Читать книгу Tausche Ehegatten gegen Mann im Kilt - Pia Guttenson - Страница 5
Ein Cottage im Nirgendwo
ОглавлениеSchottland
Wärmendes, helles Licht in ihrem Gesicht sorgte dafür, dass Lou langsam aus einem traumlosen Schlaf erwachte. Verschlafen rieb sie sich die Augen, nur um im nächsten Moment Docs nasse Zunge abwehren zu müssen, die mehrere Versuche wagte, sie abzulecken.
»Pfui, Doc. Aus. Nein, lass dass, böser Junge!«, schimpfte sie entrüstet, während der Hund sie aus treuen Augen schwanzwedelnd betrachtete. »Schon lange nicht mehr gesehen was«, raunte sie besänftigt, denn wer konnte bei so einem Hundeblick schon lange böse sein. Im nächsten Moment fand sie sich unter ihrem Hundemonster wieder, das voller Freude mitten auf ihren Bauch gesprungen war.
»Aua. O verflixt … geh runter. Ab Doc. Ich kriege keine Luft mehr, du verrücktes Vieh!«, stieß sie unter Lachen aus. Mühsam setzte sie sich auf.
Durch die große Fensterfront strahlte die Sonne sie an. Entzückt beobachtete sie zwei Eichhörnchen, die direkt vor der Scheibe spielten, ohne sich von ihr stören zu lassen. Gebannt verfolgte sie die Idylle, die Hände kraulend in Docs drahtigem Fell versenkt. Vom gestrigen Regen waren lediglich kleine Pfützen übrig geblieben, die Sonne hatte den Rest bereits getrocknet.
Wenn sie den Kopf ein bisschen nach vorne reckte, konnte sie einen Blick auf blauen Himmel erhaschen, an dem weiße Schäfchenwolken prangten. Ein winziges Glücksgefühl machte sich in ihr breit. Sie hatte es tatsächlich getan. Hatte das, was sie sich seit Jahren vorgenommen hatte, umgesetzt. Ihr ganzes Leben lang hatte sie immer auf alles und jeden Rücksicht genommen. Sie selbst war dabei etliche Male fast untergegangen, ohne dass es jemandem aufgefallen wäre. Barfuß tapste sie an das Fenster, zog mit einem Ruck das letzte Stück der Vorhänge auf. Geblendet vom Licht und der Schönheit, die sich ihr bot, verharrte sie an Ort und Stelle.
»Zauberhaft«, seufzte sie begeistert. Sie war tatsächlich in der romantischen Heimat ihres Romanhelden gelandet.
»Danke, Frau Gabaldon!«, murmelte Lou glückselig.
Der gestrige Sturm hatte sich gelegt. Die hohen Kiefern und Tannen in ihrem Garten wiegten ihre Wipfel zum imaginären Takt eines lauen Lüftchens. Staubpartikel tanzten in den Sonnenstrahlen, Vögel zwitscherten. Genauso hatte sie es sich erhofft, jedoch nach dem gestrigen Abend einen Schlammpfuhl im Garten erwartet. Erleichtert stellte sie fest, dass der Rasen mit den vielen bunten Blüten nicht unter dem sintflutartigen Regen gelitten hatte. Obwohl der Herbst bereits weit fortgeschritten war, erinnerte die Pracht ihres Gartens fast an den Frühling. Sie bildete sich gar ein, den Duft dieses Blütenmeeres zu riechen.
»Na dann sehen wir uns mal an, wo wir gelandet sind, Miss Robinson«, sagte sie zu sich selbst und zwinkerte Doc zu, der ihr mit Begeisterung folgte. Der Boden unter ihren nackten Füßen war kalt, knarrte und ächzte bei jedem ihrer Schritte. Bei Tageslicht versprühten die Möbel des kleinen Wohnzimmers gemütliches Landhausflair. Die Couch war mit einem abgewetzten Cordstoff überzogen, Gleiches traf auf den altertümlich wirkenden Ohrensessel zu. Verblichene Blümchenkissen, deren Muster sich in der Patchworkdecke wiederholten, unter der sie geschlafen hatte, sorgten für ein bisschen Farbe. Alles war sauber, verströmte einen leichten Weichspülergeruch. Das Mobiliar bestand aus wenigen alten Holzmöbeln, die teilweise sicherlich von Generation zu Generation weitervererbt worden waren. Zumindest sahen sie alt aus, mit ihren gedrechselten Holzelementen sogar fast antik. Bunte, wie es aussah, handgewebte Läufer bedeckten das Holzparkett, welches sein Alter nicht verleugnen konnte. Das Wohnzimmer ging nahtlos in den Essbereich über, in dem ein massiver Tisch mit einer Eckbank sowie zwei Stühlen zum Essen einlud. Wehmütig strich Lou über das Holz, das sich unter ihrer Hand weich und warm anfühlte. Kratzer und etliche Macken erzählten vom regelmäßigen Gebrauch. Sie würde hier vermutlich wenig Zeit verbringen, da ihre Kochkünste so gut wie nicht vorhanden waren. Ein frischer Strauß aus Rosen nahm die Mitte des Tisches ein, verströmte einen lieblichen Duft.
»Ah, daher der Blumenduft«, überlegte sie laut, den betörenden Duft in der Nase. Mitte Herbst und es gibt sogar noch Rosen, frohlockte sie. Die Küche schloss direkt an. Diese war so klein, dass Lou nicht einmal hätte umfallen können, ohne sich den Hals zu brechen. Wenn sie sich in die Mitte stellte, konnte sie bequem gleichzeitig alle Schubladen sowie Schränke erreichen. Das einzig Große in diesem Raum war der übertriebene Kühlschrank im amerikanischen Stil mit Eiswürfelzubereiter. Und leider, wie sich herausstellte, das einzig moderne Gerät, mit dem diese Küche aufwarten konnte. Weder Mikrowelle noch Wasserkocher, geschweige denn eine Spülmaschine waren vorhanden.
»Mist!«, brummte Lou ärgerlich, während sie Tür um Tür aufriss, in der Hoffnung, doch noch auf eine Mikrowelle zu stoßen. Vergeblich. Beim Gedanken an zwei Monate mit ihren schrecklichen Kochkünsten knurrte ihr Magen bereits jetzt vor Hunger. Am Kühlschrank hing ein Zettel mit einer Telefonnummer, die mit A. Munro sowie doppelten Ausrufezeichen versehen war. Außerdem waren da eine Notiz mit der Adresse des ortsansässigen Einkaufsladens und dessen Öffnungszeiten sowie eine kleine Straßenkarte mit den einzigen beiden Straßen, die der Ort besaß. Ein leicht zerfledderter Flyer mit einem Kleinbus und dessen Ausflugszielen komplettierte die Zettelsammlung. Ein Blick in den Kühlschrank offenbarten Lou Eier, Speck, landestypische Würstchen, Toast und eine Vielzahl verschiedenster Gläschen mit Marmelade, aber auch eingelegtem Essiggemüse. Kurze Zeit später machte sie sich mit großem Appetit über verkohlten Toast sowie Eier mit Speck her, die ziemlich verbrannt waren. Deshalb spülte sie das Ganze auch mit einer Unmenge an Tee nach. Frisch gestärkt blieben ihre Augen an ihren verstümmelten, verbrannten Fingernägeln hängen, die ohne die künstlichen Nägel erst wieder gerade und ohne Gel sowie Kleber nachwachsen mussten.
»Nie mehr künstliche Fingernägel. Nie mehr blondierte Haare«, murmelte sie fest entschlossen vor sich hin. Motiviert fing sie an, ihr Gepäck auszupacken. Bequeme Hosen und schlabberige Sweatshirts füllten den nach Zeder duftenden Eichenschrank, der die einzige gerade Wand des Schlafzimmers im Dachgeschoss komplett einnahm, nicht einmal zu einem Viertel. Ihr Schmusekissen, auf dem ihre Kinder verewigt waren, landete inmitten eines weichen Bettdeckenberges aus gestärktem jungfräulich weißem Leinen. Dieser befand sich im größten Bett, das sie je gesehen hatte. Mit großen Augen fragte sie sich, wie um alles in der Welt dieses Monsterbett die kleine Treppe oder die enge Tür, an der sie sich den Kopf gestoßen hatte, passiert haben konnte.
»Nur in Einzelteilen«, sinnierte sie laut, schüttelte dann immer wieder ungläubig den Kopf, während sie das Bett umrundete, das fast den ganzen Raum einnahm. Es war aus dunklem Holz, mit Ornamenten ebenso wie mit geschnitzten schottischen Disteln verziert. Handarbeit, die heutzutage sicherlich unbezahlbar war. Zögerlich tastete sie mit der Hand nach der Sprungkraft der Matratze. Plötzlich legte sich ein Schmunzeln auf ihr Gesicht. Misstrauisch beobachtete von Doc, konnte sie plötzlich dem kindischen Trieb nicht widerstehen, nahm Anlauf und sprang mitten in den weichen Berg hinein. Augenblicklich versank Lou und mit ihr Doc, der es sich nicht hatte nehmen lassen, seinem Frauchen zu folgen. Berge von Decken und unzählige Zierkissen begruben sie beide unter sich, als die weiche Matratze sie beide in den Mittelpunkt des Bettes rollen ließ.
»Himmel hilf … ich werde durchhängen. Wie soll ich denn hier je schlafen können«, stöhnte Lou. Mühevoll kämpfte sie sich aus dem Bett zurück auf die Beine.
Beschwingt begab sie sich im Anschluss wieder nach unten. All ihre Toilettenartikel schaffte sie in das winzige Badezimmer mit den schrägen Wänden, welches überraschenderweise mit einer übergroßen Badewanne aufwartete. Tatsächlich entpuppte sich dieser unscheinbare Raum als eine wahre Wellnessoase. Sandfarbene Bodenfliesen vermittelten das Gefühl, über einen Strand zu laufen. Der Wandbelag bestand aus Terrakotta oder ozeanblauen Fliesensplittern, die Wellen bildeten und sich mit echten Muscheln abwechselten. Bei näherem Betrachten entdeckte Lou Düsen in der Wanne. Ein Whirlpool. Das Einzige, was ihr dabei zu denken gab, war der Warmwasserboiler, den sie hinter einer Rattanverkleidung entdeckte.
Oje. Sieht ziemlich altertümlich aus!
Vermutlich ging ihr das warme Wasser aus, bevor die Düsen nur halbwegs bedeckt waren. Einen Versuch wäre es jedoch wert. Nach einigem Suchen fand sie den Einschaltknopf des Warmwasserboilers und betätigte diesen. Fröhlich zeigte sie ihrem Spiegelbild eine Grimasse. Schließlich las sie konzentriert die Anleitung auf der Packung des Haarfärbemittels durch, das sie von ihrem Friseur aus Deutschland mitgebracht hatte. Hellbraun. Ihre natürliche Haarfarbe. Es war an der Zeit, zu sich selbst zurückzufinden. Neues Leben – neue Haare. So hatte sie es sich zumindest vorgestellt.
Als sie sich ihr altes Malerhemd angezogen hatte, besah sie sich ein letztes Mal ihr blondes langes Haar.
»Bye bye, Barbiepuppe«, murmelte Lou, riss entschlossen die Packung auf, schüttete die Färbemittel ineinander und zog die Plastikhandschuhe über. Akkurat verteilte sie den stinkenden pinkfarbenen Brei auf ihrem Kopf. Vorsichtig wusch sie die Handschuhe ab, legte diese für später beiseite. Dann drehte sie die Wasserhähne der Badewanne auf. Glücklicherweise reichte das warme Wasser doch bis zu den Düsen.
O Wunder!
Begeistert nahm sie in der blubbernden Wanne Platz. Das Bad war eine Wohltat. Zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, eine riesige Last würde von ihr abfallen. Tief entspannt sinnierte sie über ihr Leben nach. Was war nur so schrecklich schief gegangen mit ihrer Ehe? Gut, mit gerademal achtzehn war sie ziemlich jung gewesen, als sie den mehr als zehn Jahre älteren Alexander geheiratet hatte. Genau ein Jahr später war Richard zur Welt gekommen. Vier Jahre danach Philipp. Alexander hatte genau zur selben Zeit die familieneigene Firma übernommen. Wenn sie es genau bedachte, hatte es damals schon angefangen.
Aus der hochbegabten Kunststudentin mit Schwerpunkt Werbung war keine gefeierte Künstlerin geworden, sondern ein hochschwangeres, braves Hausmütterchen. Irgendwie, irgendwann hatte Alexander es geschafft, eine Vorzeigeehefrau aus ihr zu machen. Wenn auch nie zur Zufriedenheit ihrer Schwiegereltern. Er hatte sie überhäuft mit Designerklamotten, hatte ihr den teuersten Schmuck gekauft. Urplötzlich hatte sie einen Personal Trainer – einen weiblichen wohlgemerkt, eine Köchin, eine Putzfrau und zu guter Letzt sogar einen eigenen Chauffeur, da ihr Fahrstil angeblich lebensgefährlich war. Aus der bodenständigen Lou Mayer war Louise Schulzinger geworden. Nach und nach waren ihr ihre alten Freunde abhandengekommen. Alle außer Debbie, ihrer allerbesten Freundin. Kein Wunder bei all dem Prunk, bei dem ihre Freunde nicht mithalten konnten. Lou konnte es ihnen nicht verdenken. Ihr Leben hatte damals ziemlich viel von; Aschenputtel wird Prinzessin.
Ihr Vater war schon gestorben, als sie zwölf war. Ihre Mutter starb kurz nach Philipps Geburt. Tobias war alles, was sie noch an Familie hatte. Für Alexander war ihr Bruder ein rotes Tuch, passte er doch mit seiner Homosexualität nicht in das heile Weltbild eines Geschäftsmannes der gehobenen Kreise. Der Mann, den sie abgöttisch liebte, hatte sie in einen goldenen Käfig gesteckt. Er hatte sie mit allem Käuflichen überhäuft. Nur mit Liebe geizte er immer noch.
Alexander ließ sie am langen Arm verhungern. Umso mehr sie sich nach seiner Liebe verzehrt hatte, desto weniger war diese geworden. Keine Umarmungen. Keine Küsse. Seit Jahren herrschte in ihrem Bett Flaute.
An den getrennten Schlafzimmern war letztlich der Rest ihrer Liebe zerbrochen. In einem letzten Anfall von Hilflosigkeit war sie im Trenchcoat, sowie mit Sonnenbrille bewaffnet, wie ein schlechter Agent, übernervös in einer Beate Uhse Filiale eingefallen. Potenztropfen für den Mann hatte sie genauso erstanden wie schrecklich nuttige Reizwäsche. Zuhause hatte sie Alexander die halbe Flasche davon in das Feierabendbier gekippt. Leider war das Ergebnis vernichtend gewesen. Herausgekommen war eine Magenverstimmung und ein mehr als laut schnarchender Mann sowie ein fieser Ausschlag von den Latexeinsätzen der Wäsche. Nach diesem Reinfall hatte sie endgültig aufgegeben.
Sicher, sie war nie prüde gewesen. Natürlich gab es in der heutigen Zeit jede Menge anderer Möglichkeiten, um auch, ohne Mann ein ausgefülltes Sexualleben zu führen. Fakt war jedoch, dass ein Stück Latex oder Gummi keinen Mann aus Fleisch und Blut ersetzen konnte. Das war zumindest ihre Meinung. Langsam wurde das Wasser kalt. Außerdem wurde es höchste Zeit, die Farbe abzuspülen. Leider gab es jetzt allerdings kein warmes Wasser mehr. Lou war gezwungen, sich kalt abzuduschen.
»Typisch!«, schlotterte sie verärgert. Die Farbe würde noch einen Moment bleiben müssen, wo sie war, da sie mit kaltem Wasser sicherlich nicht gut genug abzuspülen war. In ihren Bademantel gehüllt, huschte sie in die Küche, setzte den Wasserkessel auf. Wenigstens verbrannte sie sich dieses Mal beim Anzünden der Herdplatte nicht erneut die Finger. Bis das Wasser kochte, öffnete sie Doc die Tür in den Garten. Nervös betete Lou, dass ihre Haare nach zu langer Einwirkzeit tatsächlich hellbraun waren und nicht etwa pink. Die frische Luft und die erdigen Gerüche, die ihr in die Nase stiegen, ließen die Panik wieder etwas abklingen. Herrlich. Trotz des Wasserfiaskos, das ja eigentlich voraussehbar gewesen war, fühlte sie sich frei.
Ein erneutes Hochgefühl ergriff Besitz von ihr. Das letzte Mal hatte sie sich so gefühlt, als sie Doc aus dem Tierheim geholt hatte. Lou schmunzelte vor sich hin, während sie ihrem Riesenkalb zusah, wie der gemeingefährliche, angebliche Kampfhund versuchte, einen Schmetterling einzufangen. Augenblicklich wurde ihr warm ums Herz. Mit purer Absicht hatte sie sich das allerhässlichste Tier ausgesucht. Damals hatte Doc bereits ein halbes Jahr seines eineinhalbjährigen Hundelebens im Tierheim gefristet. Nicht etwa weil er bösartig oder nicht umgänglich gewesen war. Vielmehr weil er mehr einer gerupften Hyäne ähnelte als einem Hund. Zuerst hatte Lou an ihm vorbei gehen wollen, doch ihre Schnürsenkel hatten sich gelöst. So war sie gezwungen gewesen, direkt vor seinem Gitterkäfig am Boden zu knien, um diese zu binden. Docs feuchte Hundenase hatte sie neugierig angestupst. Ein einziger Blick in seine Augen hatte genügt und es war um sie geschehen. Liebe lag eben doch im Auge des Betrachters! Alexander hatte getobt. Himmel, was hatte er sie angebrüllt. Er hatte ihr unterstellt, sie würde sich und ihre Kinder mit einem scharfen Kampfhund in Gefahr bringen. Ein Grinsen legte sich um ihre Mundwinkel.
Der Kampfhund hatte sich als Kampfschmuser entpuppt. Instinktiv hatte Doc Alexander nie richtig akzeptiert. Heute war sie sich sicher, dass das Schicksal Doc für sie vorbestimmt hatte. Das schrille Pfeifen des Wasserkessels unter-brach sie beim Betrachten ihres glücklichen Hundes. Den Griff des heißen Kessels mit Geschirrhandtüchern umschlungen in der einen, einen leeren Eimer zum Wassermischen in der anderen Hand, eilte sie die Stufen zum Bad empor. Dummerweise blieb sie an einer dieser Stufen hängen, knallte schmerzvoll mit dem Knie gegen die Kante der nächsten. Der Kessel rutschte scheppernd über die Fliesen, während der Eimer in einer anmutigen Kurve durch die Luft flog.
»Himmelherrgottsackzement!«
Vor Schmerz schossen ihr die Tränen in die Augen. Argwöhnisch schielte Doc von unten um die Ecke. Vermutlich um dem schrecklichen Lärm auf den Grund zu gehen. Lou bedeutete ihm per Handzeichen, sich zu trollen. Ihr Knie blutete aus einer Schürfwunde. Ärgerlich klaubte sie den Eimer vor der Tür auf, um sich dann vorsichtig humpelnd ins Bad zu schleppen.
»Wäre ja auch zu schön gewesen, wenn einmal etwas ohne Komplikationen klappt, Lou. Wenigstens ist der Kessel nur geschlittert«, zischte sie. Nachdem sie einen Holzsplitter aus der Wunde gezogen hatte, presste sie ein Taschentuch fest dagegen. Nach ein paar Minuten hörte es bereits zu bluten auf. Allerdings schwoll das Knie etwas an und wurde bereits blau. Kein Wunder bei ihren grazilen Storchenbeinen.
Tapfer ignorierte sie die unangenehm pochende Wunde. Im Eimer mischte sie das kalte Leitungswasser mit dem heißen Wasser aus dem Kessel. Bewaffnet mit Handschuhen, Shampoo sowie Unmengen an Spülung, widmete sie sich im Anschluss ihren Haaren. Sah zu, wie ein Teil ihres Lebens in pinkfarbenen Schlieren das Waschbecken hinab floss, um gurgelnd im Abfluss zu verschwinden.
»Auf nimmer Wiedersehen, Blondie!«, murmelte sie. An-schließend betrachtete sie das Ergebnis im Spiegel. »Zufriedenstellend sieht anders aus«, raunte sie enttäuscht ihrem Spiegelbild zu. Die Haarfarbe war okay. Der Rest ihrer Frisur ließ allerdings schwer zu wünschen übrig.
Ein bisschen wie ein räudiger Straßenköter! Elender Mist!
Zu allem bereit humpelte sie die Treppe hinab in die Küche. In den Schubladen wühlte sie, bis sie endlich eine Schere fand, mit der sie zurück ins Bad eilte. So schwer konnte das schließlich nicht sein. »Im Film klappt das auch immer«, redete sie sich Mut zu. Konzentriert fasste sie ihre nassen Haare zu einem strengen Zopf zusammen, fixierte diesen mit einem Haargummi. Tief durchatmend setzte sie die Schere an. Leider war das alte Ding mehr als stumpf, sodass Lou immense Kraft aufwenden musste. Sie brauchte mehrere Anläufe mit jeder Menge Ausdauer, bis sie endlich den abgetrennten Zopf in der Hand hielt. Nachdem sie den Haargummi entfernt hatte, sah ihre Frisur leider mitnichten besser aus.
»Ach du … Ach nein!«, entwich es ihr. Tränen des Zorns liefen ihr über die geröteten Wangen. Das durfte doch nicht wahr sein. Jetzt hatte ihre Frisur mehr Ähnlichkeit mit einem gerupften Huhn. Während sie ihre nassen Strähnen trocken föhnte, versuchte sie, sich verzweifelt zu erinnern, ob es in der Straße von Kildermorie einen Friseur gab.
»Gott, ich sehe aus wie eine Vogelscheuche«, stöhnte sie laut auf. Missmutig zog sie sich eine kurze Jeans, Turnschuhe und ein Shirt an. »Kein Grund zur Aufregung, Lou«, redete sie sich selbst ein. »Keine Panik. Du hast einen Laptop und es gibt das Internet. Wäre doch gelacht, wenn du keinen Haarguru in deiner Nähe fändest!«
Ein paar Minuten später saß Lou am Esszimmertisch auf der Suche nach Internetempfang. Es tat sich nichts. Sie hatte weder mit noch ohne Internetstick Empfang. Es war nichts zu machen. »Das kann doch nicht sein! Was um alles in der Welt habe ich für eine Bruchbude gemietet? Wo ist die versprochene Internetverbindung?«, schimpfte Lou ärgerlich, dabei schenkte sie Doc ein entschuldigendes Schulterzucken, da der Hund sie ansah, als wäre sie nun komplett verrückt.
»Jetzt sieh mich nicht so an, Hund. Dieser elende Schotte Munro, hat mir modernen Komfort angepriesen. Dass ich nicht lache!«
Natürlich hatte auch ihr Smartphone keinerlei Empfang, zeigte dafür aber eine neue schwindelig machende Zahl an entgangenen Anrufen und noch mehr Nachrichten an. Aber wenn doch Nachrichten und Anrufe ankamen, musste doch Empfang da sein. Oder nicht? Mit dem Smartphone in der Hand suchte sie jeden Quadratzentimeter des Cottages nach Empfang ab. Sie krabbelte auf dem Boden, hielt das Smartphone an die Decke. Lief damit ums Haus. Selbst zum Dachfenster hielt sie es hinaus. Kein Empfang. Das gab es doch alles nicht! Einmal mehr löschte sie im Anschluss alles, ohne irgendetwas zu lesen oder abzuhören. Inzwischen schlich sie wie auf Glatteis in die Küche, das Knie so wenig wie möglich abwinkelnd. Es pochte und rumorte vor Schmerzen. Himmel tut das weh!
In der Küche fand sie wenigstens auf Anhieb den Erste-Hilfe-Kasten, auf den sie bei der Suche nach der Schere zufällig gestoßen war. Das nicht kleben wollende Pflaster, das sie zutage förderte, war der Tropfen, der das Fass ihres Zorns zum Überlaufen brachte. Laut fluchend, mit dem gesunden Fuß aufstampfend, warf sie den kompletten Erste-Hilfe-Kasten zu Boden. Das poröse Plastik des Kastens sprang sauber in der Mitte auseinander. Eine Flut aus alten Binden, Sicherheitsnadeln und diversen anderen Dingen ergoss sich zu ihren Füßen. Mit energischen Schritten, den Schmerz im Knie ignorierend, schnappte sie sich ihre Einkaufstasche nebst Portemonnaie, zischte Doc ein »Gassi« zu und machte sich auf den Weg. Hinter ihr fiel die Haustür mit einem dumpfen Knall ins Schloss, gefolgt von einem Scheppern.
Warum um alles in der Welt bin ich auf einmal so ein Tollpatsch?
Ihr ironisches Lachen ließ Doc den Schwanz einklemmen. Die Ohren angelegt, trottete er ergeben neben ihr her. Wenn ihr dieser Schotte jetzt in diesem Moment über den Weg lief, dann gnade ihm Gott. Sie hatte nicht übel Lust, ihn mit bloßen Händen zu erwürgen.
»Pah. Moderner Komfort!« Ihre Augen blieben an dem schiefen Tor des Schuppens hängen, der sich an die Wand des Cottages schmiegte. Neugierig trat sie näher, warf einen Blick durch den Spalt der sichtlich verzogenen hölzernen Schuppentür. Im Halbdunkel meinte sie, die Umrisse eines Fahrrads ausmachen zu können. Mühsam zerrte sie die Tür auf, um sich den Haufen Gerümpel näher anzusehen. Es handelte sich tatsächlich um ein Fahrrad, das sie entdeckt hatte. Ohne Staub, Schmutz oder diversen Spinnen Beachtung zu schenken, zog sie besagtes Teil ins Freie. Das Licht im Schuppen ließ nämlich, wie so vieles, ebenfalls zu wünschen übrig. Eine genauere Begutachtung war so nicht möglich. Es war ein in die Jahre gekommenes, etwas rostiges Herrenrad. Die Reifen hatten zu wenig Luft, aber mit der passenden Fahrradpumpe würde sie dieses Problem gleich aus der Welt geschafft haben. Außerdem müssten die porösen Reifen ein Leichtgewicht wie sie noch aushalten können. Mit der Hand wischte sie die Spinnweben weg. Beherzt schnappte sie dabei ein beachtlich großes Exemplar eines Weberknechts am Bein und trug diesen ein kleines Stück weg. Schließlich entließ sie ihn in die Freiheit. Nach einem weiteren viertelstündlichen Kampf mit der Fahrradpumpe hatte sie einen passablen Untersatz. Vor allem fahrbar. Ob das Herrenrad wohl ihrem Vermieter Alasdair Munro gehörte? Der Größe nach könnte es hinkommen.
Gut für sie. Munro war so ziemlich der erste Mann, der sie deutlich überragte. Alex war gerade so groß wie sie selbst. Dafür hasste er es immer, wenn sie ihre High Heels trug. Die Einkaufstasche hängte sie an den Lenker. Für den Gepäckträger hatte Lou ebenfalls im Schuppen einen alten Weidenkorb gefunden, welchen sie dort festklemmte. Ungelenk schwang sie sich über die Stange auf den Sattel. Doc sprang in freudiger Erwartung auf einen Spaziergang voraus. Sie folgte ihm zuerst recht wackelig, fast als würde sie über unebene Steine fahren. Doch mit jedem zurückgelegten Meter wurde sie sicherer, wenngleich ihr Knie immer wieder schmerzte. Zumindest blutete es nicht mehr.
Dafür bot es allerdings einen wunderbar farbigen Anblick. Der Zauber der Landschaft um sie herum nahm ihren Blick jedoch so gefangen, dass sie an nichts mehr dachte, außer an perfekte Stellen zum Malen oder an Jamie und Claire, die sich liebkosend in der Wiese herumrollten. Ihre Wut auf Alasdair Munro war zumindest für den Moment verraucht. Vielleicht würde es im Ort ja einen Pub geben, in dem sie ein warmes Mittagessen einnehmen konnte. Wer wusste schon, ob sie dort nicht auch auf einen netten gut aussehenden Schotten im Kilt traf? Hieß es nicht, dass jedes noch so kleine Dorf in Schottland einen eigenen Pub hatte? Oder nicht?
Das verbrannte Frühstück lag ihr wie Blei im Magen. Außerdem würde sie so auch sofort feststellen können, ob es nicht doch einen Friseur gab. Keine fünfzehn Minuten später kamen bereits die ersten Häuser des Dorfes in Sicht. Auf ihr Kommando wurde Doc langsamer, blieb dicht an ihrer Seite.
Gut erzogener Kerl!
Scheinbar hatte sie wenigstens, was die Erziehung ihres Vierbeiners anging, nichts falsch gemacht! Genau genommen war er auch das einzige männliche Wesen, das sie nicht bevormundete oder ihr ständig widersprach.
Am Vortag hatte sie beileibe kein Auge für irgendetwas gehabt. Sie war viel zu aufgeregt und ängstlich gewesen. Ganz zu schweigen, dass sie mit ihrem Monster von Jeep zu kämpfen gehabt hatte. Umso neugieriger sah sie sich jetzt um. Ein Pub, mehrere Häuser, ein schäbiges Café mit Bäckerei sowie ein ziemlich kleiner Einkaufsmarkt, das war also Kildermorie.
»Himmelherrgottsackzement, kein Friseur. In diesem verflixten Kaff gibt es keinen Friseur«, schimpfte Lou verzweifelt vor sich hin. Ihre Finger fuhren durch ihre Haarpracht, die sich völlig fremd anfühlte. Unstet schweiften ihre Augen immer noch auf der Suche umher. Die entgegenkommende Gestalt übersah sie dabei vollkommen. Lou prallte gegen den Passanten. Sie kam ins Wanken, fiel lediglich deshalb nicht vom Rad, weil eine Hand sie fest am Oberarm hielt, bis sie beide Beine auf dem Boden hatte. Erschrocken starrte sie in die ozeanblauen Augen von Alasdair Munro.
O nein. Nicht schon wieder der!
Lou konnte sehen, wie der Schotte sie unverhohlen von Kopf bis Fuß musterte. Um seine vollen Lippen lag erneut ein ärgerlicher Zug. Konnte der überhaupt freundlich aussehen? Beim Anblick ihrer Haare schoben sich seine Augenbrauen fragend in die Höhe, doch er blieb stumm.
»Entschuldigen Sie bitte äh, Mr. Munro. Ich war mit den Gedanken wo anders«, hörte sie sich sagen. Der Schotte wich ihrem Blick aus, kraulte stattdessen Doc die Ohren, der sich schwanzwedelnd an die Beine des großen Mannes drückte. »Wenn Sie sich schon mein Fahrrad ausleihen, Mistress Scherzinger …«
»Schulzinger. Mr. Munro, ich heiße Schulzinger. Und was Ihr Fahrrad anbelangt, ich war so frei, es wieder in einen fahrtüchtigen Zustand zu versetzen. Selbstverständlich werde ich pfleglich mit dem guten Stück umgehen«, schnitt sie ihm den Satz ab. Ärgerlich spürte sie, wie ihre Wangen heiß und somit sicherlich rot wurden. Alasdair Munro streckte sich zur vollen Größe. Er erwiderte ihren Blick, wobei er wiederholt auf ihr verletztes Knie starrte.
»Aye, Lass. Sie sind selbst in einem Dorf wie diesem eine Gefahr für den Straßenverkehr. Schon mal etwas von Linksverkehr gehört? In Schottland fahren wir Links, nicht etwa mitten auf der Straße oder wie Sie auf dem Bordstein«, warf er ihr vor. Unfähig irgendetwas zu kontern, schnappte Lou nach Luft. Mit zitternden Knien stieg sie komplett vom Fahrrad, warf dieses gegen die Beine des Schotten.
»Und Sie … Sie haben offensichtlich nicht nur ein Freundlichkeitsproblem, sondern auch ein verfluchtes Treppenproblem«, zischte Lou zornig. Auf dem Absatz drehte sie sich um, den Kopf stolz erhoben.
»Die siebte Stufe von oben?«, hörte sie ihn fragen, antwortete jedoch nicht, sondern lief stur geradeaus zu dem kleinen Café auf der anderen Straßenseite.
Sich Alasdair Munros Blicken auf ihrem Rücken bewusst, trat Lou, ohne zu zögern durch die Tür des heruntergekommen wirkenden Gebäudes, das sie sonst mit Sicherheit weder betreten, noch wahrgenommen hätte. Überraschenderweise fand sie sich im Verkaufsraum einer kleinen Bäckerei wieder, in der es herrlich duftete. Verschiedenstes Gebäck lag liebevoll arrangiert hinter einem alten Glastresen in der Auslage. Alleine der Anblick genügte, um Lou das Wasser im Mund zusammenlaufen zu lassen. Donuts, Apfeltaschen und herzhaft gefüllte Teigtaschen – Bridies genannt – sah sie ebenso wie Bannockbrot. Neugierig spähte sie um die Ecke ins angrenzende Café.
Es war zwar klein, doch obwohl es wie die Bäckerei hoffnungslos veraltet wirkte, versprühte es einen gewissen Charme. Einem Charme, dem sie jetzt, wo sie ihm ausgesetzt war, hoffnungslos erlag. Zwei runde und drei eckige Tische mit hübschen Tartantischdecken warteten auf Gäste. Alles wirkte gepflegt, aufs Peinlichste sauber. An einer Wand stand ein Regal, in dem sich bereits die Böden von der Last der vielen Bücher bogen. Gleich daneben stand eine alte Jukebox. Außer ihr selbst konnte sie lediglich einen einzigen Gast sehen. Ein Mädchen von vielleicht acht Jahren saß am Tisch in der hintersten Ecke. Es beachtete sie nicht.
Malte oder schrieb sehr konzentriert. Lou verharrte kurz, den Blick auf den braunen Lockenkopf des Mädchens gerichtet. Eine freundliche Stimme riss sie aus ihrer Betrachtung.
»Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«
Lou drehte sich nach der Stimme um. Sie sah sich einer rundlichen Frau gegenüber, die ihre Hände an einer großen Schürze abrieb. Die Frau war ein mütterlicher Typ, mit kreisrunden Backen, zwei Köpfe kleiner als sie selbst.
»Ja, äh danke. Ich würde gerne etwas kaufen und dann hier im Café zu mir nehmen«, antwortete sie. Freundlich erwiderte Lou dabei das einnehmende Lächeln der Frau.
»Sehr gerne. Kommen Sie mit und suchen Sie sich etwas aus«, sagte die Frau. Lou folgte ihr zurück in die Bäckerei.
»Ist das Ihrer?«, fragte die Frau, während sie ohne Angst über Docs riesigen Kopf strich, der schwanzwedelnd, ohne sich zu regen, neben ihr saß.
»Ja. Ähm … ich hoffe, es ist in Ordnung, dass er mit hier drin ist?«
»Keine Sorge, solange er keine Kunden anfällt, ist das kein Problem. Wir sind hier auf dem Land«, erklärte die Frau mit einem verschwörerischen Zwinkern. »Sie müssen die Deutsche sein, die Al‘s Cottage gemietet hat. Es ist nicht gerade das Modernste aber ich finde, es hat eine unbezahlbare Lage«, plauderte die Frau fröhlich, griff nach einem Porzellanteller und sah Lou abwartend an.
Eigentlich hatte sie nicht vor, mit einer Fremden sowie Ortsansässigen über die Vor- oder Nachteile, sowie dem fehlenden modernen Komfort des Cottages zu diskutieren. Lediglich ein Unverfängliches »Äh, ja« kam über ihre Lippen. Es war ziemlich schwer, zwischen all den leckeren Dingen zu wählen, zumal ihr Bauch bereits peinlich zu knurren begann. Schließlich entschied sich Lou für ein Bridie gefühlt mit Haggis, außerdem eine Apfeltasche als Nachtisch und natürlich eine Kanne schwarzen Kaffee.
»Danke. Es ja … äh, es ist sehr nett das Cottage«, murmelte sie erneut, eingeschüchtert vom fragenden Blick der Dame.
»Mein Name ist im übrigen Marge Munro. Ich bin die Mutter Ihres Vermieters«, erklärte die Frau und schickte sie hinüber ins Café. »Ich bringe Ihnen gleich alles zu ihrem Tisch, Lass«, flötete Marge.Ausgerechnet seine Mutter! Wieso passiert immer mir so etwas?, schoss es Lou durch den Kopf. Was für ein Glück, dass sie sich nicht über die vielen Fehler ihrer Bleibe ausgelassen hatte. Jetzt wäre sie am Liebsten davongelaufen. Da dies jedoch nun nicht mehr möglich war, ohne sich lächerlich zu machen, steuerte sie mit Doc im Schlepptau die Tische im Café an. Sie entschied sich für einen Platz direkt am Fenster.
Unter anderem, um das Mädchen am hinteren Tisch nicht mit Doc zu ängstigen oder zu stören. Außerdem war sie so notfalls rechtzeitig gewarnt, sollte der Griesgram Munro auftauchen. Schließlich wusste der Kerl ja, wo sie abgeblieben war. Dummerweise im Café seiner Mutter.
Das Mädchen nahm immer noch keinerlei Notiz von ihr. Schon wieder eine Munro. Allem Anschein nach bestand das komplette Dorf nur aus Mitgliedern des Munro Clans. Ihr Blick schweifte die Straße entlang. Schräg gegenüber blickte sie auf das Schild des Pubs, der den Namen The Green Hunter trug. Lou nahm sich vor, ihr Abendessen dort einzunehmen. Der Duft von frischem Kaffee schmeichelte ihrer Nase im selben Moment, in dem Marge Munro bereits die bestellten Köstlichkeiten auf einem Tablett servierte. Plötzlich drang ein seltsames Gebrüll oder viel mehr die Anreihung seltsamer unartikulierter Laute an ihre Ohren.
Marge schien dies nicht zu erschrecken.
Ganz im Gegenteil zu ihr. Um ein Haar wäre ihr vor Schreck die Tasse aus den Händen gefallen. Völlig perplex sah Lou der Frau nach, die gestikulierend auf das Mädchen zueilte, welches zornig weinend Papier samt Stifte durch die Luft warf. Die Kleine antwortete ebenfalls wild gestikulierend, wedelte mit den Händen in der Luft. Entschuldigend mit der Schulter zuckend, wandte sich Marge zu Lou um:
»Es tut mir leid, Lass. Sie ist sonst nicht so. Aber die Kleine, sie ist meine Enkelin, hat eine kniffelige Hausaufgabe zu bewältigen. Kriegt dieses dumme Tier einfach nicht gemalt«, versuchte sie zu erklären, während Lou beide nur verständnislos anstarrte. Marge Munro deutete Lous Blick richtig.
»Ach, ich vergesse es immer wieder. Grace ist gehörlos. Deshalb klingt ihre Sprache so seltsam.«
»Vielleicht …«, hob Lou an. Verstummte dann aber. Auf einmal wusste sie nicht mehr, was sie sagen sollte. Grace. Das war eine seltsame Fügung. Lous zweiter Name war ebenfalls Grace. Ein seltsames Gefühl machte sich in ihr breit. Berührte ihr Herz. Grace.
»Sie können nicht etwa einen Elefanten malen oder, Lass? Ich kann es nämlich, Gott bewahre, leider nicht«, hakte Marge hoffnungsvoll nach.
Lou erhob sich und ging ohne zu zögern, auf den Tisch der beiden zu. Doc folgte ihr wie immer auf den Fersen. Der große Hund legte dann, als wäre es das Natürlichste der Welt, seinen Riesenschädel mitten auf den Schoß des weinenden Mädchens. Dieses verstummte vor Überraschung augenblicklich. Zögerlich strichen die zarten Finger über Docs Kopf.
Aufmunternd leckte der Hund dem Mädchen die Hand.
»Einen tollen Kerl haben Sie da, Lass. So schnell bekommt sie höchstens ihr Vater ruhig. Nicht wahr Gracy«, sagte Marge und wuschelte der Kleinen liebevoll durchs Haar.
Lou erwiderte Graces Lächeln, ging vor ihr in die Hocke, um ihr auf gleicher Augenhöhe zu begegnen.
»Darf ich?«, formte Lou besonders deutlich mit den Lippen. Marge klopfte ihr anerkennend auf die Schulter. Das Mädchen schob ihr ein Blatt Papier sowie einen angebissenen Holzstift entgegen. Lou lächelte. Das tat sie selbst heute noch. Holzstifte am Ende annagen, wenn sie sich konzentrieren musste oder überlegte.
An Marge gewandt erklärte sie ihr Tun. »Ich kann leider keine Gebärdensprache. Aber es genügt, wenn mir Grace einfach nur zusieht. Es gibt für Kinder einen ganz einfachen Trick, Tiere aller Arten zu zeichnen. Die Tiere bestehen aus Kreisen, Ovalen, Quadern oder Dreiecken, die man einfach geschickt miteinander verbinden muss. Dann radiert man die Behelfslinien einfach weg«, erläuterte Lou ihr Tun.
Geübt begann sie mit einem großen Kreis. Ermutigend gab sie Grace zu verstehen, dass sie es ihr nachmachen sollte. Bald schon erarbeiteten sie sich so in einträchtigem Schweigen einen stattlichen Elefanten. Marge brachte ihr ihren Kaffee und das Essen an den Tisch des Mädchens. So konnte Lou nebenher essen, wenn Grace ihren Schritt zeichnete. Nachdem der Elefant fertig war, machten sie bei diversen anderen Tieren weiter, da es ihnen beiden Spaß bereitete. Lou konnte sich nicht erinnern, wann sie sich zuletzt so glücklich gefühlt hatte wie just in diesem Moment mit Grace.
»Sie haben ein gutes Händchen mit Kindern, Lass.«
»Dankeschön, Mrs. Munro. Nennen Sie mich ruhig Lou«, antwortete sie verlegen. Marge Munro lachte fröhlich.
»Lass, ist ein Kosename für Mädchen. Aber Lou ist auch ein schöner Name. Ist es die Abkürzung von Louisa?«
Lou lächelte zurück, schüttelte verneinend den Kopf.
»Leider nein. Es kommt von Louise.«
Marge winkte ab. »Aye. Ich verstehe. Aber so schlimm ist der Name gar nicht. Nenn mich doch bitte einfach nur Marge. Sei mir nicht böse, Lou. Aber was deine Haare angeht …«, sie schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Ist das die neuste Mode? Es sieht nicht wirklich ansprechend aus, fürchte ich, meine Liebe«, sagte sie.
Lou schossen die Tränen in die Augen. Ratlos zuckte sie mit der Schulter. »Ich hatte gehofft, es gäbe einen Friseur …«, presste sie bedrückt hervor.
Marge winkte ab.
»Leider nicht, Lou. Aber ein Grund zum Weinen ist es nun auch nicht. Keine Bange, wir finden eine Lösung. Ich bin überzeugt!« Marge war ihr sympathisch. Zu sehr erinnerte die mollige kleine Frau Lou an das, was ihr fehlte.
O Mama. Jetzt könnte ich dich wirklich brauchen!
Die Kleine hingegen war einfach nur süß. Wie konnte so ein Griesgram wie Alasdair Munro so eine liebenswürdige Mutter sein Eigen nennen. Wie um alles in der Welt war er außerdem zu so einer entzückenden Tochter gekommen? Und wo um Himmels willen war die Mutter?
Warum musste ausgerechnet ihm so etwas passieren. Eine Frau anstelle eines Mannes. Daingead cac! Eine Frau, die ihren ganzen Hausstand samt Ziegeln mit dabei hatte. Dieses elendige Frauenzimmer. Er hätte es besser wissen müssen. Schließlich fuhr er seit etlichen Jahren Touristen aus aller Herren Länder, meist waren es Frauen zu den Sehenswürdigkeiten seiner Heimat. In Scharen kamen die Frauen auf der Suche nach den berühmten Romanhelden, und seit die Highland-Saga Outlander verfilmt worden war, kamen noch mehr. Was einerseits gut war, denn es brachte mehr Ein-nahmen. Andererseits hatten diese Touristen aberwitzige Vorstellungen vom Schotten an sich. Diese reichten von muskulös und ständig Kilt tragend, bis zum mit nacktem Oberkörper Touristinnen rettenden Helden. Diverse Whiskymarken hatten sich dies für ihre Werbung längst zunutze gemacht.
Alasdair persönlich konnte den Namen Jamie nicht mehr hören. Zum wiederholten Mal fragte er sich, wieso seine Mieterin nicht einfach auch eine dieser Serienkulissen-Rundreisen mitgemacht hatte, anstatt ihm auf die Nerven zu gehen. Augenscheinlich war sie ja keinen deut besser, suchte ebenfalls nach dem angeblichen Aushängeschild der Schotten. Zumindest wenn er ihre Blicke ihm gegenüber richtig deutete. Eine lebendig gewordene Barbiepuppe. Der größte Teil von Louise Schulzinger erinnerte ihn jedenfalls genau daran. Ärgerlich hielt er das alte Fahrrad umklammert. Verflucht, sein Schienbein würde höchstwahrscheinlich am nächsten Tag in wunderbaren Blautönen erstrahlen.
Eigentlich war es ihm nicht um den rostigen Drahtesel gegangen. Wenn Alasdair ehrlich zu sich selbst war, hatte ihn ihr Anblick eiskalt erwischt, sogar regelrecht schockiert. Die platinblonden Haare vom Vortag waren einem hellbraunen Haarschopf mit einer katastrophalen Frisur gewichen. Einer schrecklichen Mischung aus Tina Turner für Arme, gepaart mit einem Hochlandrind. Louise Schulzinger hatte nicht ein bisschen Ähnlichkeit mit seiner Exfrau, dennoch hatte er im ersten Moment gedacht, Felicitas auf seinem alten klapprigen Fahrrad zu sehen. Ja, verdammt. Es hatte den Überresten seines Herzens einen fiesen kleinen Stich versetzt, die fremde Frau so zu sehen. Jetzt war diese zu allem Übel auch noch in seinem eigenen Café verschwunden.
Marge würde ihn umbringen, wenn sie erfuhr, wie er mit der Deutschen umgesprungen war. Was um alles in der Welt brachte ihn an dieser Frau so derart dazu, die Fassung zu verlieren. Sie war noch nicht einmal ansatzweise der Frauentyp, aus dem er sich etwas machte. Missmutig schob Alasdair das Fahrrad über die Straße und lehnte es gegen die Hausmauer des Cafés. Seit den frühen Morgenstunden war er auf den Beinen. Erst mehrere Stunden in der Backstube, dann auf einer der, weiter entfernten Weiden, um nach den Schafen zu sehen. Er hatte Zäune sowie etliche Gatter repariert, um sie in Schuss zu halten.
Jetzt war er nur hier, um mittagzuessen und Grace zu fragen, wie es in der Schule gelaufen war. Seit Neustem hatte seine Kleine diverse Probleme mit einer Lehrerin. Manchmal fragte er sich beklommen, ob er sie falsch erzogen hatte.
Es war nicht einfach, Vater und zugleich Mutter zu sein. Ihm fehlte definitiv eine weibliche Seite, das war sogar ihm klar. Er war nun mal kein Mann mit Sinn für viele Worte oder Weiberkram. Wie oft hatte seine Exfrau seinen Mangel an Romantik beklagt. Alasdair war schon seit jeher eher ein Mann fürs Grobe gewesen. Seit Grace in der Schule war, wirkte sie noch verschlossener als zuvor. Eine Auster war ein Klacks gegen seine Tochter. Er wusste, dass sie ihm längst nicht alles erzählte, was sie belastete. Ständig kam sie mit neuen blauen Flecken heim. Er fühlte sich völlig hilflos. Die Gehörlosenschule in Inverness war teuer. Dennoch war es, sah man von einer Operation ab, die einzige Chance für Grace. Er hatte sich geweigert, Grace operieren zu lassen, dabei wusste er, dass so eine Operation längst ein Routineeingriff gewesen wäre, den zudem die Krankenkasse übernommen hätte.
Grace hätte eine reale Chance, wieder hören zu können. Aber sie konnte auch bei solch einem Eingriff sterben. Eine Operation war schließlich kein Spaziergang. Dieses Risiko war ihm einfach zu hoch erschienen. Demnächst würde er vermutlich gezwungen, sein Café samt der Bäckerei zu verkaufen. Gleich, nachdem er das Einzige, woran sein Herz hing, ebenfalls verkauft hatte. Seine Harley Davidson 74 Knucklehead, sein Baby. An der er nicht nur hing, weil sie ein echtes Liebhaberstück mit Seltenheitswert war, sondern weil der Kiltgürtel seines Urahnen väterlicherseits, ein Erbstück der Familie, um den Tank herum eingearbeitet worden war, ebenso wie eine Brosche, die jetzt den Tankdeckel krönte.
Allein der Erinnerungswert der Maschine war mit keinem Geld der Welt aufzuwiegen. Leider hatte er Verantwortung. Verantwortung für seine Kleine ebenso wie für seine Eltern, die auch nicht mehr die Jüngsten waren. Doch wenn Grace eine Zukunft haben sollte, blieb ihm nichts anderes übrig.
Wenn er wenigstens wüsste, was er falsch machte. Wieso erzählte ihm sein Mädchen nicht, was sie bedrückte? Marge wollte und konnte er damit nicht belasten. Sie tat ohnehin bereits viel zu viel. Ihre Ratschläge waren unbezahlbar, halfen ihm jedoch längst nicht immer.
Und sein Vater war ihm bei derlei Fragen keine Hilfe. Mit Grübeln beschäftigt, betrat er den Laden. Marge bediente gerade Stuart, nickte ihm zu. Sobald Stuart ging, würde sie ihm sein Essen bringen, wie jeden Mittag um diese Zeit. Zielstrebig ging er ins Café hinüber, blieb dann verdutzt mitten in der Tür stehen. Ihm war, als würden ihm seine Augen auf einmal einen Streich spielen, so fremd war die Szene, die sich ihm darbot. Louise Schulzinger mit seiner Tochter Grace, die Köpfe einträchtig zusammengesteckt, arbeiteten konzentriert an etwas, das auf dem Tisch lag.
»Da staunst du, Al«, flüsterte Marge, die neben ihn getreten war, verschwörerisch. Er konnte den Blick nicht von den beiden abwenden. Soeben nahm die Fremde Grace einen Stift aus der Hand, um ihr etwas zu zeigen. Nicht genug, dass Grace sich von ihr anfassen ließ. Nein, sie sah dabei sogar regelrecht glücklich aus. Plötzlich klatschte die Kleine begeistert in die Hände.
»Was zum …?«, stieß er völlig befremdet aus.
»Lou war so freundlich, mir aus der Klemme zu helfen. Du weißt doch, dass ich nicht zeichnen oder malen kann, aye. Gracy sollte einen Elefanten zeichnen. Eine kniffelige Hausaufgabe.«
»Lou?«
»Louise, die Deutsche. Eine zauberhafte Frau. Ich dachte schon, Gracy lässt sich vor Verzweiflung nicht mehr beruhigen. Dann kam sie. Jetzt zeichnen die beiden bereits eine ganze Weile. Du bist heute spät dran. Wie lange bist du denn bereits vor dem Laden gestanden, Junge?«
»Scheinbar zu lange. Meinst du nicht, dass die A' gearmailteach auch noch etwas anderes zu tun hat, als deine Enkelin zu hüten, Marge«, brummte er unwirsch, machte sich auf den Weg zum Tisch. Tatsächlich bekam er beim Anblick der beiden Panik. Nackte Panik. Dieses elendige Weib rief Gefühle in ihm wach, die er nicht wollte. Gefühle, die er sich verdammt noch mal nicht leisten konnte. Er wurde wütend.
Dabei gab es keinen vernünftigen Grund, so zu empfinden. Alasdair hatte das Gefühl, vor Wut zu schnauben wie ein gereizter Stier. Mühevoll beherrscht baute er sich direkt neben dem Tisch auf. Die Fremde zuckte erschrocken zusammen. Ihr sympathisches Lächeln gefror zu einer gekünstelten Grimasse. Grace hingegen strahlte ihn unerschrocken und überglücklich an.
»Sieh mal Pa, was mir Lou gezeigt hat. Dafür gibt mir Mrs. Dunnen sicherlich eine Zwei mit Sternchen. Lou hat gesagt, sie würde sogar einmal mit mir zur Schule gehen. Ist das nicht toll von ihr, Pa?«, erklärte seine Tochter in der Gebärdensprache mit fliegenden Fingern, sodass Alasdair sich gezwungen sah, ihre Hände festzuhalten.
Verständnislos, wie große glänzend blaue Murmeln, blickten ihn Graces Augen an. Es bereitete ihm unsägliche Schmerzen, seinem Mädchen wehtun zu müssen. Andererseits konnte er nicht zulassen, dass eine Fremde, eine Touristin, die nur für kurze Zeit hier in Schottland zu Gast war, ihrer beider Leben auf den Kopf stellte.
Daingead! Weder Graces Herz, noch sein Eigenes konnten sich auf eine Frau einlassen, die außer von Mode und Schmuck vermutlich von nichts eine Ahnung hatte. Keine Gefühle – keine Schmerzen.
»Danke für Ihre Hilfe, Mistress Schulzinger«, presste er mühsam beherrscht hervor. Ohne auf Graces Gebärden zu achten, packte er ihre Stifte zurück ins Mäppchen.
»Keine …«, entgegnete die Deutsche, räusperte sich »… keine Ursache, Mr. Munro«, stotterte sie. Sie erhob sich so ruckartig, dass der Stuhl mit einem lauten Knall umfiel.
»Das Fahrrad steht draußen«, erwiderte er ruhig.
Louise Schulzingers Gesicht wurde hart. Ihre Augen blitz-ten ihn regelrecht an. Ohne ihn weiter zu beachten, wuschelte sie einmal liebevoll durch Graces Haar.
»Danke«, murmelte sie, nahm Marge das eingepackte Brot aus den Händen, das diese ihr mit entschuldigendem Achselzucken entgegenhielt. Selbst der Hund trottete mit schicksalsergebenem Blick hinter seinem Frauchen her.
Der Teufel hole dieses Weibsbild, dachte Al ärgerlich.
Einen Moment später stellte Marge den Teller mit seinem Mittagsessen mit einem lauten Klirren vor ihm auf den Tisch, das aus ihrer Laune keinen Hehl machte.
»Was ist, Mutter?«, knurrte Alasdair.
»Nicht alle Frauen auf Gottes Erde sind wie deine Exfrau, Al. Was hat dir die arme Frau getan, dass du dich so daneben benehmen musstest?«
»Ich habe mich nicht …«
»Und ob. So habe ich dich nicht erzogen. Dein Vater wäre entsetzt über deine schlechten Manieren, aye!«, fiel ihm seine Mutter ins Wort.
Lou floh regelrecht aus der kalten Atmosphäre des Cafés. Das Heimelige war im selben Moment verschwunden, in dem Alasdair Munro das Café betreten hatte. Mit zitterigen Fingern schnappte sie sich das klapprige Herrenrad, welches an der Hauswand lehnend auf sie wartete. Was für ein Furcht einflößender Mensch dieser Schotte war. Dabei sah er trotz seiner Narbe auf der einen Wange, der fehlenden Rasur sowie den verschmutzten Arbeitskleidern keineswegs schlecht aus. Für einen Romanfiesling würde es ausreichen. Definitiv hatte er etwas Männliches, Draufgängerisches an sich. Vielleicht lag es auch daran, dass Alasdair Munro das komplette Gegenteil von Alexander war.
Alexander war ein Charmeur, ein Frauenschwarm. Vermutlich fiel ihr dieser Schotte deshalb so ins Auge, weil er all das nicht wahr. Alasdair Munro war durch und durch ein Macho, daran hatte sie keine Zweifel. Er strahlte Unnahbarkeit ebenso aus, wie etwas Gefährliches. Der Kerl war so groß, dass er sie, selbst wenn sie ihre High Heels trug, noch überragen würde. All dem zum Trotz hatte er auch etwas Weiches, Verletzliches an sich.
Ein Mann mit einer schmerzlichen Vergangenheit?
So wie ich eine Frau mit gebrochenem Herzen bin?
Dummerweise schien Alasdair Munro auch ein absolutes Arschloch zu sein. Im Stechschritt steuerte Lou das winzige Lebensmittelgeschäft an, um ein paar Einkäufe zu tätigen. Nachdem sie Doc vor dem Laden neben dem Fahrrad fest-gebunden hatte, trat sie in das schummrige Innere. Er bestand aus einem einzigen Raum, in dem überladene Regale, die vom Boden bis zur Decke gingen, die Vorherrschaft hatten. Der alte Linoleumboden quietschte bei jedem ihrer Schritte.
Trotzdem gab es hier alles, was das Konsumherz höherschlagen ließ. Einkaufswagen gab es keine. Dafür jedoch eine bunte Auswahl an verschiedensten Körben in unter-schiedlichsten Größen. Lou nahm sich einen davon.
Gemächlich schlenderte sie durch die Regalreihen, ließ das Sammelsurium aus Waren auf sich wirken. Bald schon, war der Korb überladen mit Keksen, Schokolade, Fudge, Tee, Kaffee, Bier und einer weiteren Flasche Whisky, an welcher Lou einfach nicht vorbeigekommen war.
Schottland macht aus dir noch einen Säufer, Lou, unkten ihre Gedanken. Leise antwortete sie sich selbst: »Wohl eher deine verkorkste Familie!«
An der Kasse gönnte sie sich schließlich noch ein Eis. Schwer beladen verließ sie den Laden und verstaute zwei der Tüten mit ihren Einkäufen im Korb auf dem Gepäckträger. Die anderen beiden hängte sie rechts und links an den Lenker. Langsam spazierte sie mit Doc an ihrer Seite zurück zu ihrem Feriendomizil.
Alasdair Munro, der sie vom Sitz eines alten Traktors aus beobachtet, ignorierte sie dabei demonstrativ. Es wurde ein langer Weg. Was unter anderem daran lag, dass gleichzeitig Eis zu lecken, und ein schwer beladenes Fahrrad mit einer Hand im Gleichgewicht zu halten, denkbar schwierig war.
Mehr als einmal war Lou versucht, das Eis einfach wegzuwerfen. Schließlich blieb sie bei einem großen Stein direkt am malerisch gelegenen See stehen. Sie stellte ihr Gefährt ab und aß erst einmal genüsslich ihr Eis, während sie auf einem Stein sitzend die Beine baumeln ließ. Die Sonne ließ das Wasser in herrlich strahlendem Blau leuchten. Unwillkürlich musste sie an die Augen von Grace denken. Schwer zu glauben, dass die Kleine tatsächlich Alasdair Munros Tochter war. Leider sah sie ihrem Vater so ähnlich, dass dieser sie schwer leugnen konnte. Ein lauter Seufzer stahl sich von ihren Lippen. Plötzlich überkam sie Sehnsucht. Sehnsucht nach ihren Kindern. Hektisch zerrte Lou ihr Smartphone aus der Hosentasche. Wieder befanden sich mehr als zwanzig Mitteilungen auf ihrer Mailbox. Sekundenlang schwebten ihre Finger über dem Befehl zum Löschen.
Dieses Mal brachte sie es nicht übers Herz, treudoofe Ehefrau und liebende Mutter, die sie war. Wie nicht anders zu erwarten, war über die Hälfte der Mitteilungen von Alexander. Er flehte sie an zurückzukommen, weil ohne sie alles im Chaos versank, nur um sie im selben Atemzug als untreue, unsensible Schlampe zu bezeichnen. Die restlichen Mitteilungen waren von ihren Söhnen Philipp und Richard, die sich dabei übertrafen, ihr Vorwürfe zu machen. Einzig die letzte Nachricht ließ sie Hoffnung schöpfen. Sie war von Tobi, der ihr den Kopf zurechtrückte, in dem er ihr erklärte, dass sie ja nicht vor Ablauf der zwei Monate wieder auftauchen sollte! Ihre Familie sei völlig verwöhnt, suhle sich im Selbstmitleid. Ansonsten wäre jedoch alles ganz beim Alten.
Und ob sie schon ihrem schottischen Romanhelden über den Weg gelaufen wäre? Außerdem hatte er mit ihrer Galeristin Kontakt aufgenommen. Es war alles in die Wege geleitet, um ihr den Ertrag der verkauften Bilder auf ihr geheimes Postbankkonto zukommen zu lassen. Wider Erwarten war die letzte Vernissage gut verlaufen. Fast nahezu alle ihre Kunstwerke hatten einen Käufer gefunden. Sein »Damit du in Schottland nicht Hunger leiden musst!« ließ sie die Tränen, die eben noch kommen wollten, vergessen.
Erleichterung machte sich in ihr breit. Was Alexander nicht wusste, war, dass sie bereits seit Jahren wieder sehr erfolgreich im Geschäft war. Sie malte wieder, ebenso wie sie hier und da kleine Werbeaufträge annahm. Auf ihrem Sparbuch hatte sich bereits eine stolze Summe angespart. Angst vor einer Zukunft ohne Mann brauchte sie zumindest nicht haben. Plötzlich verspürte sie keine Sehnsucht mehr nach ihrem Zuhause oder nach Deutschland.