Читать книгу Entlarvung - Pia Klemp - Страница 7

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Rubi lag mit zur Seite gewandtem Gesicht auf ihrem Bett und beobachtete die Falten des Frotteelakens, die sich unter den Bewegungen ihres Beckens zu immer neuen Mustern strafften. Mechanisch griff sie in Codys Haar und drückte seinen Kopf tiefer zwischen ihre Beine. Das hier war auch nicht schlechter als die Beziehungen, die sie vorher gehabt hatte.

Ein eisiger Hauch Winterluft zog durch das gekippte Fenster und verlor sich in den trockenen Schwaden ihres überheizten Schlafzimmers. Sie zog gelangweilt eine Schnute und fühlte weder sich noch ihn. Die Stadt, die sich außerhalb der verrußten Hauswand befand (eine Wand, die von nicht viel mehr erzählen konnte als von den Krebserkrankungen der Arbeiter, die die Asbestplatten zugeschnitten hatten), interessierte das alles nicht und hielt in ihrem Treiben nicht inne. Wie bei jedem schwarzen Loch war es für den, der nicht selbst hineinfiel, unmöglich, je etwas darin verschwinden zu sehen.

Es herrschte eine merkwürdige Trennung zwischen Rubis Kopf und dieser Zunge, die sich zwischen ihren Schamlippen verlor. Rubi schielte auf die Uhr auf ihrem Nachttisch und wartete darauf, dass es vorbei war. Selten glaubte sie sich so alleine wie beim Oralverkehr. Niemand hatte ihr bisher das Gefühl gegeben, sie sei dabei wirklich anwesend. Ihr war es, als ginge es darum, dass er es war, der sie befriedigte, nicht dass sie befriedigt wurde. Ihr Schoß lieferte lediglich die Bühne für sein Können. Ganz leise fragte etwas Unterbewusstes, ob sie benutzt würde. Sie überhörte es ohne Mühen. Es war einfacher mitzumachen, als sich zu erklären. Man unterdrückte ja auch eher den Würgereiz, wenn man einen Schwanz im Mund hatte, als ihn zuzulassen.

Die leichten Vorhänge raschelten verschämt neben den Spiegelungen im Fenster, als würden sie sich vor dem hier Vorgeführten schließen wollen. Aber Rubi hatte nichts zu bemängeln. Die beiden hatten einen Deal und manchmal taten sie so, als sei es wahr. Taten so, als hätte die Suche nach Verbundenheit in diesem Bett ein Ende gefunden. Darum strampelten sie, um so viel wie möglich vom anderen zu ergattern, vögelten und konsumierten sie sich gegenseitig in diesem egoistischen Gemeinschaftswerk.

Sein Grunzen und Schmatzen begleiteten das rhythmische Zucken seiner Rückenmuskulatur, als er sich hingebungsvoll um ihr Geschlecht wand. Er dachte daran, dass er die kaputten Bluetooth-Boxen nur noch diese Woche umtauschen können würde. Vorher musste er sich noch gut überlegen, welche er stattdessen haben wollte und machte sich eine geistige Notiz, die Bewertungen dieses Mal besser zu studieren. Die bald manische Erregung, die er beim bevorstehenden Erwerb verspürte, war das Einzige, was ihn aus der Niedergeschlagenheit des Nichtbesitzens erlösen konnte. Er würde das unterwürfige Geräusch vermissen, das ihm der Lautsprecher bei jedem Anschalten digital entgegentrommelte. Es war nicht so wichtig, die nächsten würden besser sein.

Ein winziges Stöhnen, das Rubi selbst überraschte, entwich ihrer Kehle. Und mehr noch als das mutmaßliche Attest ihrer Lust überraschte sie, wie automatisiert alles an ihr diese Nummer mitspielte. Sie reckte das Kinn, atmete tief ein und kam nicht umhin, die Spinnweben an der gedimmten Deckenlampe zu bemerken. Aschfahles Lametta, das in der aufsteigenden Thermik verhalten wehte. Sie täuschte einen Orgasmus vor, so viel schuldete sie ihm. Trotz aller Einfallslosigkeit schien ihr die Abgeklärtheit ihrer Verbindung fair und sie konnten getrost zum nächsten Punkt übergehen.

Cody setzte sich auf und generös schenkte er ihr ein feuchtes Grinsen aus perfekten weißen Zähnen. Er fand sich selbst geiler als alles andere. Rubi wusste das und es scherte sie nicht, viel eher beliebäugelte sie ihn mit gesunder Distanz. Und sie musste das Lächeln ja auch nicht erwidern. Sie glaubte nicht, dass sie in derselben Liga spielten. Und hätte sie je gefragt, hätte er ihr wohl recht gegeben. Trotzdem, oder vielleicht auch deswegen, wollte sie ihn. Fürs Jetzt und vielleicht noch ein wenig länger. Während er sich auf der Bettkante, ihr den Rücken zugedreht, den Gummi überstreifte, richtete sie sich ihr struppiges schwarzes Haar und sammelte ein bisschen Spucke im Mund.

Das fade Zimmer, spärlich eingerichtet und ebenso spärlich dekoriert, wurde noch enger und auch das war okay. An den Wänden hing einzig eine alte Lithographie von Forstinsekten; tapfer versuchte die Zierbrombeere auf der Fensterbank etwas Leben in die Bude zu bringen. Rubis Blick blieb am Setzkasten über dem schmalen Pult in der Ecke hängen. Die getrockneten Löwenmäulchensamen, die wie lustige Narrenköpfe aussahen, waren von einem Windstoß aus ihrem hölzernen Fach getragen worden, und lagen verstreut auf Tisch und Boden. Sie würde es später richten. (Vor mehr als 25 Jahren hatte ihr Oma Anni den Holzkasten geschenkt. Seitdem stellte sie allerhand Schätze darin aus, wie den Rosenquarz, eine putzige Drachenfigur aus Ton, das Bruchstück eines Fossils und den Emaille-Anhänger aus Prag.) Vielleicht würde sie auch noch ein paar Blüten pressen, wenn sie sowieso schon dabei war.

Cody schwang sich über sie und strich sich mit seiner manikürten Hand über den Musculus pectoralis: »Ok?«

»Ok«, stimmte Rubi zu und er drang in sie ein.

»Uhh yeah«, griente Cody mit hochgezogenen Lefzen.

Seine dichten Locken waren zerzaust und rahmten sein gutes Aussehen. Dieses Mal lächelte Rubi zurück und schloss die Augen. Es beruhigte ihren Körper. Ihre Haut wollte berührt werden und ihr Geist das Irrlicht heraufbeschwören, man besäße noch Instinkte. Ihr Ausbruch in sexuelle Befriedigung garantierte ihr kein Glück, aber er machte es einfacher, die Abwesenheit des selbigen zu leugnen, und draußen kreischte der Wind.

Cody hatte einmal erzählt (und normalerweise redeten sie nicht viel), dass er es nicht immer leicht hatte, es nie Geld in seiner Familie gegeben habe. Und ohne dass sie es wollte, landeten ihre Gedanken im Substrat bei ihren Engerlingen, die Stauwärme nicht mochten. Ein Umstand, der beachtet werden wollte, denn das Larvenstadium ist das einzige, in dem Käfer wachsen. Abhängig von den Bedingungen dieser Epoche ihrer eindrucksvollen Metamorphose war der ausgewachsene Käfer am Ende dann groß oder eben nicht.

Cody war ein latent eitler Gockel, der immer aufpassen musste, sich mit genug Prunk und Protz zu schmücken. Gehetzt von der Sorge, es könnte doch noch jemand merken, was für ein Wicht er war. Vor allem er selbst könnte es bemerken, befürchtete er sicherlich, befürchtete Rubi wiederum fälschlicherweise. Es war ausgeschlossen, dass er je genug haben würde. Und so hatte sie sogar in Erwägung gezogen, ihm die Armbanduhr zu kaufen, die er unbedingt haben wollte. Um seine Gier zu stillen, um ihn glücklich zu machen. Er dachte eigentlich nie an sie, und wenn, dann ging es darum, was er mit ihrem Geld machen würde. Er meinte das nicht böse, kein Stück, er war nur gut organisiert.

Cody bewegte sich jetzt schneller. Im Wandspiegel sah sie sich und ihm zu. Sie machten es immer so, dass Rubi kam, wenn er auf ihr lag. Also wirklich kam, aber das wusste natürlich nur sie. Und wenn er ihr ins Ohr flüsterte, so wie sie es ihm gesagt hatte, dann verspürte sie ihre eigene Wollust und ihr Körper bebte. Danach war Cody dran, das war die unausgesprochene Abmachung, von hinten. Sie wusste nicht, ob er das bei anderen Frauen auch so handhabte und ob das einen Unterschied für sie machen würde. Sie hielt sich mit solchen Gedanken nicht auf, um ein unerträgliches Maß an Erkenntnis zu vermeiden.

Sie sah Codys zufriedene Miene im Spiegel, die nur ihm selber galt. Solange er die Augen offenhalten konnte, schaute er sich selber zu, bevor er schließlich lautstark kam. Unter dem schweren Deckmantel seiner Schau war kein Raum für den Unterschied zwischen Selbstsucht und Selbstliebe. Auch das konnte Rubi einerlei sein in dieser Amour, die scheinheiliger als Katzengold war. Sie untersuchte derweil ihr eigenes Abbild, betrachtete ihren dürren Körper mit den flachen Brüsten und die ersten grauen Strähnen, die ihr Haar melierten, obwohl sie erst Anfang dreißig war. Sie fand sich weder hübsch noch hässlich, war indifferent ihrem Aussehen gegenüber. So indifferent wie die Stadt es weiterhin gegenüber allem war und mit der unendlichen Zeit jenseits des Ereignishorizonts verweilte.

Cody küsste sie, auch das war abgesprochen, und als er sich von ihr löste, glaubte sie eine Spur Verachtung in seinen Augen zu erkennen. Nun, da das Trugbild der Nähe hinter ihnen lag, waren sie sich fremder als noch davor. Er verschwand unter der Dusche. Alles war paletti und Rubi voller egaler Emotion. Wie ein Seestern lag sie auf der Matratze und ließ ihre Gedanken schweifen. Morgen würde sie eine Stunde früher im Museum aufhören, um pünktlich bei ihrer Schwester zu sein. Zu allem Überfluss fiel ihr ein, dass sie auch noch die Liste für Dr. Prizrak anfangen musste, sie hatte es ihm und Raffaela versprochen. Sie hatte keine Lust, viel lieber würde sie den ganzen Tag mit ihren Käfern verbringen.

Als sie Cody aus dem Badezimmer kommen hörte, zog sie die Decke über sich. Der Moment fingierter Verbundenheit war vorüber und zog den der Scham ächzend hinter sich her. Doch auch damit war sie vertraut, erwartete nichts anderes.

»Ich bin dann jetzt weg«, sagte Cody, frisch rausgeputzt in seinem fordernden Habitus. Rubi drehte sich zum Nachttisch, hielt dabei das Duvet mit einem Arm über ihrem Busen fest und reichte ihm den Umschlag vom Bett aus.

»Danke«, sagte sie und meinte es so.

Nie gab sie ihm die 150 Euro offen, als müssten sie vor sich selbst geheim halten, was da für ein Geschäft zwischen ihnen lief. Cody öffnete das unverklebte Kuvert und schaute schnell nach, ob alles da war. Sie hatte ihn noch nie betrogen.

»Viel Glück beim Rennen«, wünschte sie ihm.

Ein seltenes ehrliches Lächeln zierte sein schönes Gesicht beim Gedanken an die Trabrennbahn und die Elite, unter die er sich diesen Sonntag mischen würde: »Danke.«

Er nickte ihr zu und gönnte sich einen letzten gefälligen Check im Spiegel: »Bis nächste Woche.«

Und Cody war zur Tür hinaus.


Mit dem Handtuch wischte sie die Kondensation vom Badezimmerspiegel und fand ihr blasses Gesicht dahinter. Wie jeden Mittwoch nahm sie sich den feinen Kamm, striegelte ihren Pony glatt und schnitt ihn gewissenhaft mit der kleinen, scharfen Schere aus ihrem Präparationsbesteck gerade. Die kurzen Spitzen kitzelten auf ihren Wangen und sie pustete sie mit vorgeschobener Unterlippe weg. Rubi legte ihr Haar zurecht, sog die Backen ein, streckte das Kinn und befand das Ergebnis für gut. Dann trug sie die Tagescreme in kreisenden Bewegungen auf und hängte den blaugrauen Bademantel an den Haken an der Tür.

Wie jeden Tag frühstückte sie Müsli, Kaffee und eine Banane mit ein wenig Zimt. Im Hintergrund lief das Radio, vor den Fenstern war es schwarz. Der Winter hatte die Sonne noch im Schwitzkasten, ließ sich von den ersten Liebesgesängen der Amseln nicht beirren und klammerte an der Dunkelheit solange er irgend konnte. Die Wohnküche machte das nur umso gemütlicher und der Wasserkocher blubberte zustimmend im Hintergrund.

Beim Schütteln der Milchtüte hörte sie lediglich einen letzten verlorenen Rotz darin schwappen. Mit einem Schulterzucken kippte sie die Milch über das Müsli und füllte die Schale mit Wasser auf. Der gefällige Popsong im Radio kam zum Ende und machte Platz für die 7-Uhr-Nachrichten. Sie gähnte, streckte sich auf ihrem Holzstuhl und entlockte ihm damit ein wehleidiges Knarzen. Ein Politiker hatte irgendetwas gesagt, die Gewerkschaft erzürnte das. Rubi nahm die Schüssel zum Mund, um den letzten Rest Milchwasser zu trinken, der Urwald brannte hektarweise und sie machte das Radio aus. Sie hatte keinen besonderen Grund, so früh aufzustehen.

Nachdem alles gespült und weggeräumt war, benetzte sie das torfige Bodensubstrat mit der Sprühflasche, bedacht, die Larven darin nicht zu ertränken. Das Terrarium mit den Rosenkäfern stand normalerweise im Museum, als Teil der Lebendausstellung. Aber Frank, zuständig für die lebenden Exponate, war im Urlaub und der neue Nachtwächter hatte schon zweimal die Heizung ausgestellt. Rubi hatte es für besser befunden, die Käfer zu sich nach Hause zu nehmen, bis Frank wieder da wäre. Sicher war sicher.

Es war schön, sich zur Abwechslung um noch Lebende zu kümmern. Bei ihr im Präparationsatelier waren alle starr, das war der Sinn der Übung. Am Ende des Tages machte sie oft einen Abstecher ins Vivarium in der großen Halle und freute sich am Gekreuche und Gefleuche, ganz ohne Melancholie.

Mit geschickten Fingern legte sie die Apfelscheiben unter den abgebrochenen Ast und summte dabei Alex Camerons Running Out of Luck vor sich hin. Rubi wunderte sich, warum es dieses Gefühl nicht in echt gab. Es existierte nur in der Musik. Das war nicht weiter schlimm, bloß eine Feststellung. Man konnte Farben schließlich auch nicht schmecken. Aber wenn es sie gäbe, dann müsste sie sich genauso anfühlen, diese Liebe. Für einen kurzen Moment tanzten ihre Gefühle nichtsahnend am Rande des Wahnsinns, ohne die mögliche Tortur ihrer Klausur auch nur zu erahnen. Alles, was Rubi wusste, war, dass sie gespannt war, wie viele Rosenkäfer sie am Ende in ihrem Terrarium haben würde.

Sie schob den lieben Gedanken also beiseite und pflückte die Obststückchen des Vortages aus dem Torf. Drei der alten Imagines waren noch übrig und nachdem sie pflichtbewusst die Eier abgelegt hatten, störten sie auch nicht weiter. Ihre ausgewachsenen Exemplare von Pachnoda cordata hatten eine vortreffliche Färbung, wie Rubi fand, aus sattem Gelb mit schwarzbraunen Flecken, die sich klar auf dem Panzer abzeichneten. Mit ihren kleinen kräftigen Beinen kletterten sie auf dem Pflanzenwuchs herum und sahen dabei aus wie edelster Konfekt.

Rubi hatte darüber nachgedacht, ihnen Namen zu geben, wo der Art doch schon der Trivialname fehlte, konnte sich dann aber doch nicht dazu durchringen. Wenn, dann würde es sich eher lohnen, die Larven zu taufen, die den längeren Zustand im Käferleben ausmachten. Da die Kreaturen noch in den Eiern steckten, eilte es nicht damit.

Sie schraubte das Marmeladenglas mit Essig-Äther auf, den sie im Museum abgefüllt hatte, fischte mit einer flinken Bewegung den stattlichsten Käfer aus dem Terrarium und warf ihn in das Glas. Der Geruch der fruchtigen Dämpfe stieg ihr in die Nase und die olfaktorische Vertrautheit erfrischte sie. Sie schraubte den Deckel wieder auf das Gefäß und hielt es zur genaueren Betrachtung hoch. An der gefärbten Längsrinne am Bauch des Insektes konnte Rubi erkennen, dass es das Männchen war, das in der Flüssigkeit um sein Leben strampelte. Tatsächlich würde der Äther ihn nur betäuben, er war zu groß, um so schnell darin zu sterben. Dafür würde sie ihn einfrieren.

Sie wollte dem armen Ding nicht weiter bei seiner Misere zusehen und so ging sie ins Schlafzimmer, um sich fertig zu machen. Als sie sich nach ihren Schuhen bückte, fand sie auf dem Boden die Liste für Dr. Prizrak und einen weiteren Löwenmäulchensamen, dessen Pollennarbe abgebrochen und mit dem Verlust seiner langen Nase vom Narrengesicht zum Schädel gewandelt war. Schnaubend betrachtete sie die Gegenstände in ihrer Hand, setzte an, den Samen mit seinen hohlen Augen und dem wehklagend geöffneten Mund wieder in den Setzkasten zu legen, überlegte es sich anders und steckte ihn, bar einer besseren Idee, in ihre Hosentasche.

Dann starrte sie auf die Liste für ihren Therapeuten. »Die Liste ist für Sie«, hatte er kulant gesagt. Es fühlte sich nicht so an. Sie las die Überschrift zum zwanzigsten Mal und wusste immer noch nicht, was sie darunter hinzufügen sollte. Meine Erkenntnisse aus dieser Woche. Statt auch nur ein Wort zu Papier zu bringen, hatte sie die Aufgabe sorgsam zweimal unterstrichen und das Blatt mit Schnörkeln umrahmt.

Sie war genervt. Genervt davon, dass ihre Schwester sie dazu gedrängt hatte, diese Therapie zu machen. Sie wusste noch nicht einmal wozu. Raffaela hatte sich bekümmert gezeigt, dass Rubi keine Ambitionen zu haben schien, keine Freunde, nichts, was ihr Spaß machte. Sie sei zu unbeteiligt. Eigentlich meinte sie, es sei inakzeptabel, dass Rubi kein gesellschaftlich relevantes Leben hatte und das noch nicht einmal anstrebte. Es fehlte nur noch, dass sie mit dem Fuß aufstampfte. »Meine Schwester ist kein Kauz«, hatte sie lachend gesagt und Rubi hatte an dem nervösen Zucken in ihrem Augenwinkel erkannt, dass es ihr bitterernst damit war.

Ein tatsächliches Problem sah Rubi nicht, aber sie würde fast alles tun, um ihre große Schwester glücklich zu machen, um sich nicht ständig mit ihr messen und dabei verlieren zu müssen. Früher hatte sie sich inbrünstig abgestrampelt, Raffas Schema zu entsprechen. Hatte Freunde, die sie nicht einmal leiden konnte, mit nach Hause gebracht und sich beim Sambatanzen angemeldet. Heute unterhielt sie nur noch eine Fata Morgana der Gefallsucht, weil sie es leid war, sich zu erklären und vorführen zu lassen. So ging sie jetzt einmal die Woche zu Dr. Prizrak in die Gesprächstherapie, ohne zu wissen, worüber sie reden sollte oder wie sie seine Fragen richtig beantworten konnte (er hatte ihr versichert, es gäbe keine falschen Antworten, aber das glaubte sie nicht). Was sollte sie denn für Erkenntnisse haben? Es war eine Woche wie jede andere in ihrem Leben. Was änderte das? Sie nahm sich den Kugelschreiber vom Pult und schmierte in groben Lettern auf das Papier: Ich habe vergessen Milch zu kaufen, verdammt.

Beseelt, die verbleibenden Tage nicht mit der Darbietung einer Autopsie ihrer Innenwelt verbringen zu müssen, schlüpfte sie in ihre Schuhe und ging zurück in die Küche. Ohne Umschweife holte sie den besinnungslosen Käfer aus seinem einschläfernden Bad, legte ihn auf eine Untertasse und steckte ihn ins Tiefkühlfach. Sie war zufrieden. Es wäre pervers, den schönen Kerl bei vollem Bewusstsein umzubringen.


Das Schutzblech des alten Fahrrads klapperte entrüstet, als sie auf dem Kopfsteinpflaster abbog. In den grauen Straßen wehte nasskalte Märzluft umher. Rubi zog ihre Mütze tiefer in die Stirn. Mit einer geübten Bewegung achtete sie dabei darauf, dass ihr Pony sich darunter nicht zur Seite verschob. Das Licht der Straßenlaternen feilschte vergeblich mit dem fahlen Anbruch des Tages um die höhere Candelazahl. Das graue Licht des Morgens biss sich im Gegenzug durch die Überreste der Nacht und die Lichtkegel der Konkurrenten.

Bei jedem Tritt in die Pedale zog die Kälte abwechselnd ihr linkes und dann das rechte Hosenbein hoch. Sie konnte sich nicht überwinden, abzusteigen und ihre Hose in die Wollsocken zu stecken, und fuhr weiter auf die Landstraße. Hinter den Leitplanken auf den Feldern und im Grün entdeckte sie mehrere Grüppchen von Leuten. Die dunklen Schemen waren in dicke Jacken gepackt, mit kleinen Köpfen, die zwischen Schals und Mützen verschwanden. Es gab Normale, Dicke, Lange und Kinder, das ganze Sortiment. Die einen buddelten mit Schaufeln, die anderen spannten gebückt einen langen, niedrigen Zaun aus einer Plane auf. Die Krötenwanderung würde bald losgehen und dieses Dorf war gefeit. Als sie ihre Fahrt in der nächsten Kurve verlangsamte, grüßte sie mit einem wohlwollenden Lächeln, das bedauerlicherweise in ihrem Schal hängen blieb: »Morgen!«

Ein paar der eifrigen Gestalten hoben kurz den Kopf, zumindest ein bisschen. Das Kind im pinken Anorak ignorierte sie komplett. Niemand erwiderte ihren Gruß, sie konnte noch nicht mal ein gelangweiltes Nicken ausmachen. Stattdessen bereiteten sie weiter die Zukunft der Kröten vor. Frohgemut arbeiteten sie dem Aufbruch der bedürftigen Amphibien entgegen, ungeachtet dessen, dass jeder neue Morgen sie zwangsläufig einen Schritt näher an den Tod bringen würde.

Rubi war erbost, dass keiner ihr einen schönen Tag gewünscht hatte. Sie fuhr schneller und ärgerte sich, weil sie sowieso schon dabei war, auch darüber, wie die Krötenkumpel bald den Verkehr lahmlegen würden. Sie schnaufte durch die Nase und bremste dann plötzlich ab. Vor ihr auf der Straße saß eine der warzigen Poggen. Das Ding war viel zu früh im Jahr unterwegs. Überfahren und platt gedrückt pappte es nun auf dem Asphalt. Rubis Lippen zogen sich zu einer schmollenden Rosette zusammen und sie fühlte sich schlecht.

Der Verkehr nahm zu, als sie in die Stadt hineinfuhr. Menschen und Waren wurden darin hin und her geschoben. Der Kühllaster kam vom Markt und stieß fast mit dem Taxi zusammen, das einen Eiligen zum Bahnhof brachte. Es hupte und die Mutter mit dem einem Kind im Wagen und dem anderen zerrend an ihrer Hand verdrehte die Augen. Die Tafel vor dem Café versprach die besten Croissants der Stadt und der Kellner schielte schon jetzt auf die Uhr nach dem Feierabend, als die Tram bimmelnd und polternd vorbeirauschte. Rubi wich einem Skateboardfahrer aus und hielt an der roten Ampel.

Ein Polizeiwagen kam neben ihr zum Halt und sie blickte ihrem Atem nach, wie er sich in der frischen Luft materialisierte. Das Beifahrerfenster wurde heruntergekurbelt und einer der Streifenbeamten lehnte sich jovial zu ihr herüber: »Fräulein, machen’se mal das Licht an.«

Rubi, die eben noch kurz davor gewesen wäre, ihn freundlich zurückzugrüßen, hielt die Luft an und drehte ihren Kopf schwerfällig in seine Richtung.

»Es ist doch schon hell«, hauchte sie tonlos und schaute wie zum Nachweis gen Himmel.

»Mach das Licht an«, bevormundete der käsige Mann sie staatlich und der dicke Schnurrbart zuckte auf seiner Oberlippe bei so viel Renitenz am Morgen. Auch der Polizist am Steuer schüttelte den Kopf und seine beiden Kinne – es war ihm wirklich ein Bedürfnis.

Rubi beugte sich nach vorne und drückte den Dynamo mit einem Klicken an den Reifen. »Es ist hell«, nuschelte sie dabei und dachte: Und ich bin mündig. Die Ampel sprang auf grün und der Polizeiwagen sauste ohne Adieu davon, als hätte er tatsächlich Besseres zu tun. Sie schwang sich auf den Sattel und das Licht ihrer Fahrradlampe hatte nichts zur Welt beizutragen, außer die Posse zaghaft auszuleuchten.

Weder ihre Finger noch ihre Nasenspitze waren zu spüren. Sie bemühte sich, den uniformierten Geltungsdrang unbeachtet zu lassen und übersah, dass sie ihn damit verfestigte. Mürrisch und herumgeschubst saß sie auf ihrem Drahtesel und war zu nichts zu gebrauchen, als die gräuliche Gefangenschaft in ihrer selbst abzuleugnen.

Sie schob ihr Fahrrad an Peters weißem SUV vorbei und blieb mit dem Lenker im Liguster hängen. An dem alten Schmiedezaun, der das Museumsgelände umgab, kettete sie das Rad fest und ging zum Nebeneingang hinein. Noch bevor sie sich aus ihrem Wintermantel schälte, ging sie zum Kaffeeautomaten im zweiten Stock. Während sie darauf wartete, dass sich der dünne Plastikbecher füllte, rieb sie ihre kalten Hände gegeneinander.

Die Schmeckmeier und Peter schlenderten gefällig schnatternd den Flur herunter. Die blonde Frisur saß wie ein Helm auf dem Kopf der Chefsekretärin, als erwarte sie ständig Schläge auf den Hinterkopf von der Museumsleitung. Ihr mickriger roter Mund tanzte verzückt auf ihrem faltigen Gesicht, wenn sie sich selber reden hörte. Peter nickte vehement und man musste befürchten, dass er eines Tages vor lauter Schleimerei zerfließen würde. Rubi verabscheute ihren Vorgesetzten. Gerade jetzt, wo Frank nicht da war, schien ihr seine übergriffige Art unerträglich. Doch der Automat ließ sie warten und es gab kein Entkommen.

»Rubi! Na, musst du auch aufgewärmt werden? Hähä«, schlawinierte sich Peter mit gebleckten Zähnen in ihre Nähe. Rubis Nackenhaare stellten sich auf und er krempelte sich grienend die Ärmel hoch.

»Also Peter …«, kicherte die Schmeckmeier verrucht und ihre nassen Augen blinkten ihn an.

Mit blutleeren Lippen brachte Rubi ein reserviertes »Morgen« hervor.

»Warum denn so schlecht gelaunt?«, forderte Peter sie mit schiefem Mund heraus und schwang die Faust enthusiastisch vor seiner Brust.

»Ich bin nicht schlecht gelaunt«, stellte sie nüchtern fest und umklammerte den labilen Becher fester. Brühheißer Kaffee schwappte über den Rand auf ihre Finger, doch sie ließ sich nichts anmerken.

»Dann lach doch mal«, verlangte Peter mit solch einer Süffisanz, dass man gar nicht anders konnte, als ihn anspucken zu wollen.

In Rubi regte sich nicht viel: »Worüber denn?«

»Also«, echauffierte sich Peter durch die Nase und wartete ein paar Sekunden.

»Naja«, schloss die Schmeckmeier dann etepetete, nickte wissend und schielte Lob heischend zu Peter (es waren diese Art gehaltloser Kommentare, die die Belegschaft davon abhielt, ihren Vornamen erfahren zu wollen).

Nachdem Rubi immer noch nicht gelacht hatte, orderte Peter streng: »Die Präparate müssen jetzt bald mal fertig werden.«

»Ja, diese Woche bestimmt«, versprach sie und nippte an ihrem Kaffee.

»Na gut, dann will ich das mal glauben«, sagte er mit dem Versuch, Zweifel in seine Stimme zu legen, von denen alle drei wussten, dass es sie nicht gab und sie sowieso unbegründet wären. Rubi war zuverlässig und sie war gut in dem, was sie tat. Ihre Präparate waren noch immer penibel ausgearbeitet und vorschriftsgemäß konserviert worden.

Mit einem feindlichen Nicken verabschiedete sich Peter von ihr. Dann bot er der Schmeckmeier hoheitsvoll seinen haarigen Arm: »Gnädigste.«

Vor Aufregung konnte sie sich bald nicht mehr halten, hakte sich dankbar bei ihm ein. Gefolgt von dem Klackern ihrer Stöckelschuhe gingen Peter und die Schmeckmeier blöde witzelnd in Richtung der Büros. Rubis Blick klebte mutlos an ihren Rücken und sie wischte sich den Kaffee von den Fingern an die Hose.

Das Präparationsatelier befand sich in den hinteren Kellerräumen des Museums. Vor den schmalen Fenstern nahe der Decke sah man die Beete der Parkplatzbepflanzung und manchmal sogar Sonne. Nicht in diesen Monaten. Das war auch nicht nötig, starke Deckenleuchten fluteten jeden Winkel des Raums mit Licht und an den Arbeitsplätzen gab es natürlich noch die Tischlampen. Lange, dürre Blecharme, die sich genügsam hin und her justieren ließen.

Alles war hell, ordentlich und steril in ihrem Reich. Weiße Wände und Regale, weiß polierte Tischplatten und Schränke aus Glas. Der pummeligen Putzfrau mit dem freundlichen Wesen und dem gelb gestreiften Kittel steckte Rubi jeden Monat etwas Geld zu, damit sie es mit dem Staubwischen hier unten besonders genau nahm (der Putzkraft, Martha Lott, war das völlig schnuppe, sie putzte so wie immer und gönnte sich von dem erschlichenen Zaster einen monatlichen Theaterbesuch).

Rubi hängte ihre Tasche an die Lehne des Stuhls, den Mantel in den Spind und zog ihren Laborkittel über. Das war keine Pflicht, schließlich würden sie hier niemandem das Leben zu retten versuchen. Aber sie machte sich gerne bereit für die Arbeit und wollte ihre eigenen Sachen nicht mit irgendeiner Chemikalie verschmutzen.

Die unzähligen Schubladen und Regale, die bis zur Decke reichten, beherbergten Tausende von Exponaten, die sich gleichgültig darin stapelten und reihten. Fische, Echsen, Vögel, Säuger und die Arthropoden, wie Schmetterlinge, Bienen und Spinnen aus aller Welt. Und Käfer.

Das Sortieren und Katalogisieren fiel ihr leicht. Sie mochte es, wie einfach und lautlos die Schubladen mit den fein säuberlichen Beschriftungen sich aufziehen und wieder schließen ließen. Die Präzision und das Präparieren machten ihr richtiggehend Spaß. Es war eine wissenschaftliche Bastelaufgabe, die Geduld und manuelle Geschicklichkeit erforderte. Wenn es den tumben Peter mit seinen Sprüchen und dem fleischigen Nacken nicht gäbe, dann würde sie die Arbeit überhaupt nicht stören.

Die kleinen Körper mussten in Form gehalten, durften nicht beschädigt oder in ihrem Erscheinen verändert werden. Wieder und wieder, jedes neue Exemplar. Die Routine war es, die Rubi mochte. Unaufgeregt, bekannt, vorhersehbar. Ein selbst eingerichteter goldener Käfig, der einen vor der Freiheit mit all den darin lauernden Entscheidungen bewahrte.

Heute würde sie leider nicht an ihrer ostasiatischen Käfersammlung arbeiten können. Die Nasssammlung musste noch umgefüllt werden. Selbstredend nicht die ganze. Bis alle 11 273 in Alkohol gebahrten Tierpräparate aus ihren alten Gefäßen mit den undichten Verschlüssen befreit und in die neuen, stabilen Borosilikatgläser gesetzt waren, würden noch Jahre vergehen. Rubi war das ihrer Passion zum Trotz ganz recht, denn sie würde den sinnlichen Anblick der historischen Gläser vermissen.

Sie würde ihre Zeit mit dem Umtopfen halb ausgewachsener Fische und Schlangen verbringen. Der Geruch machte einen ganz dusselig. Bis zum Ende der Woche musste die Sonderausstellung Wasser – das Leben im Fluss für das anstehende Frühlingsprogramm fertig sein. Die Museumsleitung hatte es durch die Schmeckmeier ausrichten lassen.

»Peeeeter! Sag es denen in deiner Abteilung. Jaaa?«, hatte sie gefleht und nichts darauf gegeben, dass auch Rubi anwesend war. Stattdessen flatterte sie wie eine überspannte Feldwachtel durch den Raum: »Die Sammlung MUSS fertig werden!«

Rubi war so überrascht, dass sie sich die Ohnmacht verkniff.

In der Mittagspause ging sie an den Schaukästen und Auslagen vorbei. Manövrierte sich zwischen den wenigen Besuchern und den Palmen hindurch. Beides schien fehl am Platz. Ein Opa mit Tigerglatze erklärte einem zahnlückigen Jungen etwas über Abseitsregeln, die Frau im blauen Kostüm kratzte sich verstohlen am Po und eine Studentin mit Schmierhaaren zeichnete entnervt eine Gespenstschrecke ab.

Die Vegetation sollte das Erlebnispotenzial steigern, hatte man gesagt. Überall standen nun Kübel und hingen Lianen, damit auch diejenigen im Museum glücklich waren, die gar nicht ins Museum wollten. Flankiert von üppigem Gestrüpp tat es weniger weh, dem Tod in seine tausenden Gesichter zu sehen, so vielleicht die Hoffnung.

All die Mumien, Gerippe und Exoskelette mahnten ungehört. Es lag mehr Ehrgeiz im Zeigen, kaum im Bewahren über den Exitus des Subjekts hinaus. Jeder in diesem Hause, ganz gleich ob Gast oder Angestellter, gab sich der heuchlerischen Totenschau hin und stülpte sich dazu das Käppchen der Bildung über den ignoranten Kopf. Das Einverleiben ihrer Leben durch Beschreibung und Wissenschaft war wertvoller als es ihre tatsächliche Existenz jemals war.

Zielstrebig ging Rubi zu dem Schauraum der tropischen Regenwald- und Baumsavannen-Insekten. Hinten links neben dem abgehangenen Fenster stand der Kasten mit den Käfern. Und da war er, eingerahmt vom Afrikanischen Rosenkäfer und dem Südafrikanischen Fruchtkäfer, ringsum gespickt mit bunt schillernden Scarabaeoiden.

Mit liebevollen Blicken untersuchte sie den prächtigen Goliathkäfer. Dieser fast handtellergroße Goliathus goliatus mit seinen strotzenden Vorderbeinen und dem noblen, schwarzweiß gemusterten Panzer, vergnügte sie. Seine schimmernde Rüstung aus Chitin sprach von den Abenteuern und der Stärke des riesenhaften Insekts. Ein solches Tier wusste, wozu es bestimmt war, und belastete sich nicht mit Zweifeln. Noch im getrockneten Zustand war es ein glänzendes Abbild des Lebens. Er war vollkommen. Ein ideales Spezimen, unübertrefflich gekonnt präpariert. (Das war nicht Rubis Werk, sondern das ihres Vorgängers, ihres Mentors Herrn Zirstens, der, obwohl auch verstorben, nicht hier ausgestellt wurde.)

Im Nebensaal konnte sie Peter feixen hören. Sie lehnte sich ein Stück zurück und spinkste durch die weite Flügeltür. Er kurbelte all seinen Machismo durch ausladende Bewegungen an, zeigte zu viele Zähne und fasste der Praktikantin an den Hintern, die sich das auch noch gerne gefallen ließ. Rubi keuchte verächtlich aus dem Bauch, als könnte sie die Unerträglichkeit seiner Person damit wegatmen. Selbst die Schmeckmeier mit ihrem verknöcherten Mund war ihr lieber.

Sie verlagerte ihr Gewicht wieder nach vorne und besann sich zurück auf den Schaukasten. Dabei beschloss sie, dass sie wieder nachts arbeiten würde. Zumindest bis Frank wieder hier wäre. Dann musste sie nur dem Wärter mit dem gemütlichen Bauch beibringen, die Heizung nicht auszumachen. Bei dem, was sie damit vermeiden konnte, war das Extra an Isolation gut zu ignorieren.


Vor der Eingangstür lag die Fußmatte, die mit geschwungener Schrift säuselte: Tritt ein, bring Glück herein. Rubi war es schon jetzt zu viel, sie wackelte mit der Nase und drückte den Klingelknopf.

»Komme schon«, hörte sie Thilo, der den Knauf schon in der Hand hatte, völlig unnötig hinter der Tür melodisch rufen.

»Rubi, wie schön«, sagte er mit seinem scheelen Grinsen, als sei es eine Überraschung, dass sie hier war, und wies ihr mit aufgeblähter Geste den Weg hinein. Sie spürte seinen prüfenden Blick, der an ihr auf und ab wanderte, als würde er erwarten, seiner sonderlichen Schwägerin sei ein drittes Bein gewachsen. Breitschultrig, akademisch und bis auf den kleinen Zeh durchtrainiert, fühlte er sich naturgemäß überlegen. Barmherzig empfing er sie in seinem Reich und klemmte dabei mitleidig das Gesicht zusammen, bis er aussah wie eine affektierte Dattel.

»Hallo«, überwand die unwillige Gästin sich und schob sich an ihm vorbei in den breiten Flur. Raffa trat mit offenen Armen und einer Schürze mit Superwoman-Aufdruck aus der Küche, dabei hielt sie den kostspieligen Stabmixer in der Hand wie ein Zepter: »Schwesterlein!«

Nachdem sie Rubi einen schnellen Kuss auf Wange gedrückt hatte, stellte sie sich eng neben Thilo und streichelte als Pfand ihrer amourösen Allianz seinen Arm. Für einen Moment standen die drei still voreinander und guckten sich an. Bevor das unangenehme Schweigen nicht mehr zu dementieren war, nahm Raffaela sich ein Herz.

»Schön, dass du da bist«, sagte sie mit verklärtem Seufzen und wurde dabei fast zum Dörrobst.

»Hallo.«

»Na dann, komm mal rein«, spendierte Raffa und Rubi fand, sie war schon drinnen. Da ihre Schwester schon immer eine überkandidelte Ader gehabt hatte, brauchte sie nicht mehr darauf zu hoffen, dass sich das ändern würde. Rubi hängte ihren Mantel auf, nur damit Thilo ihn gleich wieder vom Haken nahm, um ihn auf einen der samtbeschlagenen Holzbügel zu hängen. Sie streifte sich die Schuhe ab, die dabei an die Tapete über der Fußleiste stießen und er zuckte gepeinigt. Rubi guckte ihn an, wie man nur jemanden angucken konnte, der von einem fremden Planeten kommt, über den man zirka nichts wissen wollte.

Im geräumigen Esszimmer stand der gedeckte Tisch. Der Traumfänger am Fenster reihte sich zwischen die aufwändigen Mandaladrucke an den Wänden. Auf der teuren Kommode aus Indien standen gerahmte Familienbilder von glücklichen Menschen. Auch wenn die Personen auf den Bildern haargenau aussahen wie die Schwestern in ihrer Kindheit (herausgeputzt für die Kommunion ihres Cousins, bei der Oma Anni sich so fürchterlich betrunken und beim Essen den Pastor angeschrien hatte, dass er sich etwas zurücknehmen sollte, jetzt, wo sie schon die Seele des Jungens an die Kirche verkauft hätten) oder Rubi im Kleid auf Raffaela und Thilos Hochzeit – Rubi fand sich nicht darauf wieder. Es war ein Taschenspielertrick aus dem Entwicklungslabor, der eine Familie simulierte, die Raffaela gerngehabt hätte, eine, derer sie sich nicht zu schämen bräuchte.

Rubi setzte sich, spielte mit der Flamme des Teelichts im Dekorglas und hörte sich die Berichte über ihren letzten Wellnessurlaub an.

»Morgens wandern, nachmittags ins Ethno Village und abends Massagen im Spa!«, fasste ihr Schwager die Reise mit Überschwang zusammen.

»Du hättest Thilo mit den Locals sehen sollen! Einfach klasse, wie er sich auf andere Kulturen einlässt«, schwärmte Raffaela.

»Ich dachte, ihr wart in Bulgarien?«, wunderte sich Rubi scheu.

Beide überhörten den unerwünschten Einwurf und Thilo entkorkte den Wein.

»Dieser Weinbauer. Weißt du noch? Das war schon einer …«, rief Raffaela ihm ihren gemeinsamen Coup ins Gedächtnis.

»… ein richtiger Schlingel«, machte Thilo weiter im Bericht, »haha, vier Euro pro Flasche nahm der!«

»Eigentlich ja Wucher. Aber wir helfen ja gern«, schloss die Weitgereiste.

Das Paar schaute sich wissend an, sie hatten wirklich ihr Bestes gegeben. Rubi hielt ihren Zeigefinger tiefer in die Flamme und zog ihn wieder zurück.

»Keine der anderen Frauen hat beim Kraxeln so ein Tempo drauf gehabt wie deine Schwester, musst du wissen«, lobte Thilo seine Anvertraute resolut.

»Toll«, entwich es Rubi.

»Na dann, Prost!«, feierte Thilo. Die Gläser klirrten ein Hurra! auf die sportive Errungenschaft.

»Nur das Essen war nicht so gut«, wiegelte ihre Schwester ab, als wären es zu viel der Blumen, zu viel der Angeberei mit ihrem Gut an Spaß und erwerblicher Freude.

»Na komm«, versuchte er ihre Bescheidenheit wegzuhuschen.

»Also für das Geld hätte es schon alles bio sein können. Und dann jeden Tag die gleiche Vorspeise. Man fragt den Wirt, was es gibt und die Antwort ist immer dieselbe …«

»… Supa Toptscheta!«, vervollständigte Thilo den Satz für sie und hielt sich den Bauch vor lauter Absurdität.

Schon wieder so ein blasierter Blick. Rubi rutschte auf ihrem Stuhl hin und her und knibbelte unter dem Tisch das Wachs von ihren Nägeln.

»Die Luft hat so gut getan. Das ist schon etwas ganz anderes als in der Stadt«, und Raffa drückte dankbar Thilos Hand.

»Ja, es sind die einfachen Dinge«, stimmte er verträumt zu.

»Was hat’n das alles gekostet?«, fragte Rubi.

Das Paar war durch nichts zu erschüttern. Raffaela rückte das Blumengesteck zurecht und Thilo verschwand in der Küche. Niemand beantwortete Rubis Frage, stattdessen zirkelte der Herr des Hauses mit drei flott angerichteten Tellern zurück, um sie in einer schwungvollen Bewegung auf den Tisch gleiten zu lassen. Das russische Staatsballett wäre vor Neid erblasst.

»Wie geht es dir denn?«, fragte Raffa, ihren Ellbogen auf den Tisch gestützt, und platzierte das untere Ende ihres neugierigen Gesichtes in ihrer Hand. Thilo bestaunte derweil seinen Teller, der ebenso zur Befriedigung seines Appetits da war, wie alles andere auch. Rubi schob die Kombu-Algen an den Tellerrand: »Gut.«

Die Gabel quietschte auf dem Porzellan.

»Nichts Neues? Keinen Freund?«, konkretisierte ihre Schwester und steckte sich eine Gabel ihres Superfoods in den gespitzten Mund.

»Ich muss jede Menge Präparate umfüllen. Vor allem die eingelegten Schlangen und Amphibien«, wechselte sie zum Unmut der anderen das Thema.

Thilo verzog angewidert den Schnabel: »Rubi! Doch nicht beim Essen … also bitte.«

»Immer deine toten Tiere!«, beschwerte sich Raffa und Rubi perzipierte sich an den emotionalen Katzentisch verbannt. Als wäre ihre lässliche Realität nicht gut genug, um in der Gaukelei der anderen mitzuspielen.

»Das ist mein Job«, entschuldigte sie sich lapidar.

Ihre große Schwester schüttelte den Kopf: »Du musst mal raus. Man lebt nur einmal, weißt du? In der Kesselgasse hat letzten Monat eine Sambaschule aufgemacht. Das hat dir doch immer so gut gefallen!«

Nein, sie hatte es nicht gemocht, so wie sie es jetzt nicht mochte, hier zu sitzen. Ihr war, als hätte man sie falsch montiert. Wie sollte man sich denn in diese gesellschaftliche Maschinerie einordnen, ohne zu wissen, ob man eine Mutter oder eine Schraube ist und nicht mal ein Zahnrad von einer Spule unterscheiden kann. Mit Raffa alleine hätte sie vielleicht noch reden können. Sie hätte von Peters Impertinenz erzählen können, von seinen Glubschaugen, die sie anwiderten oder von der Schmeckmeier. Über Cody würde sie gewiss nie ein Wort verlieren, das wäre zu viel. Aber da ihre Schwester in Symbiose mit einem Idioten lebte, erübrigte sich überhaupt jede Überlegung in dieser Richtung.

»Also wir haben ja letztens ein Woke-Yogaseminar besucht«, prustete Thilo selbstherrlich, »eine richtig spirituelle Erfahrung.«

»Thilo hat mir vorher extra eine neue Leggins bestellt!«, bekannte Raffaela euphorisch.

»Und Raffa hat mir vorsorglich Tigerbalsam mitgebracht. Ich hab’s ja immer wieder mit dem Rücken«, wetteiferte er neurotisch darum, wer mehr geliebt wurde.

»Ich dachte Yoga wäre nur eine körperliche Übung fürs eigentliche Meditieren? Frühsport für furzende Muttis.«

Rubi fuhr mit dem Finger über das türkis gefärbte Bambusset und wagte es nicht aufzuschauen, aber nichts passierte.

Thilo überhörte es: »Und dann hat der Yogi gesagt, dass unsere Energien wirklich wahnsinnig gut im Einklang miteinander stehen!«

Raffa nickte so heftig, als hinge die Wahrheit davon ab.

»Au Backe«, kommentierte Rubi prosaisch und saugte mit der Zunge eine Mungosprosse aus ihren Zähnen. Thilo warf ihr einen giftigen Blick zu, stand auf und räumte die Teller ab, ohne zu fragen, ob sie fertig sei. Sie probierte noch einen Schluck des Weins, dessen Kauf die bulgarische Dorfgemeinschaft erretten sollte. Noch in der Küche brabbelte Thilo missmutig vor sich hin. Auch Raffaela war konsterniert bei solchem Undank.

»Wie läuft es eigentlich mit Dr. Prizrak?«, holte sie wie zur Strafe aus und Rubi senkte den Blick. Sie war blindlings in den nächsten Eifer geschlittert, sie hätte es ahnen müssen, und log: »Gut.«

»Gut? Ist das alles?«, frage Raffa enttäuscht.

»Ja«, verabschiedete sich die kleine Schwester endgültig in die Introvertiertheit.

Thilo hatte sich wieder zusammengerissen und eine fröhliche Miene aufgesetzt und kam mit einem knallbunten Dessert zurück an den Tisch getrippelt.

»Organic rawbowl, mit Antioxidanten und Protein, Gojibeeren und einem Hauch Rohrzucker aus Brasilien«, pries er seine Kreation an, »natürlich alles bio«, zwinkerte er und verteilte die Schalen. Dann stellte er sich hinter Raffaela, massierte ihre Schultern und schaute geschwollen in die Runde. Zu seiner eigenen, abschließenden Beglückwünschung wippte sein Kopf vor und zurück. Raffa tätschelte seine Hand.

»Mein Mann!«, zelebrierte die Gattin mit überquellendem Herzen, dass sie sich gegenseitig besaßen: »Ach, was du uns wieder Gutes tust! Nicht wahr, Rubi?«

Von ihrem Platz aus konnte Rubi die Haustüre am Ende des Flurs sehen; gerade schien sie unendlich weit weg.

Sie hatte es nicht erwarten können, nach Hause zu kommen. Der Likör, den es zum Nachtisch gegeben hatte, stieß ihr auf, als sie die Treppen hochrannte. Sie sperrte auf und warf erleichtert ihre Sachen in die Ecke.

Beschwingt machte sie sich ans Werk und bereitete ihr Pult vor. Der Kegel ihrer Tischlampe erhellte ihre Miniaturwerkstatt. Sie kleisterte ein passendes Stück Papier auf den kassettengroßen Styroporblock und steckte die Nadeln, nach Größe sortiert, am Rand auf. Daneben stellte sie die Heißklebepistole, Modelliermasse, die Lackfläschchen und Pinsel. Sie klappte das Ledermäppchen mit ihrem Präparationsbesteck auf, alles war bereit.

Sie stand auf und holte den Käfer aus seinem frostklirrenden Grab zwischen den Erbsen. Vorsichtig ließ sie ihren Blick über ihn schweifen, als könnte schon das zu viel sein für den ungelenken Knirps. Er war tatsächlich ein bisschen unterdimensioniert, aber es würde schon gehen. Zurück am Tisch nahm sie eine der längeren Nadeln zur Hand, stach durch den kleinen Körper und fixierte ihn über dem Styropor schwebend. Sie würde warten, bis er etwas abgetaut war, bevor sie die Beine und Fühler ausrichtete, damit nichts abbrach. Mit weit gespreizten Gliedmaßen würde er beeindruckender aussehen.

Bis dahin konnte sie sich um den Panzer kümmern und studierte dazu die Schautafel im Buch. Mit dem feinen Pinsel trug sie vorsichtig den schwarzen Lack auf den Mantel des Käfers auf, bedacht, dass nichts die Gelenke verkleben würde. Mit der nächsten Farblage musste sie warten, bis er trocken war und eventuell noch das Pygidium nachmodellieren. Als nächstes widmete sie sich den Fühlern. Mit einer Pinzette riss sie den linken aus. Sie musste ihn kürzen und verdicken, damit er richtig aussah.

Sie setzte an, den zweiten Fühler auszurupfen, doch da bewegte sich ebendieser. Rubi hielt den Atem an. Sie war sich sicher, dass sie sich geirrt haben musste und starrte verzagt auf ihr Model hinab. Nichts rührte sich. Sie belächelte sich und hielt den Kunststoffblock dann dicht vor ihre Nase, um genau sehen zu können, wo die Antenne sich lösen würde. Sie drehte die Montage im Licht und plötzlich fingen die strammen, schwarzen Beinchen an in der Luft zu krabbeln.

Vor lauter Entsetzen schleuderte Rubi ihre Schöpfung in die Ecke und die frische Farbe hinterließ einen Fleck auf der Tapete, wo der kostümierte Käfer abgeprallt war. Der Schreck machte sie noch sauer dazu. Sie war zu ungeduldig gewesen, sie hätte ihn länger im Tiefkühlfach lassen müssen, dachte sie zornig; fassungslos, dass er lebendig war und nicht das, was sie wollte.


Der große braune Ledersessel stand dem Fenster hin zugewandt und sie stierte in den hergerichteten Garten. Dr. Prizrak saß ihr auf einem einfachen Stuhl gegenüber, faltete die Hände über seinem Notizblock und wartete geduldig wie die Dämmerung. Durch seine Ohren leuchtete rot die verlegene Sonne und in den Stoppeln seiner getrimmten Halbglatze hing eine Fluse.

Rubi wollte ihn nicht anschauen, davon überzeugt, er würde dann schon nicht merken, dass sie da war. Nach einer Weile räusperte er sich und brach das Schweigen: »Sie sagten, es war eine dumme Idee, dass ihre Schwester Sie zu dieser Therapie überredet hat.« (Nach der dritten Sitzung hatte er ihr das Du angeboten, das sie nachdrücklich abgelehnt hatte. Sie wollte seine Wertschätzung nicht und hielt ihn lieber auf der anderen Seite der Formalie.)

»Gezwungen, nicht überredet«, korrigierte Rubi und zog die Beine an.

Dr. Prizrak überging ihren Einwand und fuhr gelassen fort: »Sehen Sie das immer noch so?«

Sie antwortete nicht, er klappte sein Büchlein auf, machte eine längere Notiz und sie gaffte weiter nach draußen. Dann schnaubte sie, drehte sich ein kleines Stück weiter zu dem Therapeuten und maulte: »Und? Was haben Sie jetzt da reingeschrieben?«

Dr. Prizrak legte den Kopf leicht zur Seite, als erwartete er, dass gleich etwas an ihm vorbeifliegen würde. Sein Antlitz blieb Rubi weiter durch das Gegenlicht verborgen und sie kaute auf ihrer Unterlippe. Er strich mit seiner Hand über die Seite und las ihr mit ruhiger Stimme vor: »Patientin negiert ihr Entwicklungspotenzial.«

»Was soll das heißen?«

»Das heißt erst mal gar nichts. Es bedeutet nur, dass Sie ihre Denkmuster nicht mit mir besprechen wollen. Das ist nichts Schlimmes.«

»Aha«, sagte Rubi und verstand kein Wort. Ihrer Meinung nach waren ihre Denkmuster in einem fabelhaften Zustand. Vielmehr störte sie ihr Instinktdefizit; dass sie immerzu herausfinden sollte, was zu tun war.

Und gleichwohl sie das gar nicht wollte, stolperte sie fast über eine der größten Fragen des Anthropozäns – darüber was genau dieser Anthropode nun eben sei –, die sich ihr quer in den Weg gelegt hatte, wie ein loser Pflasterstein. Sie wand sich darum und bemühte sich, die elende Frage nicht zu fokussieren und stammelte alternativ vor sich hin: »Wollen Sie mir sagen, ich brauche solche Denkmuster?«

»Sie haben Denkmuster«, attestierte Dr. Prizrak versöhnlich, »wir alle haben sie.«

Und schon durchzog sie wieder das Gefühl unlösbarer Materie.

»Und wofür sind die bitteschön gut?«, fragte sie trotzig und äffte: »Fehlgeleitete Willenshandlungen?«

Der Medicus klappte sein Buch zu und schlug die Beine in die andere Richtung übereinander. Er war in einer fließenden Lauerstellung: »Glauben Sie, dass das Ihr Problem ist?«

»Nein.«

Rubi dachte, dass ihr Willenshandlungen jedweder Art fehlten. Damit war sie wie ein Tier, nur gemeinerweise ohne die angeborene Weisheit. Der Therapeut nickte verständnisvoll und klappte das Buch wieder auf. Auf der Wiese flatterte ein Admiral vorbei und grämte sich wohl über die gemähte Monokultur. Sie schwiegen wieder für ein Weile. Mit einem tiefen Atemzug richtete der graue Mann seinen Oberkörper auf und probierte es weiter.

»Haben Sie diese Woche etwas auf Ihre Liste geschrieben?«, fragte er fromm.

Rubi zog die zerknitterte Liste aus ihrer Gesäßtasche und hielt sie ihm hin. Mit einem linden Lächeln nahm er sie entgegen und studierte den kurzen Text eingehend. Er sagte jetzt nichts mehr. Rubi schob ihren Hintern von links nach rechts und hatte vergessen, wie man bequem saß. Nach ein paar Minuten hielt sie es nicht mehr aus.

»Ich habe einen Käfer aus dem Museum getötet«, beichtete sie, um überhaupt was zu sagen und die Sitzung wenigstens mit Gefasel befeuern zu können.

»Warum haben Sie das getan?«, fragte er, ohne eine Tonlage der Wertung anzustimmen.

»Weil ich ihn haben wollte!«, erwiderte sie logischerweise.

Er schrieb etwas in sein Buch und sah sie mit ernster Visage an. Diesmal fragte sie nicht, was er aufgeschrieben hatte. Sie fühlte sich unverstanden.

Seit Adam und Eva es mit dem Paradies verbockt hatten, musste man sich mit all dieser Scham und Schuld herumschlagen. Seit sie sich zu dieser Krone der Schöpfung emporgeschwungen hatten (das Ding war die reinste Attrappe. Entweder das ach so feine menschliche Bewusstsein war ein bloßes Abfallprodukt der Hirnaktivität oder ein simpler Mechanismus, der den Menschen die natürliche Selektion umgehen ließ, dabei offensichtlich völlig außer Kontrolle geraten war und viel mehr als nur den eigenen Geist übermannte), ging das so.

Sie war nicht unglücklich, aber trotzdem unerfüllt. Es schmeckte abgestanden. Unter Rubis Maske juckte es und die der anderen dünkten ihr nunmehr bizarr. Wie wächserne Totenmasken, im Fieber verschwommen.

Entlarvung

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