Читать книгу Die freundliche Revolution - Philippe Narval - Страница 7
EIGENE IRRWEGE ERKENNEN
ОглавлениеVon einem ereignisreichen Abend in New York, wie Ungleichheit und die Dynamiken sozialer Netzwerke unsere Demokratie gefährden und warum wir für die komplexen Probleme der Gegenwart neues politisches Handwerkszeug brauchen.
Am frühen Abend des 8. November 2016 stand ich auf der Lower West Side in der kalten Herbstluft New Yorks in einer langen Menschenschlange. Zusammen mit Hunderten Menschen aus dem ganzen Land wartete ich nicht etwa auf die Präsentation eines neuen iPhones oder eine Filmpremiere, sondern ich wollte dabei sein, wie Geschichte geschrieben wird. Erstmals sollte eine Frau zur Präsidentin der Vereinigten Staaten gewählt werden und ein langer, zermürbender Wahlkampf seinen erwarteten Abschluss finden. Um das Javits Center, ein gläsernes Konferenzgebäude mit mehreren Hallen und Tausenden Quadratmetern Veranstaltungsfläche, waren Sicherheitskordons mit Hunderten Polizeikräften positioniert, die jede Akkreditierung genau prüften. Mit Sand gefüllte Lastwägen der Stadtverwaltung blockierten bei laufenden Motoren die Zufahrten zum Kongressgebäude, um einen Terroranschlag, wie er Nizza im Sommer davor erschüttert hatte, unmöglich zu machen.
Dank der Einladung durch meinen Freund Robby Mook, Kampagnenleiter von Hillary for America, stand ich nun mit den Spitzen der Demokratischen Partei, Wegbegleitern von Hillary Clinton, Spendern und Kampagnenleuten aus den gesamten USA in einer Warteschlange an, um bei der Feier des Jahres dabei zu sein. Der elegant gekleideten Dame Mitte 50, die neben mir wartete, würde nach dem Wahlsieg wohl eine besondere Rolle zukommen. Wie sich im Gespräch herausstellte, war sie die persönliche Inneneinrichtungsberaterin von Hillary Clinton und würde nun bald die Gelegenheit bekommen, einem ganz besonderen Haus in Washington eine persönliche Note zu verleihen. Details zur Farbwahl der Vorhänge oder Inneneinrichtung konnte ich nicht in Erfahrung bringen, denn es ging schon weiter durch die Metalldetektoren und den Sicherheitscheck. Ich verabschiedete mich und spazierte an einer Halle mit Hunderten akkreditierten Journalisten aus der ganzen Welt vorbei in den hell erleuchteten Glasbau.
Doch es kam anders, als wir alle zu Beginn dieses Abends gedacht hatten. Robby Mook, der zwei Jahre als Kampagnenleiter auf einen Wahlsieg hingearbeitet hatte, bekam ich genauso wenig zu Gesicht wie Hillary Clinton. Mit jeder Stunde verging den Besuchern im Javits Center die Feierlaune und allmählich machte sich Totengräberstimmung unter den geladenen Gästen breit. Um mich sah ich nur erstarrte, sprachlose Gesichter.
Spätestens nach den Ereignissen dieses Abends wurde vielen klar, dass wir die Art, wie wir unsere Demokratie leben und gestalten, grundlegend erneuern müssen, wenn wir wollen, dass sie im Zeitalter des Populismus überlebt. Mit Donald Trump wurde jemand gewählt, der eine Art Anti-Politik betreibt. Trump wurde durch die konstante Erniedrigung anderer, durch permanente Eskalationen und durch das Anstacheln von negativen Emotionen und Stimmungen unter Nutzung oft falscher Meldungen groß. Die Logik vieler Fernsehsender, die die permanente Grenzüberschreitung suchen, um Zuschauer zu halten, gab ihm eine freie Werbeplattform.
Im Hintergrund manipulierte die Trump-Kampagne auch gezielt und mit bisher nicht dagewesener Perfektion Wähler in den sozialen Netzwerken. Dennoch lief die Wahl wohl verfassungskonform ab und Trump gewann die nötige Mehrheit der Wahlmänner für sich, wenn auch nicht die Mehrheit der insgesamt abgegebenen Stimmen. Das Problem an seinem Sieg ist nicht, dass jemand mit ideologischen Ansichten gewählt wurde, die wir vielleicht nicht teilen. Es geht vielmehr darum, dass über ein demokratisches Verfahren jemand an die Macht kommen konnte, der keinen Respekt vor demokratischen Institutionen und Spielregeln hat. Die Demokratie kann sich unter einer Diktatur der Mehrheit selbst abschaffen.
Dabei hatten einige schon vor der Wahl Trumps gewarnt, dass die wachsende Unzufriedenheit mit der Politik in der Bevölkerung und das Gefühl der Bürger, nicht repräsentiert zu sein, die Demokratie insgesamt gefährden würden. Martin Gilens von der Princeton University und Benjamin I. Page von der Northwestern University belegten 2014 in ihrer Studie zur US-amerikanischen Politik („Testing Theories of American Politics: Elites, Interest Groups, and Average Citizens“), dass dieses Gefühl auch der Realität entspricht und Eliten einen überproportional großen Einfluss auf konkrete Politikentscheidungen in den USA haben. Wenn die Interessen der Mittelschicht oder unteren Mittelschicht auf die von Wirtschaftseliten oder Interessengruppen treffen, zögen die Bürger meist den Kürzeren, zeigten die Forscher in ihrer Analyse.
Wachsende Ungleichheit gefährdet die Demokratie
Gilens und Page arbeiteten mit einem einzigartigen Datensatz an Ergebnissen nationaler Umfragedaten zu spezifischen Politikfragen, die für den durchschnittlichen US-Bürger relevant und verständlich waren und im Zeitraum zwischen 1981 und 2002 gesammelt wurden. Die Ergebnisse der jeweiligen Befragungen, die immer eine Ja-/Nein- oder Pro-/Contra-Antwort ergaben, verglichen sie mit den konkreten Politikentscheidungen des Weißen Hauses oder des Kongresses zum jeweiligen Thema. Die Meinung der kleinen, wohlhabenden Schicht Amerikas, die man aus den Umfragedaten filtern konnte, deckte sich meist mit den endgültigen politischen Entscheidungen.
Am Ende ihrer Studie, die in einem renommierten Fachjournal der American Political Science Association („Amerikanische Gesellschaft für Politikwissenschaft“) publiziert wurde, bekräftigten die beiden Wissenschaftler, dass Politikentscheidungen von mächtigen Wirtschaftsorganisationen und einer kleinen Gruppe Wohlhabender dominiert würden. Der Anspruch der USA, eine Demokratie zu sein, ist ihrer Meinung nach in Gefahr, auch wenn nach außen hin regelmäßige Wahlen, das Recht auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit sowie ein relativ breites Stimmrecht den Anschein erwecken, das sei nicht der Fall.
Parallel dazu konnte man in den USA seit den 1970er-Jahren neben der wachsenden politischen Ungleichheit eine real ansteigende Ungleichheit bei den Einkommen nachweisen. Der französische Ökonom Thomas Piketty und sein Kollege Emmanuel Saez belegten unter anderem in einer 2014 im Wissenschaftsmagazin Science erschienenen Studie, dass der Abstand zwischen den Top 10 Prozent der Einkommensbezieher und dem Rest immer größer wurde. In den USA war seit den 1970er-Jahren der Anteil, den diese Elite am gesamten nationalen Lohnkuchen hatte, von knapp 35 auf fast 50 Prozent angestiegen. Die Reichen verdienten mehr, die Einkommen der Mittelschicht und der Armen stagnierten oder sanken. Diese Einkommensungleichheit ist gepaart mit einer wachsenden Ungleichheit bei den Vermögen. Piketty schätzt, dass die reichsten 10 Prozent unter den Amerikanern 70 Prozent des Gesamtvermögens im Land besitzen.
Der Nobelpreisträger Robert J. Shiller, der als Berater von Banken und Finanzkonzernen und überzeugter Anhänger der Globalisierung nicht im Verdacht steht, ein Linker zu sein, warnte schon 2013 vor der Zersetzung der Gesellschaft. Durch die wachsende Ungleichheit zerfalle diese immer stärker in eine „kosmopolitische Klasse“ und eine „lokale Klasse“. Die eine ist weltgewandt und vermögend, bestens gebildet und bestens bezahlt, während die Mitglieder der Unter- und Mittelschicht real kaum mehr verdienen als vor zwanzig Jahren und froh sind, wenn sie ihren Job nicht verlieren.
Auch wenn die Situation in Europa nicht gänzlich mit der in den USA vergleichbar ist, sollte uns dennoch klar sein, dass wachsende Ungleichheit und die fehlende Berücksichtigung der Anliegen breiter Bevölkerungsschichten am Ende den Glauben an die Demokratie als beste aller Regierungsformen zerstören. Das Erstarken autoritärer Regime in Osteuropa, der Brexit und die Erfolge rechter und linker Extremisten überall auf unserem Kontinent sollten uns auf jeden Fall zu denken geben.
Es mag nicht rational, sondern sogar kontraproduktiv für ihre eigenen Interessen und langfristig zerstörerisch für alle sein, wenn Bürger in dieser Lage Populisten wählen. Auch wenn ich sie nicht gutheiße, kann ich diese Entscheidungen zumindest nachvollziehen. Ich weiß, dass AfD- oder Le-Pen-Wähler überwiegend keine hasserfüllten Menschen sind, die Böses wollen, wie mancher abgeklärte Kommentator es gerne darstellt. Natürlich ist es am einfachsten, wenn wir diesen Wählern absprechen, auf Basis von Werten und ernstgemeinten Anliegen zu entscheiden. Aber damit werden wir auch nie verstehen, welche tieferen Gründe hinter den Wahlentscheidungen der Menschen stehen.
Nicht alle diese Gründe sind legitim und nicht alle Sorgen sind gleichermaßen berechtigt, aber eines ist klar: Derzeit sind die Populisten Europas oft die Einzigen, die das innere Gefühl der Verunsicherung der Menschen ansprechen und bestätigen. Sie sagen klar, dass etwas falsch läuft, auch wenn ihre Schlüsse falsch sind und sie am Ende nichts anzubieten haben, außer den Zustand der permanenten Unsicherheit und Angst aufrechtzuerhalten.
Wir können jetzt fortfahren und weiter bejammern, wie unreif Menschen sind, die diesen Argumenten Glauben schenken, während ihre Zahl immer größer wird. Alternativ können wir karitativ, herablassend fordern, dass wir diese Menschen wieder erreichen müssen und zu ihnen gehen sollen, ohne es wirklich zu meinen, weil wir insgeheim die Brutwärme schicker Cafés mit Baristas und WLAN nicht verlassen wollen oder weil wir vielleicht auch ein Stück weit Verachtung verspüren gegen die großen Flatscreens an der Wand, die Tiefkühlpizza und den Trainingsanzug in den Vorstädten – so stellt sich mancher die Welt dieser Wähler nämlich vor. Sind wir ehrlich bereit, einmal ein offenes und ehrliches Gespräch zu führen, dem anderen zuzuhören und auf seine Argumente, auch wenn sie vielleicht nicht immer politisch korrekt sind, einzugehen? Sind wir bereit, auf Augenhöhe und nicht aus Überlegenheit heraus in einen Dialog zu treten und im Notfall auch kultiviert zu streiten?
Die Erklärungsversuche der Krise unserer Demokratie füllen schon ganze Regalwände in den Buchhandlungen, aber können sie auch als Weckruf dienen? Ein Weckruf, der uns dazu anspornt, die Art und Weise, wie wir unser demokratisches Zusammenleben organisieren, grundlegend zu erneuern, um Menschen wieder reale Teilhabe zu ermöglichen? Lange Zeit waren Demokratie und Politik Thema für Sonntagsreden. Es war langweilig, sich damit zu beschäftigen, und schwer zu verstehen, warum wir etwas an einem System ändern sollten, das nach außen hin den Anschein machte, gut zu funktionieren. Wir hatten ein angenehmes Leben und überließen das Entscheiden den Profis, die dafür gewählt wurden und über die man sich immer und überall unhinterfragt beschweren konnte, genauso wie über das Wetter. Es geriet in Vergessenheit, dass die Institutionen unseres Rechtsstaats und unsere Bürgerrechte das Ergebnis eines jahrhundertelangen Kampfes um mehr Mitbestimmung und Gleichberechtigung auf unserem Kontinent sind.
→ Demokratie war immer im Werden und viele Freiheiten, die uns heute als selbstverständlich erscheinen, wurden vor gar nicht allzu langer Zeit errungen.
Der Kampf um Mitbestimmung
Unsere westliche Demokratie wurde ursprünglich als Elitenprojekt aufgesetzt und man misstraute den „unberechenbaren Massen“ über lange Zeit. Über Einschränkungen des Wahlrechts konnten lediglich wohlhabende weiße Männer mitentscheiden. Das war in vielen Staaten Europas, in denen man nach den Napoleonischen Kriegen allmählich das auf eine kleine Gruppe beschränkte Wahlrecht einführte, ebenso der Fall wie in den USA, die sich Ende des 18. Jahrhunderts ihre Unabhängigkeit von der britischen Krone erkämpften. Die Demokratiegeschichte ist deshalb auch ein Aufbegehren der Ausgegrenzten gegen eine mächtige, kleine Elite gewesen, die mit der Zeit und auch als Folge von Wirtschaftskrisen und Weltkriegen ein Stück ihrer Macht aufgeben mussten. Nehmen wir das Beispiel des Frauenwahlrechts, das die damals gerade gegründete Österreichische Republik 1918 als eines der ersten Länder in Kontinentaleuropa einführte. In Frankreich wurde dieses für uns heute selbstverständliche Recht erst nach dem Zweiten Weltkrieg gesetzlich verankert und im Musterland der „direkten Demokratie“, der Schweiz, mussten Frauen bis 1971 warten, um bei Parlamentswahlen ihre Stimme abgeben zu dürfen.
Es ist an der Zeit, diesen Kampf für eine lebendige Demokratie wiederaufzunehmen. Anders als in der Vergangenheit geht es in den reifen Demokratien Europas nicht um die Ausweitung des Wahlrechts oder unserer Grundrechte, sondern um das Eintreten für eine neue Kultur der Beteiligung und der verantwortungsbewussten Bürgerlichkeit. Dabei müssen wir zuerst den Glauben an die Gestaltungsmacht der Politik und unsere eigene Verantwortung in ihr zurückgewinnen. Wie oft haben wir über Jahre das Mantra nach der Unfähigkeit der Politiker nachgebetet, anstatt uns selbst zu engagieren? Wie oft haben wir uns den Satz „Auf mich kommt es nicht an“ vorgesagt? Wie oft haben wir uns gedacht: „Ich kann ja keinen Unterschied machen.“? Aber genau an dieser Haltung droht unsere Gesellschaft zu zerbrechen.
→ Jeder und jede von uns kann und muss einen Beitrag leisten, denn es gibt kein Dauerabonnement auf Demokratie.
Wir sind zu lange der Überzeugung nachgehangen, dass die Märkte für Wohlstand und Sicherheit sorgen können. Dieses Weltbild, das auf einem rational, nach Eigeninteressen handelnden „Homo Oeconomicus“ aufbaut, kristallisierte sich im Credo Margaret Thatchers: „There is no alternative.“ Damit meinte die 2013 verstorbene ehemalige britische Premierministerin, dass es keine Alternative zum Gesellschaftsmodell des freien, allumfassenden Marktes und der Selbstentfaltung im immerwährenden Konsum gäbe. Wir haben durch die Dominanz dieses Denkens nicht nur verlernt, unser gängiges Gesellschaftsmodell zu hinterfragen, sondern auch die Politik entpolitisiert und damit die Menschen entmutigt, ihre Zukunft zu gestalten. Der Markt wird alles lösen, oder wie wir nun oft aus dem Silicon Valley hören: Die digitale Revolution wird alle Probleme beseitigen.
→ Demokratie kann nur funktionieren, wenn wir Menschen spüren, dass Probleme auf politischem Wege gelöst werden können. Wenn wir daran zweifeln, wird sie zur leeren Worthülse.
Die Politik muss der Bürgerschaft die Möglichkeit zugestehen, abseits von Wahlen und Abstimmungen Zukunftslösungen mitzugestalten und anerkennen, dass diese Lösungen dadurch auch tragfähiger und nachhaltiger werden. Wir Bürger müssen wiederum einsehen, dass Beteiligung nicht heißt, dass automatisch unser Wille geschieht, sondern die Kunst der Kompromissfindung Zeit braucht.
Die Qualität des guten Dialogs — das einander Zuhören und das aufeinander Zugehen — und das Vertrauen darauf, dass ein guter Weg erst entsteht, wenn wir ihn gemeinsam gehen, auch wenn wir damit anfänglich langsamer sind, stehen am Beginn des Wandels hin zu einer qualitätsvollen Beteiligungskultur. Dieser Wandel hat längst begonnen und die freundliche Revolution schreitet dort voran, wo Bürgerschaft und Politik gemeinsam bessere Lösungen suchen.
Die digitale Herausforderung
Das Abkapseln von der jeweils anderen Seite des Meinungsspektrums wird uns nicht weiterbringen. Dass die virtuellen Netzwerke unsere gesellschaftlichen Abschottungstendenzen durch ihre inneren Steuerungsmechanismen noch befördern, ist fatal. „Ändert sich das Medium, ändert sich auch die Gesellschaft“, hat der Philosoph und Kulturhistoriker Walter Benjamin (1892–1940) einmal gesagt. Gerade erleben wir die brutale Realität hinter diesem einfachen Satz. Vor mehr als 500 Jahren war es die Erfindung des Buchdrucks, die enorme, gesellschaftliche Umwälzungen auslöste. Diese technische Innovation brachte die Vorherrschaft der katholischen Kirche ins Wanken und befeuerte Religionskriege, genauso wie sie den Zugang zu Bildung und Wissen enorm verbreiterte und damit die Grundlage für die Aufklärung schuf.
Digitalisierung und das Internet wurden anfänglich auch als Aufbruch in eine neue Epoche der Aufklärung interpretiert. Allein der Zugang zu mehr und jederzeit verfügbarem und indexiertem Wissen würde die Menschheit vor Radikalisierung und Ideologien schützen, so die Annahme. Aber diktatorische Regime wie der Iran, Ägypten oder China begannen bald darauf, die Werkzeuge der Digitalisierung gezielt zur Manipulation und Überwachung ihrer Bürger einzusetzen. Wir brauchen jedoch heute gar nicht dorthin zu blicken, um zu erkennen, dass die digitale Vernetzung nicht automatisch zu mehr Kooperation und Wissensaustausch führt. Hass im Netz, Cybermobbing und Echokammern sind der Beweis dafür. In Europa haben wir uns freiwillig digitalen Plattformen ausgeliefert, die in der Art, wie sie funktionieren, unsere Demokratie und den sozialen Zusammenhalt gefährden. Auf der einen Ebene fördern die Algorithmen der sozialen Medien, also die mathematische Logik, nach der Nachrichten jeglicher Art geteilt und hervorgehoben werden, ganz gezielt die Bildung von Echokammern. Das Kalkül dahinter ist einfach, denn die Plattformen finanzieren sich durch Werbeeinnahmen und wollen Nutzer so lange wie möglich halten und idealerweise dazu bringen, viel Werbung zu konsumieren. Dabei geht es für die Konzerne um viel Geld und alleine Facebook und Alphabet, das Mutterschiff von Google und YouTube, kontrollieren mehr als die Hälfte des digitalen Werbebudgets der Welt, wie eine Studie der GroupM herausfand.
Der Mensch hat die Tendenz, sich grundsätzlich lieber mit Meinungen auseinanderzusetzen, die sein eigenes Weltbild bestätigen, als mit jenen, die es infrage stellen. 1,7 Milliarden Menschen besuchen zum Beispiel täglich Facebook. Um zu erreichen, dass sie immer wiederkommen, füttert die Plattform sie mit Inhalten, die sie gerne sehen und dann mit anderen teilen. Wir bleiben dabei unter Gleichgesinnten und wenn wir in den digitalen Raum hineinrufen, bekommen wir unser Echo in Form von ähnlichen Meinungen und Ansichten zurückgespielt. Dabei können sich gewisse Segmente auch radikalisieren, ganz egal zu welcher weltanschaulichen Richtung sie gehören.
→ Wir befinden uns im permanenten digitalen Selbstbestätigungsmodus und der für ein umfassenderes Weltbild notwendige Widerspruch kommt uns abhanden.
Wenn wir vorwiegend in digitalen Räumen kommunizieren, die unsere eigenen Sichtweisen bestätigen oder verstärken, fällt es uns schwerer, Kompromisse einzugehen und anderen Haltungen Gehör zu schenken. Wir bauen ein digitales Gefängnis für unsere Gedanken und Meinungen und merken nicht, dass wir verlernen, miteinander in Dialog zu treten. Die gesellschaftliche Segregation wird digital verstärkt und unserem Diskurs kommt die Vielfalt abhanden, die er braucht, um zu guten Entscheidungen zu kommen.
Facebook und Konsorten haben die Fähigkeit, unsere Aufmerksamkeit zu bannen wie kein anderes Medium, verfügen aber bewusst über wenige Mechanismen, um Lüge von Wahrheit zu trennen. Was zählt, ist alleine die Währung Aufmerksamkeit.
Am Meinungskrieg beteiligen sich mittlerweile nicht nur Randgruppen und Extremisten. Auch Staaten machen sich die neuen Möglichkeiten, mit Falschnachrichten im Netz psychologische Kriegsführung zu betreiben, zunutze. Es ist ein Krieg ohne Kampf. Ob es Falschmeldungen über nie stattgefundene Vergewaltigungen durch deutsche Soldaten in Litauen sind, die im Zuge einer NATO-Mission dort stationiert waren, oder die Verbreitung einer manipulierten Meldung auf der gehackten Regierungsseite des Golfstaates Katar – beides Ereignisse des Jahres 2017: Die Drahtzieher zielen immer darauf ab, die Souveränität, Legitimität oder Funktionalität ihres Gegners zu schwächen. Wir müssen im digitalen Zeitalter aber auch zur Kenntnis nehmen, dass fremde Mächte aus der Ferne auf demokratische Wahlen Einfluss nehmen können. So hat Facebook zum Beispiel selbst zugegeben, dass in Russland generierte Inhalte und aus Russland bezahlte Anzeigen während der US-Präsidentenwahl 2016 über 126 Millionen US-Amerikaner und damit 40 Prozent der Wähler erreicht haben.
→ Während „Fake News“ und „Echokammern“ als Begriffe mittlerweile in unseren Sprachgebrauch Eingang gefunden haben, fehlen uns die Strategien, wie wir ihrem gezielten Einsatz zur Manipulation Einhalt gebieten können.
Dabei geht die Entwicklung aber weiter und wir sind heute mit ganz neuen Methoden konfrontiert, die Menschen aufgrund ihres Verhaltens im Netz präzise einordnen können und darauf aufbauend gezielt mit individualisierten Botschaften bespielen. Wie der Schweizer Journalist Hannes Grassegger und sein Kollege Mikael Krogerus im Dezember 2016 aufdeckten, wurden diese Methoden erstmals von der Pro-Brexit-Kampagnenorganisation Vote Leave vor der Volksabstimmung über die EU-Mitgliedschaft des UK im Juni 2016 und danach von Donald Trump eingesetzt.
Die Technologie der Firma Cambridge Analytica legt zuerst auf Basis von unterschiedlichsten Quellen sehr verlässliche, aussagekräftige Persönlichkeitsprofile von Bürgern an — in den USA alleine von 220 Millionen Menschen — und beschickte diese über Facebook dann mit individualisierten Botschaften, auf die ihr Persönlichkeitstypus am ehesten ansprechen würde. Die Trump-Kampagne konnte so 50.000 bis 60.000 leicht unterschiedliche, auf das jeweilige Persönlichkeitsprofil ausgerichtete Werbeeinschaltungen pro Tag an die Nutzer senden. Wie das funktioniert, erklärte der englische Direktor von Cambridge Analytica, Alexander Nix, in einem Vortrag im September 2016 in New York anhand des in den USA umstrittenen Themas Waffenbesitz. Eine Person, deren Persönlichkeitsprofil einen Hang zu Ängstlichkeit und Unsicherheit aufwies, bekam zum Beispiel ein Bild eines Wohnungseinbruchs in die Nachrichtenleiste gestellt und eine Botschaft dazu, die das Recht auf Waffenbesitz als „Versicherungsschutz“ darstellte. Jemand mit einer traditionellen, bewahrenden Weltsicht erhielt hingegen ein romantisiertes Bild eines Vaters mit seinem Sohn beim Jagen.
Nun ist die Psychometrie, der Versuch, die Persönlichkeit des Menschen zu vermessen, nichts Neues. Doch erstmals konnten durch das gezielte Zusammenführen aller digitalen Spuren, die Menschen im Netz hinterlassen, verlässliche Psychogramme von Millionen Individuen erstellt werden. Nicht nur Republikaner wurden so Ziel der Kampagne, auch eher den Demokraten zugeneigte Afroamerikaner bekamen in wahlentscheidenden Bezirken individualisierte Botschaften mit negativen Statements, die viele davon abhielten, zur Wahl zu gehen. Solche Methoden vergrößern nicht nur die Kluft zwischen den politischen Lagern, sondern öffnen Möglichkeiten der Manipulation und Beeinflussung abseits jeglicher Kontrolle. Für eine faire und gerechte Wahlauseinandersetzung, die Grundlage unserer repräsentativen Demokratie ist, können sie den Todesstoß bedeuten. Es ist nebensächlich, dass sich bis dato nur das konservative Lager dieser Methoden bedient hat. Extremisten und Propagandisten, ganz egal auf welcher Seite des Spektrums, werden diese Methoden nutzen, wenn dem nicht durch Regulative Einhalt geboten wird. Es braucht dafür unter anderem eine eindeutige Kennzeichnung von jeglicher politischen Werbung auf sozialen Medien und ein Verbot des Sammelns von persönlichen Daten ohne die Zustimmung der Nutzer.
Vertrauensverlust in Institutionen
Bei all diesen Entwicklungen ist die repräsentative Demokratie nicht mehr konkurrenzlos, wenn es darum geht, welches Modell weltweit als Vorbild für Regierungsführung dienen soll. Immer öfter hört man in Gesprächen in und außerhalb Europas von den Vorteilen gelenkter Regime. Zum Beispiel wird die gelenkte Demokratie Singapurs aufgrund ihrer effizienten Verwaltung und wirtschaftlichen und sozialen Stabilität als beispielgebend erwähnt.
Das Vertrauen in die Demokratie als die beste Regierungsform schwindet auch in Österreich. In einer Umfrage des SORA Institute 2017 beantworteten 78 Prozent der Befragten die Frage „Ist Demokratie die beste Regierungsform?“ positiv, zehn Jahre davor waren es noch 86 Prozent. Parallel dazu weisen auch globale Erhebungen, wie der Edelman Trust Barometer, ein sinkendes Vertrauen in Regierungen und deren Vertreter besonders in westlichen Demokratien aus. Dieser Vertrauensverlust betrifft aber längst nicht nur die Politik. So misstrauen in Deutschland, Frankreich und England mehr als 60 Prozent der Gesamtbevölkerung den Institutionen der Wirtschaft, der Politik, der Medien und sogar jenen der Zivilgesellschaft.
Ist das verwunderlich? Die deutsche Autoindustrie wird nach dem Dieselskandal, einem massiven Betrug an den Kunden, zu einem lächerlichen Softwareupdate verpflichtet und weiter nichts. Wie würde es einem Fleischer ergehen, der seine Kalbswürste mit Gammelfleisch füllt, oder einem Bäcker, der sein Brot mit Sägemehl versetzt? Die Finanzkrise in Europa wird mit der Rettung von insolventen Banken und kosmetischen Eingriffen in die Gesetzgebung für „beendet“ erklärt, auch wenn uns die Staatsschulden, die daraus zusätzlich entstanden sind, über Generationen hinweg belasten werden. Wie ergeht es einem Arbeiter, der seinen Wohnungskredit nicht mehr bezahlen kann oder die Zinsen für seinen Konsumkredit? Als Bürger brauche ich kein Hochschulstudium, um zu erkennen, dass hier etwas falsch läuft.
Die Politik erweckt damit den Eindruck, Probleme nicht mehr lösen zu können. Das hängt auch mit den wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen seit den 1970er-Jahren zusammen. Seit dieser Zeit erleben wir eine Verlagerung der realwirtschaftlichen Aktivitäten hin zur Finanzspekulation. Eine dadurch steigende Einkommens- und Vermögensungleichheit lässt die Mittelschicht in Europa erodieren. Sie aber ist der Garant stabiler gesellschaftlicher Verhältnisse. Die Enthüllungen der sogenannten „Paradise Papers“ über die Steuertricks der Reichen haben bei vielen den Eindruck verstärkt, dass die Eliten nichts von der Idee einer solidarischen Gesellschaft halten.
Von Politik- und Bürgerverdrossenheit
Die Politik kämpft dabei nicht nur mit gesellschaftlichen Problemen, sondern auch mit Problemen im Inneren. Macht isoliert und schottet immer zu einem gewissen Teil ab, im Extremen verliert sie den Bezug zur Lebensrealität und die Empathiefähigkeit. Die fehlende Durchlässigkeit der politischen Machtstrukturen wird dadurch verstärkt, dass heute die Mehrheit der Verantwortungsträger, seien es Minister, Landesräte oder Abgeordnete, fast immer Berufspolitiker sind und wenige Ankerpunkte außerhalb des Systems haben. Als Politiker lernt man Bürger dann entweder nur noch als Bittsteller mit einer Forderung oder im Netz als „Wutbürger“ kennen, aber nicht als kompetente Mitmenschen. Schwache Parlamente lassen sich Gesetze von einer immer dominanteren Exekutive zur Entscheidung vorlegen, anstatt selbst Initiative zu ergreifen. Gleichzeitig wundern sich jene engagierten und verantwortungsvollen Politiker zu Recht, wenn gute Arbeit nicht honoriert wird und pauschal eine gesamte Klasse mit Verachtung vorverurteilt wird. Die jährlich wiederkehrenden Diskussionen um die scheinbar zu hohen Politikergehälter tragen außerdem dazu bei, dass auch in der Politik eine „Bürgerverdrossenheit“ zu verspüren ist.
Dieses Gefühl ist jedoch teilweise auch berechtigt. Zu oft erlebt man, wie Bürger ihr egoistisches Eigeninteresse über das öffentliche stellen. Schnell ist eine Initiative gegründet, um gegen dieses oder jenes Bauvorhaben zu mobilisieren, auch wenn dieses dem Gemeinwohl dienen sollte. Auf Englisch werden diese militanten Verhinderer „Nimbys“ genannt, nach den ersten Buchstaben von „Not in my backyard!“. („Nicht in meinem Hinterhof!“)
Die Menschen sind es gewohnt, in der „Alles-und-sofort“-Konsumkultur ihre Wünsche schnell befriedigen zu können und verzweifeln oft an der Langsamkeit von politischen Entscheidungsprozessen, weil ihnen das nötige Verständnis für die Notwendigkeit der Abwägung und Kompromissfindung fehlt, die unsere Demokratie auszeichnet. Die Apathie, die sich über Jahrzehnte durch eine sinkende Wahlbeteiligung manifestiert, ist ebenso wenig gerechtfertigt wie das Ignorieren legitimer Bürgeranliegen durch die Politik. Bürgerschaft und Politik scheinen sich also auseinandergelebt zu haben und Misstrauen prägt ihr Verhältnis.
Verantwortung für unseren Planeten Erde übernehmen
Dabei brauchen besonders Zeiten der Veränderung Handlungsfähigkeit und Vertrauen ineinander, denn die Probleme, die unsere Gesellschaften zu bewältigen haben, sind enorm. Zu oft blenden wir sie aus, denn wir haben uns gut eingerichtet in unserer marktkonformen Gesellschaft, die über Jahrzehnte versprochen hat, dass es jeder nächsten Generation materiell besser gehen wird. Wir spüren nun, dass diese Erzählung nicht mehr trägt und sich auch das über 12.000 Jahre dauernde Erdzeitalter Holozän überholt hat. Das Ende dieses Erdzeitalters, das unserem Planeten über lange Perioden stabile ökologische und klimatische Bedingungen beschert hat, ist ganz unaufgeregt eingeläutet worden. Die Wissenschaftler der Internationalen Stratigrafischen Gesellschaft haben entschieden, dass genügend Evidenz vorliegt, um ein neues Erdzeitalter mit dem Namen Anthropozän auszurufen. In ihm ist der Mensch der bestimmende Faktor im Ökosystem. Jetzt müssen die Wissenschaftler nur noch festlegen, welche Marker in den Sedimentschichten des Planeten den offiziellen Beginn am besten darstellen. An Auswahl mangle es nicht, so die Geologen: Sie reicht von radioaktiven Sedimenten, die wir den ersten Atomtests der 1950er-Jahre verdanken, bis zum massiven Auftauchen von Hühnerknochen – dem Totemtier der Massentierhaltung schlechthin – auf den Mülldeponien unseres Planeten. Irgendwo in den Dekaden der Babyboomer der 1950er- und 1960er-Jahre wird er aber liegen, der offizielle Beginn unserer planetarischen Allmacht.
Wie kann eine Gesellschaft aussehen, die dem Globus wieder Respekt und Würde verleiht und unsere planetarischen Grenzen respektiert? Wie gelingt der Kulturwandel hin zu einem „Planetary Stewardship“, also einer Haltung von globaler Verantwortung und Fürsorge, wenn der Konflikt mit den Naturgewalten und Mangelsituationen, denen der Mensch über Jahrtausende ausgeliefert war, so tief in unserem Unterbewusstsein verankert scheint? Kein anderer als das Oberhaupt der katholischen Kirche, Papst Franziskus, stellt diese Frage in seiner 2015 veröffentlichten Enzyklika Laudato si. Es mag ironisch sein, dass der höchste Vertreter einer Institution, die über Jahrhunderte hinweg nicht gerade ein Treiber von Aufklärung und Wissenschaft war, nun auf Basis fundierter wissenschaftlicher Erkenntnisse als Mahner für Umwelt und Klimaschutz auftritt. Doch das macht seine Fragen nicht minder relevant.
Konfliktlinien brechen auf
Über diese Fragen nachzudenken, ist in Zeiten wie diesen mehr als dringlich, denn große Konfliktlinien brechen gerade auf: zwischen Generationen, zwischen Nationalstaaten und zwischen den Menschen in erfolgreichen Technologiezentren und Menschen an der Peripherie – um nur einige zu nennen. Das bringt eine supranationale Institution wie die Europäische Union in Bedrängnis. Dennoch ist die EU wohl das erfolgreichste Beispiel von Kooperation und Konfliktlösung beziehungsweise -vermeidung. Ihre größte Leistung ist es, Institutionen geschaffen zu haben, in denen man „gemeinsam handelt“. Doch in den jetzigen Krisenzeiten kann sich offenbar niemand in Europa wirklich vorstellen, über das eigene Heimatland hinaus solidarisch zu sein.
Eine kleine Minderheit fordert eine Europäische Republik und damit die Aufgabe der Nationalstaaten. Die Desillusionierten hingegen wollen eine Reduktion der Verantwortung der Union auf den Binnenmarkt und den gemeinsamen Schutz der Außengrenzen. Sie sind bereit, dafür eine Grundfreiheit Europas, die Personenfreizügigkeit, zu opfern. Doch in ein Konglomerat, das auf Grenzschutz und Binnenmarkt reduziert ist, werden sich die Bürger auch nicht verlieben.
Besonders deutlich haben uns die Flüchtlinge, die 2015 und 2016 in Europa ankamen, die Bruchlinien der Union aufgezeigt. Ihr Schicksal stellt uns vor die Frage, wer wir überhaupt sind und welche Werte wir vertreten. Was heißt es, Europäer zu sein, was erwarten wir von Neuankömmlingen, wofür stehen wir selbst? Flüchtende fordern von uns Antworten auf diese Fragen. Ohne zivilisiert ausgetragene Konflikte wird es nicht gehen. Wir werden nicht fähig sein, ein friedliches Zusammenleben mit Menschen aus fremden Kulturen zustande zu bringen, wenn wir selbst nicht wissen, wohin wir wollen.
Der Evolutionsbiologe Martin Nowak hat belegt, dass Systeme, die auf Kooperation aufbauen, langfristig überlebensfähiger sind. Die ersten zivilisatorischen Errungenschaften erlebten sie durch eine Höchstform der Kooperation mit Natur und Tier im Übergang zur Sesshaftigkeit und später im Kollektiv in der Gründung von Städten.
→ Probleme wie der Klimawandel und die Migration fordern unsere Problemlösungskompetenz. Zentralisierte, hierarchische Wege der Entscheidungsfindung sind mit zunehmender Komplexität der Herausforderungen fehleranfälliger als inklusive Prozesse, die auf Zusammenarbeit und die Einbeziehung unterschiedlicher Perspektiven setzen.
Die Demokratie als hohe Schule der Kooperation und Friedenswerkzeug ist in die Jahre gekommen – aber was wäre, wenn wir sie in einer freundlichen Revolution neu entdecken? Doch welche Strukturen sind überhaupt dafür geeignet? Wie und wo erlernen wir das Kooperieren im komplexen Umfeld? Wie können wir im Zeitalter der Skepsis Vertrauen zwischen Bürgern, demokratischen Institutionen und der Politik wiederherstellen? Wie die kollektive Intelligenz einer Gesellschaft erfolgreich nutzen? Diese Fragen werden in beispielgebenden Geschichten über freundliche Revolutionäre aus ganz Europa in den kommenden Kapiteln beantwortet.
Die freundliche Revolution
Wir würden uns ja gerne engagieren, aber wie? Fahnenschwenkend am Hauptplatz stehen und für Europa singen wird die Feinde der Demokratie nicht beeindrucken, das wissen wir. Zu lange haben wir Bürger Europas dabei zugeschaut, wie Politik ohne uns gemacht wurde. Es lief ja auch alles so, als würde es immer so weitergehen. Nach dem Fall der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs verkündete der US-Politologe und Historiker Francis Fukuyama „das Ende der Geschichte“. Laut seiner Einschätzung hatte das liberale Weltbild des Westens endgültig gesiegt. Heute fühlen wir uns von der Masse an Problemen überwältigt und die Demokratie westlichen Zuschnitts ist im Rückzug begriffen. Doch die Angst, die sich dabei in uns ausbreitet, macht sprichwörtlich dumm, sie lähmt uns und verleitet uns, wie wir aus der Geschichte wissen, im schlimmsten Fall zu extremer Intoleranz anderen gegenüber. Während wir gespannt auf die politischen Brandherde blicken, die da und dort auflodern, gibt es auch eine andere Realität in Europa, der wir zu wenig Beachtung schenken.
→ Viele freundliche Revolutionen greifen um sich und stellen das Gemeinsame über das Trennende, den Kompromiss über den Konflikt. Diese Revolutionen streben ein neues Verhältnis zwischen Politik und Bürgerschaft an.
Diese Veränderungswelle setzt auf Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Sie lebt von Politikern, die offen sind, ein Stück ihrer Macht zu teilen, und Bürgern und Bürgerinnen, die bereit sind, mehr Verantwortung in ihrer Gesellschaft zu übernehmen. Die freundliche Revolution bedeutet Beteiligung und bürgerliches Engagement, um der sozialen Entfremdung, die digitale Netzwerke noch verstärken, entgegenzuwirken. Bei komplexen Problemstellungen, wie dem Klimawandel und der ökologischen Krise, bindet sie das Wissen der vielen ein und verbessert unsere Art der Informationsbeschaffung sowie die Fähigkeit zur effektiven Problemlösung. Dort wo durch sie Bürgerschaft und Politik gemeinsam an Lösungen arbeiten, steigt die Akzeptanz ebendieser und die Wertschätzung füreinander. Das Gefühl von Selbstwirksamkeit und Autonomie wird gestärkt.
Die Menschen, die mit einer festen Überzeugung und frischen Ideen freundliche Revolutionen vorantreiben und eine neue Form der Demokratie vorleben, machen Mut. Diese Pioniere aus ganz Europa – von einer spanischen Bürgermeisterin bis zu einer Vorarlberger Kindergartenpädagogin – leben vor, wie wir gemeinsam im Zeitalter von Komplexität und Unsicherheit unsere Demokratie retten können. Ihre Beispiele zeigen, dass es für die Beteiligung zu einem großen Teil auch auf die innere Haltung ankommt und wir eine neue Führungskultur brauchen.
→ Politiker müssen erkennen, dass ihr Bild der Zukunft, ihre Sicht, wie etwas zu geschehen hat, nicht die einzig richtige sein muss. Mit der alten Schule des Top-Down-Managements und der Einstellung „Ich weiß alles und zeige euch, wo es langgeht“ kommt niemand mehr weiter.
Sinnvolle Kooperationen und eine Beteiligungskultur entstehen gerade dort, wo es eine Offenheit gibt, die zulässt, dass alle sich mit ihren Ideen einbringen können und die Lösungen, die entstehen, am Ende nicht unbedingt diejenigen sind, die man selbst im Kopf hatte. Dabei geht es gar nicht immer gleich darum, alle Bürger sofort zu erreichen, sondern zuerst einmal jene in unserer Gesellschaft zu stärken und zu vernetzen, die sich schon erfolgreich für das Gemeinwohl engagieren und damit unsere Gesellschaft im Inneren stärken. Aber Vorsicht! Echte Beteiligung ist kein Allheilmittel und immer nur Mittel zum Zweck; wenn der Zweck Manipulation heißt, wird Beteiligung zur Falle und zur Farce.
→ Als Instrument des Akzeptanzmanagements, um Protesten den Wind aus den Segeln zu nehmen oder als Durchsetzungsstrategie von Großbau- und Infrastrukturprojekten, bekommt Beteiligung einen schlechten Ruf.
Grundvoraussetzung für gelungene Beteiligung ist Klarheit über die Machtverhältnisse. Die Politik muss sich deklarieren, wieweit sie bereit ist, Entscheidungsspielräume aufzumachen und wo sie die Grenze sieht, denn man kann den Leuten nur für kurze Zeit vorgaukeln, dass man im gleichen Boot sitzt, wenn man in Wirklichkeit versteckte eigene Interessen vorantreibt.