Читать книгу Im Schatten der Anderen - Philipp T. Hayne - Страница 3
Kapitel 1
ОглавлениеKalter Schweiß lief an seinem Gesicht hinunter und hinterließ den Umriss seines Kopfes auf dem Kissen. Seine Lippen zitterten, als stünde er in der Kälte eines Wintermorgens. Seine Hände waren fest an die Matratze seines Bettes gepresst. Jedoch konnte er das weiche Polster unter seinen Fingerspitzen nicht spüren. Doch dann ertönte ein schrilles Geräusch und Ben riss seine Augen auf. Es dauerte einen Augenblick, bis er wusste, wo er war.
Ben stellte seinen Wecker aus, rieb sich mit den Händen durch die Augen und ließ seine Hände auf seinem verschwitzten Gesicht ruhen. Er merkte, dass er vollkommen außer Atem war.
Erneut hatte er diesen Alptraum gehabt, der ihn nicht losließ. Immer noch sah er den Schnee auf dem Waldweg vor sich liegen. Der Gedanke daran lag noch wie ein Schleier vor seinem inneren Auge. Seit Tagen hatte er Angst einzuschlafen. Er wusste genau, dass er im Schlaf keinen Frieden finden konnte. Ben richtete sich auf und stand aus seinem Bett auf. Der Boden war kalt und Ben holte sich sofort ein Paar Socken aus der Schublade seines Schranks.
Als er die Tür aufmachte und langsam zur Küche ging, hörte er die Musik aus dem Radio, das seine Mutter jeden Morgen schon anmachte, bevor er aufwachte. Er ließ sich nicht anmerken, wie sehr ihn diese Musik quälte – ja wie sehr er die Musik am Morgen hasste. So fröhlich, so stumpf, als ob es einen Grund gäbe aufzustehen. Umso mehr machte ihm das Gedudel in den letzten Tagen zu schaffen.
»Wie geht es dir heute, mein Kleiner?«, fragte seine Mutter, die ihm durch sein lockiges Haar strich. Er hatte die braunen Haare seiner Mutter, doch die Augen seines Vaters. Ben fühlte ihre Nähe und sie nahm ihm so ein wenig die Angst ab, so wie sie es schon so oft getan hatte.
»Konntest du diese Nacht wenigstens ein bisschen schlafen?«
Ben schüttelte nur leicht den Kopf und nahm sich eine Scheibe Toast aus dem Brotkorb, der vor ihm stand. Seine Mutter wusste natürlich, was in der Schule passiert war. Jeder in der Stadt wusste es wahrscheinlich.
Was seine Mutter nur nicht wusste, war, warum Ben nicht schlafen konnte. Den Grund für seine Schweißattacken, für seine Bauchschmerzen, die er jedes Mal bekam, wenn darüber geredet wurde, kannte sie nicht. Da war dieses hilflose Gefühl, dass ihn beherrschte – Tag für Tag.
Es war Samstag und Ben war heilfroh, dass er heute nicht in die Schule musste. Er konnte nicht mehr ertragen, wie alle versuchten das Geschehene zu ignorieren. Das beklemmende Gefühl von unsichtbaren Ketten, die sich um seinen ganzen Körper legten, war ihm anzusehen, da war er sich sicher. Und auch jetzt fühlte Ben sich so unwohl wie immer. Sein Herz klopfte rasch, wie Trommeln, die den finalen Kampf um sein Gewissen anstimmten. Ben legte sich die linke Hand auf die Brust und ihm wurde klar, dass es nicht von alleine aufhören würde. Er musste zu ihm und sich seiner Verantwortung stellen. Ben stand auf und ging in sein Zimmer, um sich anzuziehen.
Auf dem Thermometer am Fensterbrett standen 22 Grad, von denen Ben aber nichts spürte. Er zitterte und zog sich einen Pullover an. Als er zu seinem Schreibtisch ging, um seinen Schlüssel zu nehmen, fiel sein Blick auf das Foto von ihnen. Seine Hand war auf Bens Schulter. Ben erinnerte sich an das Foto – es war schon etwas älter. Eine schöne Zeit, dachte er sich. Ben starrte das Bild an und stand regungslos da. Erneut fing Ben an zu frösteln.
Ben zögerte noch, ob er wirklich gehen sollte. Er fragte sich, ob er wirklich die Schuld an dem Ganzen hätte. Doch bei dem Versuch sich eine Wahrheit einzureden, die nicht existierte, bekam er Bauchschmerzen. Er nahm den Schlüssel in die Hand und ging zur Tür.
»Wo willst du hin«, fragte seine Mutter ermunternd. Stets versuchte sie das Haus mit einer gewissen Wärme zu füllen.
Ben hockte sich hin und zog seine Schuhe an. Er wusste nicht wieso, doch seine Stimme wurde energisch.
»Ich gehe zu ihm, Mama – ich muss es einfach.« Er sah sie entschlossen an und ging zur Tür. »Etwas anderes bleibt mir eh nicht übrig.«
Ben wollte schon die Tür schließen, als seine Mutter ihm noch etwas nachrief:
»Warte noch kurz. Wenn du schon hingehst, dann nimm doch die hier mit und leg sie ihm hin.«
Sie hielt ihm ein paar Blumen hin, die sie aus einer Vase auf der Kommode nahm.
»Ich weiß nicht so recht«, sagte Ben, dem die Blumen etwas unangenehm waren.
»Dann leg sie ihm von mir hin, in Ordnung?!«, erwiderte seine Mutter, die merkte, dass er zögerte die Blumen anzunehmen.
»Willst du auch bestimmt alleine hingehen?«, fragte sie Ben, der schließlich die Blumen entgegennahm. Ihre Augen ließen nicht von Ben ab. Sie wusste genau, dass Ben noch nie in so einer Situation war.
Noch nie musste er dort hin und diese Trauer spüren, weil einem geliebten Menschen etwas Schlimmes passiert war. Ben war sich sicher. Er wollte alleine hingehen. Er nickte nur kurz und ging dann zur Tür raus.
Es war nur leicht bewölkt und die Sonne stand hoch am Himmel, als Ben die Tür aufmachte und die Stufen mit wackeligen Beinen hinunter ging. Sie schien ihm direkt ins Gesicht. Ben hatte das Gefühl, als ob ein riesiger Scheinwerfer auf ihn gerichtet wäre.
In Gedanken verloren trottete er die Straße hinunter, den Blumenstrauß in der Hand hängend, auf und ab schwingend. Er starrte auf den Boden und verfolgte mit seinen grün-schimmernden Augen die wechselnden Muster des Pflasters. Tief versunken in seinen Gedanken bemerkte er nicht, wie ihn mehrere Leute auf seinem Weg grüßten. Er machte einen völlig abwesenden Eindruck, achtete kein bisschen auf den Weg, den er nahm.
Ben wusste noch nicht, was er sagen sollte. Sollte er überhaupt etwas sagen? Ihm rasten Gedanken durch den Kopf und bevor er auf einen davon eingehen konnte, kam ihm ein neuer Vorschlag in den Sinn. Doch keiner davon verschaffte Ben die benötige Klarheit.
Obwohl Ben, tief versunken in seiner inneren kleinen Welt, sich darüber den Kopf zerbrach, was er tun sollte und in Trance nichts wahrnahm, was rings um ihn passierte, blickte er auf einmal auf.
Sein Blick wanderte nach rechts und seine Hände ballten sich zu Fäusten. Seine Faust zitterte und die Zweige des Blumenstraußes brachen entzwei.
Dort stand das Haus der Familie Lange. Der Sohn, Adrian, war ein ehemaliger Klassenkamerad von Ben gewesen. Als Ben das Haus von Adrian und seinen Eltern sah, erinnerte er sich wieder genau, wie dieser ganze Alptraum begonnen hatte. Dicke, pochende Adern zeichneten sich an seiner Stirn ab.
Star und leblos blickte er die Straße hinunter – es lag nun fünf Jahre zurück...