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VORWORT
ОглавлениеIm Jahr 2018 feiert Österreich 100 Jahre Republik. Die Probleme, vor denen unser Land im Jahr 1918 stand, waren so riesig, dass die Staatsgründer zur Überzeugung kamen, dass sich diese nur lösen lassen, wenn die Bevölkerung über die Wahl des Parlaments ihr Schicksal selbst mitbestimmen kann. Demokratie und freie Wahlen, die nun auch Frauen offenstanden, währten leider nicht lange. Schon wenige Jahre später legten sich die Schatten des Austrofaschismus und des Nationalsozialismus über die junge Republik. So kurzlebig Demokratie und Freiheit in der Ersten Republik waren, so entscheidend wurden sie für das Wiederauferstehen unseres Landes nach dem Zweiten Weltkrieg.
Doch das Erfolgsmodell der repräsentativen Demokratie findet heute weder inner- und noch außerhalb Österreichs uneingeschränkte Zustimmung. Der Glaube an die Demokratie als „beste“ Staatsform und das Vertrauen in den Staat und die politischen Institutionen nimmt stetig ab. Die Gründe für diesen Vertrauensverlust sind vielfältig. Unzählige Analysen widmen sich der Krise des westlichen politischen Systems, dem Phänomen des Populismus und dem Aufkommen von Extremismus. In den Diskussionen zu diesem Thema fällt auf, wie viel Zeit der Beschreibung der Probleme gewidmet wird und wie wenig Aufmerksamkeit dem Nachdenken über neue Wege zur Erneuerung der Demokratie geschenkt wird.
Mehr und mehr befeuern die Populisten unsere Debatten. Sie treten mit dem Vorwurf an, dass die regierenden Eliten den wahren Volkswillen missachten würden, und fordern die Einführung der „direkten Demokratie“. Damit meinen sie allerdings meistens bloße Ja/Nein-Abstimmungen ohne einen breiten Dialog, ohne ein Ringen um tragfähige Kompromisse und ohne Schutz von Minderheiten. Doch viele gesellschaftspolitische Zukunftsfragen lassen sich nicht auf Ja/Nein-Entscheidungen reduzieren.
Philippe Narval beschreibt, dass sogar das meist als Vorbild gepriesene Schweizer Modell der direkten Volksentscheide in die Jahre gekommen und reformbedürftig ist. In den letzten Jahrzehnten haben Parteien wie die SVP das direktdemokratische Instrument in der Schweiz nicht selten für politische Stimmungsmache missbraucht. Wenn dabei jedoch die Grundrechte in Gefahr geraten, wie es bei der Abstimmung zur sogenannten „Durchsetzungsinitiative“ im Februar 2016 der Fall war, braucht es eine aktive Zivilgesellschaft, die dagegenhält. Dass damals gerade eine kleine Gruppe von Studentinnen und Studenten unter dem Namen Operation Libero den politischen Goliath SVP in die Knie zwang, war für viele politische Beobachter eine große Überraschung und ist eines der spannendsten Kapitel des vorliegenden Buches. Den „Liberos“ gelang es, mit ihrer aufklärerischen Gegenkampagne die Schweizer Bevölkerung für die heiklen Verfassungsfragen zu sensibilisieren und am Ende die öffentliche Meinung für sich zu gewinnen. Die Geschichte der Initiative zeigt, dass man sich nicht auf das Niveau der Populisten begeben muss, wenn es darum geht, Manipulation und billiger Stimmungsmache entgegenzutreten.
Eine konstruktive Weiterentwicklung unserer repräsentativen Demokratie darf also nicht auf die bloße Ausweitung direkt demokratischer Mittel wie Volksabstimmungen beschränkt werden. In der aktuellen politischen Lage können diese Instrumente sogar zu einer noch tieferen Spaltung der Gesellschaft führen und ebenso den europäischen Einigungsprozess blockieren. Wenn einzelne EU-Staaten über Themen, die alle Mitgliedsländer betreffen, nationale Abstimmungen organisieren, kann das schnell dazu führen, dass die EU handlungsunfähig wird. Die Volksabstimmung in Holland im Jahr 2016, an der sich nur knapp 32 Prozent der Wahlberechtigten beteiligten, führte zum Beispiel dazu, dass ein wichtiges Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine zu Fall gebracht wurde. Dass im Vorfeld der Abstimmung extremistische Kräfte über soziale Medien Stimmungsmache betrieben, wirft Parallelen zum Brexit und zur US-Präsidentenwahl im selben „Schicksalsjahr“ 2016 auf.
Doch welche alternativen Ansätze gibt es, um Politik, abseits von Wahlen und Abstimmungen, mit den Bürgern und Bürgerinnen zu machen und nicht gegen sie? Einige Politikwissenschaftler machen sich dafür stark, auf mehr Bürgerbeteiligung zu setzen. So wichtig deren theoretische Überlegungen als Grundlage für Reformen politischer Entscheidungsprozesse sein mögen, so sehr braucht es dennoch auch konkrete Schritte für Neues. Solch innovative Umsetzungsprozesse in der Praxis stehen im Mittelpunkt von „Die freundliche Revolution“. Philippe Narval erzählt Geschichten gelungenen Wandels, in denen Politikerinnen und Politiker zusammen mit Bürgerinnen und Bürgern neue Wege der Entscheidungsfindung und Beteiligung gehen. Dem Buch liegt die Überzeugung zugrunde, dass unsere Demokratie sich gerade in Zeiten massiver gesellschaftlicher Veränderungen weiterentwickeln muss, um fähig zu sein, die großen Probleme unserer Zeit zu lösen. Denn aufgrund der steigenden Komplexität der zu entscheidenden Themen ist die Einbeziehung unterschiedlicher Perspektiven und Sichtweisen der einzige Weg, um zu tragfähigen und nachhaltigen Lösungen zu kommen. Man braucht hier nur an Themen wie den Klimawandel, die Digitalisierung oder die Globalisierung zu denken, um zu wissen, was gemeint ist. Die Einbindung der Bürgerinnen und Bürger in die politische Entscheidungsfindung kann in Zukunft nicht mehr nur darauf reduziert werden, dass wir alle paar Jahre wählen gehen. Die Geschichten in diesem Buch bestechen durch die Vielfalt an Ansätzen, unsere demokratische Kultur zu erneuern. Seine Protagonisten reichen von der Kindergartenleiterin Rosi Lamprecht, die zeigt, wie man Mitentscheidung und Engagement schon im Kindergarten üben kann, bis hin zur Bürgermeisterin von Barcelona, Ada Colau, die Stadtentwicklung unter anderem über eine digitale Beteiligungsplattform betreibt.
Das von Philippe Narval anschaulich beschriebene Beispiel der irischen Citizen Assembly zeigt, wie gut auch einfache Bürger fähig sind, im Konsens wertvolle Reformempfehlungen zu Problemen zu entwickeln, an denen die Politik über Jahre gescheitert war. Die Irische Bürgerversammlung, in der 99 per qualifiziertem Zufallsverfahren ausgewählte Bürgerinnen und Bürger unter Einbeziehung von Fachexperten zu Zukunftsfragen und zur Reform der Verfassung zwischen 2016 und 2018 arbeiten, stand dabei nicht in Konkurrenz zum Parlament, sondern fungierte als wertvolle Ergänzung zu politischen Entscheidungsprozessen, die oft über Jahre in ideologischen Grabenkämpfen festgefahren waren. Das Thema Abtreibung sei hier nur als Stichwort genannt.
Solche neuen Formen der Beteiligung können der Politik aber auch helfen, Fachwissen viel effektiver einzuholen und Perspektiven von weniger organisierten Interessengruppen kennenzulernen. Auch das „partizipative Gesetzgebungsverfahren“, welches Axelle Lemaire erstmals 2015 als Digitalministerin in Frankreich umsetzte, beweist, dass die frühe Einbindung von Bürgerinnen und Bürgern in den Gesetzgebungsprozess einen großen inhaltlichen Mehrwert bringt. Politische Entscheidungsprozesse leiden nicht selten darunter, dass die Politiker und Politikerinnen eben nur eingeschränkt Zugang zu relevanten Informationen haben, beziehungsweise gut organisierte Interessengruppen und Lobbys den „Informationsmarkt“ dominieren. Offene Gesetzgebungsverfahren, wie das von Lemaire initiierte, wirken dem entgegen und machen zudem Entscheidungsprozesse transparent. In Zeiten, in denen viele Bürgerinnen und Bürger immer häufiger das Gefühl haben, dass Politik nur noch von Interessengruppen und Lobbys gemacht wird, bietet dieser Ansatz einen willkommenen Ausweg. Auch in Österreich spräche nichts dagegen, in die Gesetzgebungsverfahren breite Konsultationen einzubeziehen und sie offen und transparent zu gestalten.
Wenn Bürgerinnen und Bürger der Art und Weise, wie Politik gemacht wird, mit Misstrauen begegnen, haben Politiker und Politikerinnen oft das Gefühl, dass sie in ihrer Verantwortung alleingelassen sind oder dass sie sich sogar dem Willen des Volkes entgegenstellen müssten. Der Erwartungsdruck aus der Bevölkerung ist meist hoch und nicht alles, was an Wünschen an die Politik herangetragen wird, ist auch machbar oder gar sinnvoll. Gleichzeitig fordert der politische Zeitgeist, dass alles schnell gehen muss, ohne zu bedenken, dass gute Entscheidungen und Kompromissfindungen einfach auch ihre Zeit brauchen. Wenn es der Politik jedoch in dieser Situation gelingt, sich zu öffnen und Allianzen mit Bürgerinnen und Bürgern auch außerhalb politischer Parteien zu schmieden, kann das eine neue Chance für die Politik sein, besser verstanden und auch breiter akzeptiert zu werden.
Das Potenzial an „Aktivbürgern“, die sich für das Gemeinwohl engagieren oder eine hohe Bereitschaft zum Engagement haben, wird von der Politik oft gar nicht wahrgenommen. Anders ist das bei jenen Pionieren, die Philippe Narval in den Mittelpunkt seiner Überlegungen zur Weiterentwicklung der Demokratie stellt.
Der Bürgermeister einer kleinen Gemeinde in Vorarlberg setzt in der Dorfentwicklung auf den Dialog mit Menschen, die sich zwar engagieren, aber nicht unbedingt als Teil der Politik und schon gar nicht Teil einer Partei sein wollen. Die Stadt Dortmund bindet in die Stadtteilentwicklung des sozial und wirtschaftlich benachteiligten Nordens der Stadt ebenfalls „Aktivbürger“ ein. Sie sind als Expertinnen und Experten für ihr direktes Lebensumfeld akzeptiert und können Initiativen starten, die die Lebensqualität in ihren Vierteln sozusagen „bottom up“ verbessern. Diese Art von Beteiligung beinhaltet aber auch die Bereitschaft Verantwortung zu übernehmen.
Dass Beteiligung – insbesondere ihre neuen Formen – von beiden Seiten, nämlich von der Politik und den Bürgerinnen und Bürgern, gelernt werden muss und dass dieser Kulturwandel auch Zeit benötigt, betont der Autor zu Recht. Noch wichtiger erscheint ihm aber die innere Haltung, die die Politik braucht, um sich auf diese neuen Formen der Zusammenarbeit einzulassen. Ergebnisoffen zu arbeiten, wie es in Dortmund und Vorarlberg praktiziert wird, heißt für die Politik nichts anderes, als ohne vorgefertigte Antworten in den Dialog zu gehen, mit den richtigen Fragen und mit großer Offenheit für neue Lösungen. Dort, wo Beteiligung nur „eingesetzt“ wird, um Akzeptanz für Entscheidungen zu schaffen, die schon längst getroffen wurden, ist sie eine Show und daher abzulehnen.
Über die letzten Jahre haben wir uns beim Europäischen Forum Alpbach intensiv mit der Frage beschäftigt, wie es in Europa weitergehen kann. Die Digitalisierung, die Folgen der Globalisierung und des Klimawandels fordern unsere Gesellschaften enorm heraus. Sie sind aufgrund ihrer Komplexität nur schwer fassbar, verunsichern, ja machen häufig Angst. Es ist schwierig, in einem solchen Klima gemeinsame Lösungsansätze zu entwickeln. Dazu kommt, dass die Logiken der sozialen Netzwerke das Auseinanderdriften der Gesellschaft noch verstärken. Kein Wunder also, dass die Politik immer weniger in der Lage ist, den Menschen klarzumachen, dass es gute Lösungen gibt und die Zukunft nicht vorherbestimmt ist.
„Freundliche Revolutionen“ beweisen, dass eine Gegenbewegung in Gang gekommen ist, der bisher zu wenig Beachtung geschenkt wurde. Ob in Vorarlberg, Irland, Barcelona oder Dortmund, überall in Europa entstehen neue Initiativen und begegnen Politik und Bürger einander im Dialog. Die Experimente, die Philippe Narval beschreibt, sind längst über den Prototypenstatus hinausgewachsen und haben sich in der Praxis bewährt. Beteiligung und partizipative Demokratie, um das Wissen breiter Bevölkerungsgruppen in politische Prozesse einzubinden und Entscheidungen auf eine breite Basis zu stellen, haben „Praxisreife“ erlangt. Man kann erfolgreich das Potenzial der „Aktivbürger“ ausschöpfen und deren Engagement besser nutzen. Es gelingt, Entscheidungshilfen zu schwierigen Zukunftsthemen abseits der Interessenpolitik zu entwickeln. Wir haben die notwendige Kenntnis und wir haben dank dieses Buches nun auch einen „Reisebericht“ aus der Praxis. Worauf warten wir also? Gehen wir gemeinsam voran, wir erweisen damit unseren Demokratien einen guten Dienst!
Dr. Franz Fischler
Präsident des Europäischen Forum Alpbach