine Theorie, die eine Antwort auf die Frage zu bieten hätte: Wie bringe ich den vor mir in der Schulstation sitzenden Schulverweigerer dazu, ab der kommenden Woche wieder dauerhaft am Unterricht teilzunehmen?

Aus gutem Grund sind solche Theorien im vorliegenden Buch nicht zu finden. Zwar wird innerhalb der wissenschaftlichen Debatte zur Sozialen Arbeit viel über Praxis gesprochen und geschrieben. Dabei wird auch über das sog. „Theorie-Praxis-Verhältnis“ gestritten (May 2010, 17 ff.; Winkler 2017). Strittig ist in der wissenschaftlichen Debatte zur Sozialen Arbeit z.B., ob Theorien in der Pflicht sind, ethische und/oder (fach)politische Leitlinien für das Handeln in der Sozialen Arbeit bereitzustellen, oder ob sie dies zugunsten einer analytischen Wissensproduktion zu unterlassen bzw. hintanzustellen haben (Rauschenbach/Züchner 2012). Unstrittig ist jedoch, dass die Benennung ethischer und/oder fachpolitischer Leitlinien für das Handeln von PraktikerInnen nicht das Gleiche ist wie eine Erarbeitung von rezeptartigen Technologien (Kessl/Otto 2012).

In der Sozialen Arbeit hat es wie auch in ihren Nachbardisziplinen, immer wieder Versuche gegeben, solche „Technologien“ zu entwickeln oder Theorien mit einem technologischen Anspruch zu versehen.


So findet man Beispiele für Theorien mit technologischem Anspruch etwa im Kontext von Schule und Lehrerbildung. Hier gibt es eine Vielzahl von allgemein- und fachdidaktischen Ansätzen der Schulpädagogik, in denen es ausdrücklich darum geht, Technologien des Lehrens und Lernens zu konzipieren, die ganz auf die Rationalisierung der Wissensvermittlung im Unterricht ausgerichtet sind. Und auch in der Sozialen Arbeit wird man fündig, wenn es um technologische Modelle geht. Ein geläufiges Beispiel hierfür ist etwa die Diskussion um Methoden der Sozialen Arbeit. Die Grenze zwischen strukturierten, d. h. zunächst einmal auf eine Strukturierung des Handelns von Professionellen ausgerichteten Vorgehensweisen, und technisierten Vorgehensweisen, die mit der Vorstellung verbunden sind, man könnte durch bestimmte Handlungsabläufe gewünschte Effekte bei AdressatInnen des professionellen Handelns erreichen, sind hier fließend (Galuske 2013). Ein weiteres Beispiel bieten Ansätze einer sog. „evidenzbasierten Sozialen Arbeit“ (Otto et al. 2009; Otto et al. 2010a). Sie operieren mit dem Versprechen, auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse das praktische Handeln in der Sozialen Arbeit zumindest mittelbar wirkungsvoller zu machen, indem sie es mit Manualen und festgelegten Organisationsabläufen flankieren, die sich als angeblich „erfolgreich“ in Bezug auf vorher festgelegte Kriterien herausgestellt haben. Und zuletzt gibt es jenseits der Diskussion um Methoden sogar technologisch-empiristische Theorieprogramme der Sozialen Arbeit, die sich als praxisanleitende Theorien sozialarbeiterischen Handelns verstehen (Rössner 1975). Diese haben sich aber im engeren Diskurs um Theorien der Sozialen Arbeit bisher kaum durchgesetzt.

Die Vorstellung, wissenschaftliches Wissen – und demzufolge auch Theoriewissen – könnte Handlungsanleitungen für die Soziale Arbeit bieten, ist also durchaus verbreitet. Allerdings ist diese Vorstellung dort, wo es um „Theorien der Sozialen Arbeit im engeren Sinn“ (Füssenhäuser/Thiersch 2015, 1743) geht, in der Regel nicht zu finden. Diese zielen stattdessen auf etwas Anderes, und zwar

„auf die Klärung des Status der Sozialen Arbeit, ihres Gegenstandsund Aufgabenbereichs und ihrer gesellschaftlichen Funktion, ihrer geschichtlichen Selbstvergewisserung und ihrer Positionierung im Kontext anderer Disziplinen und der Anforderungen der Praxis“ (Füssenhäuser/Thiersch 2015, 1743).

Es wird deutlich: Der Abstraktionsgrad, mit dem Theorien der Sozialen Arbeit ansetzen, ist ziemlich hoch. Zu klären sind hier offenbar eher Fragen von recht allgemeinem Interesse, wo es um ein angemessenes Verständnis von Sozialer Arbeit geht. Somit wäre es zugleich ein Missverständnis davon auszugehen, man könnte in Theorien der Sozialen Arbeit Anweisungen finden, die sich in ganz konkreten, und damit hoch besonderen Situationen der Praxis wie Rezepte anwenden ließen. Auch wäre es ein Missverständnis, wenn man davon ausginge, dass Theorien der Sozialen Arbeit die konkrete, besondere Praxis in allen ihren Facetten und spezifisch lokalen Bedingungen überhaupt ganz exakt widerspiegeln, oder gar vorhersagen könnten. Stattdessen geht es in Theorien der Sozialen Arbeit eben genau darum, das Allgemeingültige (und nicht das Besondere) an „der Sozialen Arbeit“ begreifbar zu machen. Es geht ihnen – anders gesagt – darum, die Komplexität und Vielfältigkeit möglicher Beobachtungen zu Sozialer Arbeit weitestgehend zu reduzieren. Im Ergebnis zielen die Theorien damit auf weniger genaue, dafür aber breiter verallgemeinerbare Aussagen zur Sozialen Arbeit. Damit entfernen sie sich zugleich systematisch von möglichst exakten Technologien für Einzelfallprobleme, und interessieren sich stattdessen für „Soziale Arbeit als Ganzes“ (Borrmann 2016). In Anlehnung an den von C. Wright Mills (1959) geprägten Begriff der „Grand Theories“ haben wir Theorien der Sozialen Arbeit daher an anderer Stelle auch schon als „Großtheorien“ bezeichnet (Sandermann/Neumann i.E.; kritisch auch schon Winkler 2005, 19).

Es liegt somit keineswegs an schlichtem Unvermögen, wenn Theorien der Sozialen Arbeit keine Technologien liefern. Zum einen lässt sich mit guten Gründen behaupten, dass Theorien insgesamt und jenseits der in diesem Buch besprochenen Theorien wenig taugen für die Ableitungen von Technologien und Rezepten (Knorr-Cetina 2007). Viel entscheidender ist für die vorliegende Einführung jedoch, im Auge zu behalten, dass Theorien der Sozialen Arbeit solche Technologien eben gar nicht bieten wollen. Das heißt auch, dass jede Theorie, die im Rahmen des vorliegenden Buches dargestellt wird, am Ende vor allem möglichst verallgemeinerbare Aussagen zur Sozialen Arbeit bietet, und sich aus diesem Grund als Material für eine Suche nach möglichst exakten Rezepten für konkrete Einzelsituationen denkbar schlecht eignet.


Wir wollen das noch einmal auf unser anfängliches Beispiel aus der Schulstation übertragen. Sucht man in einer Theorie der Sozialen Arbeit nach Rezepten oder eindeutigen Hinweisen dazu, wie die Schulsozialarbeiterin X mit dem Schulverweigerer Y in der Schulstation Z verfahren soll, findet man hier höchstwahrscheinlich: Nichts. Stattdessen ist es schon wahrscheinlicher, dass man hier auf Antworten zur Frage stößt, ob Schulstationen eigentlich als Teil der Sozialen Arbeit zu verstehen sind, und falls ja oder nein, inwiefern und warum das so gesehen werden kann. Was die konkrete Rolle von Schulsozialarbeiterinnen im Umgang mit schuldevianten jungen Menschen angeht, könnte es indessen schon wieder schwieriger werden. Denn es ist wahrscheinlich, dass die Theorie der Sozialen Arbeit, in die man hineinliest, nur an äußerst wenigen oder sogar gar keinen Stellen Beispiele aus dem Bereich der Schulsozialarbeit nutzt, weil Schulsozialarbeit im Lichte dieser Theorie eben nur ein Teilgebiet dessen ist, wozu allgemeine Aussagen getroffen werden: Soziale Arbeit.

Heißt das nun aber im Umkehrschluss nicht doch, dass Theorien der Sozialen Arbeit letztlich völlig wertlos sind für jemanden, der sich für praktisches Handeln in der Sozialen Arbeit interessiert? Handlungssituationen kommen doch immer als konkrete und damit per se als einzelfallbezogene, und nicht als allgemeine Probleme daher. Was bringen dann Theorien, die sich scheinbar nicht für konkrete Lösungen, sondern nur für Allgemeines interessieren?

Diese Fragen sind durchaus berechtigt, und interessanterweise werden sie auch von WissenschaftlerInnen immer wieder gestellt. Das Gegenmodell, das gegen solche „Großtheorien“ ins Spiel gebracht wird, sind sog. „Middle Range Theories“, welche in ihrem Begriff auf den amerikanischen Soziologen Robert K. Merton (1968) zurückgehen.


Unter Middle Range Theories, im Deutschen meistens benannt als Theorien mittlerer Reichweite, versteht man Theorien, die bewusst ein nur mittleres Maß an Abstraktion anstreben und somit relativ nah an einer Beschreibung von empirischen Beobachtungen bleiben. Die Vorteile dieser Theorien mittlerer Reichweite bilden zugleich ihre Nachteile. Durch ihr höheres Maß an Konkretheit taugen sie einerseits für eine detailliertere Abbildung der beobachteten Zustände sowie für weitergehende Ableitungen von Prognosen und Technologien für den erforschten Bereich. Andererseits macht sie das weniger übertragbar auf andere als die konkret von ihnen erklärten Zustände.

Wir werden uns mit diesem Gegenmodell der Middle Range Theories und der Frage, ob Großtheorien für die Produktion von Wissen zur Sozialen Arbeit nicht letztlich überflüssig sind, im letzten Kapitel dieses Buches noch ausführlicher beschäftigen (Kap. 6). Um so viel bereits vorwegzunehmen: Großtheorien der Sozialen Arbeit sind wichtig, und zwar sowohl für die wissenschaftliche Forschung als auch für das Handeln von Studierenden und PraktikerInnen der Sozialen Arbeit. Es kommt aber darauf an, bei der Lektüre und Diskussion von Großtheorien das Richtige von ihnen zu erwarten.

Hierfür ist eine Differenzierung nötig. Zutreffend ist: Theorien der Sozialen Arbeit dienen als solche nicht dazu, direkte Lösungen für konkrete Handlungsprobleme in der Praxis anzubieten. Eben deshalb sind sie keine Technologien oder gar Rezepte. Das heißt jedoch im Umkehrschluss nicht, dass sie für eine Aufklärung konkreter Handlungsprobleme und Lösungen der Praxis nicht taugen würden. Mit Theorien der Sozialen Arbeit kann man sich durchaus für diese konkreten Momente interessieren. Allerdings nicht, um dann konkrete Lösungen aus der Theorie einfach abzuleiten, sondern um aus der Beobachtung konkreter Momente Sozialer Arbeit allgemeine Schlussfolgerungen ziehen zu können. Wie wir noch zeigen werden, wenn wir im Folgenden einige der einschlägigsten Theorien der Sozialen Arbeit genauer unter die Lupe nehmen werden (Kap. 3), sehen diese Schlussfolgerungen durchaus unterschiedlich aus. Entscheidend für den Moment aber ist: In allen Theorien der Sozialen Arbeit werden Schlussfolgerungen zum Allgemeingültigen gezogen, und damit letztlich zum aus Sicht der Theorie Entscheidenden der Sozialen Arbeit. Damit Theorien der Sozialen Arbeit dies leisten können, muss dort, wo in ihnen überhaupt direkte Hinweise auf so etwas wie „richtiges Handeln in der Sozialen Arbeit“ auftauchen, notwendigerweise auf einer allgemeinen Ebene argumentiert werden.

Aus der Perspektive von PraktikerInnen, die an einem besonderen Problem und dessen Lösung interessiert sind, könnte der zentrale Wert von Theorien der Sozialen Arbeit somit darin liegen, mithilfe dieser Theorien danach fragen zu können, was das Entscheidende an einer praktischen Situation ist. Mit anderen Worten hilft ihnen die Kenntnis einer – bzw. am besten: mehrerer! – Theorie(n) der Sozialen Arbeit dabei herauszufinden, was an der vorliegenden Situation diese eigentlich als eine Situation der Sozialen Arbeit ausweist. Hieraus wiederum lassen sich durchaus ganz konkrete Ableitungen für das dann in der jeweiligen Situation benötigte Wissen treffen. So z.B. Wissen darüber, welche Handlungen, welches Rollenverständnis und welche Organisationsprozesse angemessen wären, wenn man erstens die Situation im Sinne der jeweiligen Theorie verstehen möchte und sich zweitens infolge dessen auch dazu entscheidet, im Sinne der jeweiligen Theorie zu handeln. Ob man das jedoch (beides) möchte, und wie sich im Falle dessen die allgemein in der Theorie formulierten Kriterien „wahrer Sozialer Arbeit“ auf die im Einzelfall wahrgenommene „Praxissituation“ übertragen lassen, kann keiner allgemeinen Theorie der Sozialen Arbeit anheimgestellt werden, sondern bleibt logischerweise eine Aufgabe der konkreten Praxis.


1. Inwieweit unterscheiden sich ethische und/oder fachpolitische Leitlinien für das Handeln von PraktikerInnen innerhalb von Theorien der Sozialen Arbeit von Rezepten für richtiges Handeln in der Sozialen Arbeit?

2. Woran sind Theorien, die im engeren Sinn als Theorien der Sozialen Arbeit bezeichnet werden, maßgeblich interessiert?

3. Inwiefern lassen sich Theorien der Sozialen Arbeit auch als Großtheorien bezeichnen?

4. Wo liegen Nutzen und Grenzen von Theorien der Sozialen Arbeit, wenn es darum geht, Antworten auf eine konkrete praktische Handlungsfrage zu finden?

1.3 Zusammenfassung: Zum Theorieverständnis des vorliegenden Bandes


Das folgende Teilkapitel dient dazu, unsere bisherigen Überlegungen zum Wert einer Beschäftigung mit Theorie innerhalb des Studiums der Sozialen Arbeit zusammenzufassen. Dabei werden wir verdeutlichen, welche Besonderheiten von Theorien der Sozialen Arbeit in einer ersten Annäherung erkennbar sind, und darauf aufbauend herausarbeiten, welchen theoretischen Blick das vorliegende Buch auf Theorien der Sozialen Arbeit richtet. Auch dies erachten wir als notwendig, um unsere Argumentation transparent, und damit zugleich verständlich zu machen, warum die folgenden Kapitel dieses Buches so aufgebaut sind, wie sie aufgebaut sind.

Wir haben im Kap. 1.1 dargestellt, dass Theorie und Praxis zwar als logische Gegensätze begriffen werden können, es aber gerade deshalb durchaus einen Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis gibt. Denn Theorie braucht, um überhaupt als Theorie auftreten zu können, immer auch ein Gegenüber, auf das sie beziehbar ist. Während das in vielen anderen Wissenschaften Momente sind, welche als „Empirie“ bezeichnet werden, dienen im Bereich der Sozialen Arbeit oft Momente der „Praxis“ als ein solcher Gegenpol. Für Theorien der Sozialen Arbeit im engeren Sinne gilt das in besonderem Maße.

Das gilt logischerweise auch umgekehrt, also auch für die Rede von der Praxis. Denn – so haben wir ebenfalls in Kap 1.1 herausgearbeitet – ohne Theorie wäre es keiner/m PraktikerIn möglich, sich überhaupt selbst als SozialarbeiterIn oder SozialpädagogIn zu bezeichnen, oder auch nur einfach von einer „Praxiserfahrung in der Sozialen Arbeit“ berichten zu können. An jeder Stelle, an der man das tut, braucht man sowohl eine theoretische Vorstellung von „Praxis“, als auch noch eine – bewusste oder unbewusste – „Theorie der Sozialen Arbeit“, die ein generelles Bild davon liefert, was Soziale Arbeit ist. Denn erst so kann man die konkret gemachte Erfahrung überhaupt als „Soziale Arbeit“ fassen.

Dieser Theoretisierungsprozess ist (wir erinnern noch einmal an die Erkenntnisse des in Kap. 1.1 zitierten Philosophen Charles S. Peirce) notwendig für jedwede Art der Thematisierung einer bestimmten Beobachtung. Theoretisierungsprozesse geschehen also ständig und überall, und zwar gerade auch da, wo von „Praxis“ die Rede ist. Am ausführlichsten, geduldigsten und damit in der Regel auch am gründlichsten werden solche Theoretisierungsprozesse jedoch in wissenschaftlichen Theorien vollzogen.

Es lohnt sich daher aus unserer Sicht gerade auch für praktisch interessierte Studierende und engagierte PraktikerInnen, sich mit wissenschaftlichen Theorien auseinanderzusetzen. Für Theorien der Sozialen Arbeit gilt das in besonderem Maße, da mit ihnen explizit darauf gezielt wird, ein Bild von der Praxis der Sozialen Arbeit zu entwerfen.

Wie wir in Kap. 1.2 deutlich gemacht haben, sollte man daraus jedoch keine Hoffnung ableiten, mithilfe von Theorien der Sozialen Arbeit auf konkrete Handlungsrezepte für einzelne Situationen zu stoßen. Denn diejenigen Theorien, die in der Regel als Theorien der Sozialen Arbeit im engeren Sinne verhandelt werden und somit auch im Rahmen unseres Buches Berücksichtigung finden (Kap. 3), werden zwar durchaus auf konkrete Phänomene hin ausgerichtet, die als „Praxis Sozialer Arbeit“ beschrieben werden. Dies geschieht jedoch nicht, um mithilfe der Theorien dann selbst Lösungen für die beschriebenen Situationen anzubieten, sondern um aus der Beobachtung konkreter Momente Sozialer Arbeit allgemeine Schlussfolgerungen für „den Zusammenhang des Ganzen, seiner Beschreibung, Begründung und Aufklärung“ ziehen zu können (Füssenhäuser/Thiersch 2015, 1743). Das gilt selbst für diejenigen Theorien, deren Interessensfokus auf ein im Großen und Ganzen „richtiges“ Handeln in der Sozialen Arbeit gelegt wird: Auch hier geschieht das in der Regel in Form von Aussagen zu „fachlichem“ oder „professionellem“ Handeln.Auch diese Art von Theorien der Sozialen Arbeit trifft damit nicht systematisch Aussagen zu konkret richtigem Handeln in allen möglichen Situationen, die einem „in der Praxis“ begegnen können. Eher finden sich hier etwa Umschreibungen von grundsätzlichen Haltungen, die dann an seltenen Stellen auch einmal beispielhaft illustriert werden.

Damit liefern Theorien der Sozialen Arbeit bewusst allgemein gehaltene Analysen der Sozialen Arbeit. Will man sie nutzen für konkrete Situationsanalysen in der eigenen Praxis, muss man sie gewissermaßen in Gebrauch nehmen, und dabei konkrete Ableitungen für die eigene Praxisreflexion mehr oder minder selbst vornehmen. Eine solche Eigentätigkeit beim Gebrauch von Theorien bietet dann zugleich die Möglichkeit, sich die Frage zu stellen, ob man die Annahmen der Theorie auf der allgemeinen Ebene überhaupt teilt und als nachvollziehbar empfindet.

Die Annahmen unterschiedlicher Theorien der Sozialen Arbeit zu ihrem Gegenstand ähneln sich teilweise. Sie unterscheiden sich jedoch teilweise auch deutlich voneinander. Denn – um dies noch einmal ins Gedächtnis zu rufen – Theorien der Sozialen Arbeit stehen zu ihrem zentralen Gegenstand, der Sozialen Arbeit, im Grunde in einem ähnlichen Verhältnis wie Studierende der Sozialen Arbeit.


Auf den ersten Blick liegt das Erkenntnisinteresse aller Theorien der Sozialen Arbeit, ähnlich wie bei Studierenden der Sozialen Arbeit, auf ein und demselben – nämlich Sozialer Arbeit. Erst ein differenzierterer Blick lässt deutlich werden, dass dieses Interesse jenseits des gemeinsam genutzten Begriffs auf etwas sehr Unterschiedliches zielen kann. Für einen Nachvollzug von Studierendeninteressen im Studium ist es somit nicht allein entscheidend, dass alle Studierenden denselben Begriff der Sozialen Arbeit benutzen, wenn sie ihr übergreifendes Interesse betiteln. Es kommt vielmehr darauf an nachzuvollziehen, welche konkreten Vorstellungen sich bei unterschiedlichen Studierenden jeweils mit der Nutzung des Begriffs „Soziale Arbeit“ verbinden, und wofür der Begriff somit in ihren Augen jeweils steht. Ähnliches gilt, wenn man ein genaueres Verständnis von Theorien der Sozialen Arbeit erlangen möchte. Auch hier kommt es zunächst auf eine Rekonstruktion des jeweiligen Verständnisses von Sozialer Arbeit an, welches sich in einzelnen Theorien der Sozialen Arbeit findet. Dass sie dabei alle denselben Begriff der Sozialen Arbeit nutzen, ist erst im zweiten Schritt entscheidend, nämlich dann, wenn man vergleichen möchte, wo sich Unterschiede und Gemeinsamkeiten der verschiedenen Theorien erkennen lassen, um hierüber das Gesamtbild der Diskussion um Theorien der Sozialen Arbeit besser zu verstehen.

Ein solches Vorgehen ist unseres Erachtens gewinnbringend, da sich Theorien der Sozialen Arbeit noch in einem weiteren Punkt nicht sonderlich von Studierenden der Sozialen Arbeit unterscheiden: So wie jede/r Studierende von Beginn des Studiums an bestimmte Vorannahmen, Ideale, besondere Aufmerksamkeiten und Sozialisationserfahrungen mitbringt und kein „unbeschriebenes Blatt“ ist, was die eigenen Wahrnehmungen angeht, startet auch keine Theorie in ihren Annahmen über Soziale Arbeit bei null. Auch hier wird auf je besonderen Vorannahmen und Idealen aufgebaut, es werden jeweils besondere Aufmerksamkeitsschwerpunkte gesetzt und damit spezifische Perspektiven auf Soziale Arbeit entwickelt.

Theorien der Sozialen Arbeit sind so gesehen alle ähnlich, aber eben auch alle sehr verschieden. Welche Ähnlichkeiten und welche Unterschiede einem in ihrer Beobachtung auffallen, liegt vor allem auch daran, auf welche Weise man sich ein Bild von ihnen macht. Und d.h. genauer: Es kommt darauf an, welche Theorie man in Gebrauch nimmt oder entwirft, um sich ein Bild von Theorien der Sozialen Arbeit zu machen. Damit sind wir an einem Punkt angelangt, an dem wir in eine kurze Gedankenschleife zum theoretischen Blick, den das vorliegende Buch entwirft, einsteigen wollen.

Wir möchten m.a.W. die Gelegenheit nutzen, unseren eigenen Blick auf Theorien der Sozialen Arbeit noch einmal etwas systematischer auszuweisen. Die Begründung dafür lautet, dass die LeserInnen dieser Einführung nicht nur implizit – durch den Gang unserer Argumentation – sondern auch explizit – durch eine Reflexion unserer Argumentation – darauf aufmerksam gemacht werden sollen, welcher Perspektive auf Theorien der Sozialen Arbeit sie sich anvertrauen, wenn sie dieses Buch lesen. Das scheint uns für das weitere Verständnis des vorliegenden Buches hilfreich zu sein, soll die LeserInnen aber zugleich auch offen dazu anregen, die in diesem Buch aufgemachte Perspektive auf Theorien der Sozialen Arbeit als nicht einfach selbstverständlich zu begreifen, sondern kritisch zu hinterfragen.

Damit übertragen wir das, was wir bisher allgemein zum Wechselverhältnis von Theorien und ihren Gegenständen dargestellt haben, auf den Gegenstand des vorliegenden Buches – Theorien der Sozialen Arbeit. Und hier wird etwas deutlich, was auf den ersten Blick verwirrend, auf den zweiten aber nachvollziehbar ist. Es wird deutlich, dass man Theorie benötigt, um sich mit Theorien der Sozialen Arbeit beschäftigen zu können. Denn auf welche Weise man Theorien der Sozialen Arbeit rekonstruiert, entscheidet sich im Wechselspiel zwischen dem Material (hier also den Theorie-Texten, die in die Übersicht einbezogen werden) und der Art und Weise, wie man dieses Material in der Übersicht zugänglich macht.

Im vorliegenden Buch stellt sich dieses Wechselspiel her, indem wir die oben angestellten Überlegungen auf unsere eigene Perspektive hin reflektieren. Damit schließen wir an das breite Programm einer sog. „reflexiven Sozialwissenschaft“ an, das inzwischen in den meisten Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften etabliert ist.


Reflexive Sozialwissenschaft kann als ein Label für im Einzelnen unterschiedlich vorgehende wissenschaftliche Ansätze gesehen werden (Langenohl 2009), deren Gemeinsamkeiten jedoch darin liegen, wie sie ihre eigene Wissenschaftlichkeit gegenüber ihrem Publikum legitimieren. Als bedeutende Wegbereiter reflexiver Sozialwissenschaft kann zum einen der französische Soziologe Pierre Bourdieu gesehen werden (Schultheis 2007), zum anderen sind hier auch WissenschaftsforscherInnen wie z. B. Steve Woolgar (1988) zu nennen. Das Wort „reflexiv“ verweist dabei auf ein zusätzlich gesteigertes Maß an Reflexion, was das Zustandekommen der eigenen Beobachtung und Argumentation als „wissenschaftlich“ angeht. Dies drückt sich z. B. dadurch aus, dass diese Ansätze oftmals Reflexionsschleifen einbauen zu dem, was gerade im Akt des wissenschaftlichen Beobachtens und Aufschreibens passiert, und wie damit einerseits der Blick derjenigen LeserInnen geleitet wird, welche die wissenschaftliche Studie am Ende rezipieren, und wie sich damit andererseits das verändert, was wissenschaftlich beobachtet wird. Anhand des letztgenannten Punktes wird deutlich, dass Ansätze reflexiver Sozialwissenschaft zu guten Teilen auf Erkenntnissen des Konstruktivismus aufbauen.

Konstruktivistische Perspektiven rücken die „Gemachtheit“ von Beobachtungen in den Mittelpunkt. Das heißt, dass mit ihnen davon ausgegangen wird, dass Tatsachen nicht einfach da sind und dann besser oder schlechter, vollständiger oder weniger vollständig beobachtet werden können, sondern dass sich Tatsachen erst im Zuge ihrer Beobachtung konstituieren. Diese Annahme bezieht der Konstruktivismus ausdrücklich auch auf solche Beobachtungen, die als wissenschaftliche Beobachtungen gelten. Wie stark einzelne Ansätze reflexiver Sozialwissenschaft sich zugleich explizit als konstruktivistisch verstehen, variiert allerdings. Das hängt damit zusammen, dass einige dieser Ansätze nach wie vor von einem objektiven Kern derjenigen Dinge, die beobachtet werden, ausgehen, während andere Ansätze auch diesen Kern als gänzlich „durch Beobachtung hergestellt“ betrachten, und zwar zumindest im Sinne einer Mehrdimensionalität des „Kerns der Dinge“, welcher dann je nach Beobachtungsperspektive unterschiedlich aussieht. Die gesamte Auseinandersetzung um diese Fragen von „Existenz“ vs. „Gemachtheit“ von wissenschaftlich beobachteten Sachverhalten bezeichnet die Philosophie als „Universalienstreit“.

Darüber hinaus gehen wir in diesem Buch von folgenden, schon in Kap. 1.1 und Kap. 1.2 skizzierten Vorannahmen aus, um eine Überblicksperspektive auf Theorien der Sozialen Arbeit erarbeiten zu können:

1. Nicht jede Theorie, der man im Studium der Sozialen Arbeit begegnet, ist eine Theorie der Sozialen Arbeit. Theorien der Sozialen Arbeit zielen im Gegensatz zu anderen Theorien wesentlich auf die Darstellung von etwas Allgemeinverbindlichem der Sozialen Arbeit.

2. In ihren jeweiligen Antworten auf die Frage, was Soziale Arbeit ist, kommen unterschiedliche Theorien der Sozialen Arbeit zu recht unterschiedlichen Ergebnissen. Das gilt auch für die Vorstellung von Praxis der Sozialen Arbeit, denn Theorie- und Praxisvorstellungen zur Sozialen Arbeit stellen sich in einer Theorie der Sozialen Arbeit wechselseitig her. Das heißt, jede Theorie entwickelt zugleich ihre jeweils eigene Vorstellung von Praxis der Sozialen Arbeit.

3. Eine Übersicht zu Theorien der Sozialen Arbeit, die sich an den Ergebnissen der einzelnen Theorien orientiert, bleibt darauf begrenzt, die Unterschiedlichkeit dieser Ergebnisse zusammenfassend zu reproduzieren. Damit kann eine solche Übersicht Informationsverdichtung, aber noch keine systematische Wissensproduktion leisten.

4. Eine zusätzliche Möglichkeit der im engeren Sinn vergleichenden Wissensproduktion besteht, wenn man die Arten und Weisen genauer in den Blick nimmt, wie unterschiedliche Theorien der Sozialen Arbeit zu Antworten auf die Frage danach gelangen, was Soziale Arbeit ist. Ein solcher Ansatz erlaubt es, allen Theorien der Sozialen Arbeit dieselben Fragen zu stellen und damit hinreichend fokussiert Wissen zu Theorien der Sozialen Arbeit aufzubereiten.

Aus den oben benannten Punkten ergibt sich bereits eine Argumentationslinie für den weiteren Aufbau dieses Buches. Man kann daran auch noch einmal erkennen, inwiefern wir im Folgenden nicht „völlig objektiv“ vorgehen. Zugleich ist unser Vorgehen aber eben auch nicht „völlig willkürlich“ oder zufällig. Stattdessen ist es theoriegeleitet – bzw. genauer: reflexiv-theoriegeleitet – und damit zugleich notwendigerweise von Vorannahmen, man könnte sogar sagen: von „Vor-Urteilen“ geprägt (Gadamer 1990). Diese Vor-Urteile ermöglichen es, eine Perspektive zu entwerfen, die im Ergebnis der Einführung zu Wissen über Theorien der Sozialen Arbeit führt, also ein systematischeres Verständnis von Theorien der Sozialen Arbeit ermöglicht.

Kommen wir damit zu den konkret folgenden Argumentationsschritten dieses Einführungsbandes. Den ersten oben aufgelisteten Punkt („Nicht jede Theorie, der man im Studium der Sozialen Arbeit begegnet, ist eine Theorie der Sozialen Arbeit“) haben wir bereits mehrfach verdeutlicht, indem wir im Einklang mit Füssenhäuser und Thiersch (2015) sowie Hammerschmidt et al. (2017) das Erkenntnisinteresse von „Theorien der Sozialen Arbeit im engeren Sinn“ vom Erkenntnisinteresse anderer Theorien, denen man im Studium der Sozialen Arbeit begegnet, unterschieden haben. Wir wollen diese Unterscheidung jedoch nicht allein qua Definition treffen, sondern glauben, dass es gute Gründe gibt, mit denen man sie auch historisch rechtfertigen kann. In Kap. 2 wollen wir genau das tun, indem wir die Vorgeschichte der Auseinandersetzung um Theorien der Sozialen Arbeit im engeren Sinn skizzieren.

Danach wird es darum gehen, ebendiese Theorien der Sozialen Arbeit anhand der weiteren, oben aufgelisteten Punkte besser verständlich zu machen. So werden wir einen Überblick zu Theorien der Sozialen Arbeit erstellen, der die verschiedenen Theorien anhand ausgewählter Fragen auf deren Unterschiede, aber auch auf deren Gemeinsamkeiten als Theorien der Sozialen Arbeit begreifbar macht.

Unser geplantes Vorgehen drückt sich bereits in der Grundstruktur des weiteren Buches aus: In Kap. 3 findet sich ein Panorama verschiedener, regelmäßig als relevant markierter Theorien der Sozialen Arbeit. Durch die Gegenüberstellung dieser Theorien anhand von drei ausgesuchten Fragen, die wir jeder der präsentierten Theorien stellen, können zunächst einige Diversitäten vorhandener Theorien der Sozialen Arbeit verdeutlicht werden. Gleichzeitig erlaubt uns die Konzentration auf diese drei immer gleichen Fragen, die Theorien insbesondere auf die oben angesprochene Frage danach, wie sie Soziale Arbeit theoretisieren, zu vergleichen. In Kap. 4 werden wir das in einer systematischeren Art und Weise tun, um zunächst relevante Unterschiede verschiedener Theorien der Sozialen Arbeit zusammenzufassen, was die durch sie in den Mittelpunkt gerückten Erkenntnisinteressen, Gegenstandsauffassungen und Praxisverständnisse anbelangt.Wir möchten aber auch auf weitreichende Gemeinsamkeiten unterschiedlicher Theorien der Sozialen Arbeit hinweisen. Dies werden wir in Kap. 5 tun, bevor es abschließend in Kap. 6 um eine skizzenhafte Darstellung aktueller Brüche mit den herausgearbeiteten Gemeinsamkeiten von Theorien der Sozialen Arbeit gehen wird, verbunden mit einem Ausblick auf die von uns vermutete Zukunft dieser sog. Großtheorien.


1. Wodurch unterscheidet sich der Anspruch „reflexiver Sozialwissenschaft“ von anderen Arten des wissenschaftlichen Erkennens?

2. Inwiefern nutzt das vorliegende Buch selbst Theorie, und inwieweit ist die Nutzung von Theorie(n) notwendig, um einen Überblick zu Theorien der Sozialen Arbeit entwerfen zu können?

Grundkurs Theorien der Sozialen Arbeit

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