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Der Müll
ОглавлениеWir leben in Städten aus Plastik. Wir arbeiten in Büros voller Plastik, wir schlafen auf Plastik. Wir fahren mit Hilfe von Plastik durch die Straßen und fliegen mit ihm ans andere Ende der Welt. Wir bezahlen mit Plastik und wir telefonieren damit. Wir trinken aus Plastik und baden darin. Wir ziehen uns am Morgen Plastik an und schalten am Abend damit das Licht aus. Man muss nur einmal kurz die Augen schließen und in Gedanken alles aus der Wohnung räumen, was aus Plastik hergestellt ist. Es würde nicht viel übrigbleiben. Die Zahnärzte füllen Plastik in unsere Zähne, die Chirurgen ersetzen unsere Gelenke damit und selbst in unserem Blut sind die Kunststoffe angekommen. Plastik findet sich auf den Feldern und in den Böden, in den Flüssen und in den Meeren. Wenn man heute eine Plastikflasche in die Nordsee wirft, werden ihre kleinsten Bestandteile in 450 Jahren noch immer da sein, vielleicht auch noch länger. Wir leben in einer Welt der Kunststoffe – und wir werden sie nie wieder loswerden.
Blickt man in der Geschichte zurück, sind Epochen immer wieder nach Materialien benannt worden, die das Leben der Menschen entscheidend verändert haben. Es gab die Steinzeit und die Bronzezeit, die Eisenzeit und die Kohlezeit. Jetzt leben wir in der Plastikzeit. Sie ist von einem künstlichen, vom Menschen geschaffenen Stoff bestimmt, der so wandelbar ist wie kein anderer. Unter dem Begriff Plastik werden heute alle Arten von Kunststoffen zusammengefasst, aus denen wahlweise ein Abflussrohr oder ein Fallschirm entstehen kann. Auch eine künstliche Arterie.
Plastik hat uns viel Gutes gebracht. Der Mensch hat sich mit den Kunststoffen Träume erfüllt, von einem verlängerten Leben und von ihm dienenden Maschinen, von Telefonen und Raumanzügen. Ohne Plastik wäre vieles teurer, erst mit den Kunststoffen konnten sich immer mehr Menschen Dinge leisten, die zuvor als Luxus galten. Wasserflaschen wären ohne Plastik schwerer und Reisen mühsamer, ohne Plastik wäre auch vieles nicht möglich, was dem Schutz der Umwelt dient. Windräder oder Elektrobusse zum Beispiel. Doch das Plastik verändert das Leben des Menschen nicht nur in den Bereichen, in denen er es möchte, sondern auch, in denen er es nicht möchte, und längst haben wir die Kontrolle darüber verloren, wie stark der Stoff unsere Welt prägt.
Der Begriff Plastik, in Teilen Deutschlands auch Plaste, stammt von dem griechischen Wort plássein ab, das ›bilden‹ und ›formen‹ bedeutet. Während man in anderen Ländern ausschließlich von plastic (englisch) oder plastique (französisch) spricht, von plastica (italienisch) oder plast (schwedisch) oder plastikowy (polnisch), reden wir in Deutschland auch von Kunststoffen. Anfang des 20. Jahrhunderts gründete ein Chemiker eine Zeitschrift mit dem Titel Kunststoffe, und seine Kollegen sollten sich Jahrzehnte über den Begriff streiten, bis er sich in der Wissenschaft durchsetzte. Manche Chemikerinnen und Chemiker reagieren heute noch ungehalten, wenn sie das Wort Plastik hören, was aber nichts daran ändert, dass es überall zu hören ist. Im Duden steht: »Plastik, das. Bedeutung: Kunststoff«.
Das Tolle an Kunststoffen ist, dass sie so gut wie jede Eigenschaft annehmen können, die wir uns nur vorzustellen vermögen. Sie können hart sein oder weich, elastisch oder fest, durchsichtig oder opak. Im Gegensatz zu Holz oder Glas sind sie kaum kaputtzukriegen, das ist ein großer Vorteil, der gleichzeitig ein großer Nachteil ist. Denn eines haben alle Kunststoffe gemeinsam, so unterschiedlich sie sind – sie bleiben verdammt lange in der Welt. Eine Plastiktüte im Meer braucht Schätzungen des Umweltbundesamtes zufolge zehn bis zwanzig Jahre, bis sie sich aufgelöst hat. Das Plastik zerfällt in immer kleinere Teile, die wir irgendwann nicht einmal mehr unter einem Mikroskop erkennen können. Heute findet sich viel von diesem feinen Plastik im Meer.
Immer wieder werden Videos von Tauchern im Internet veröffentlicht, die zeigen, wie die Kunststoffe durchs Wasser treiben. Zum Beispiel von einem Mann namens Rich Horner, der in der Nähe der indonesischen Insel Bali unterwegs war. Der Brite wollte Rochen beobachten, doch anstatt von Fischen war er von Folien und Kondomen umgeben, von Fetzen und Tüten. Als er am nächsten Tag an die gleiche Stelle zurückkehrte, war der Müll verschwunden. Die Strömung hatte ihn weitergetragen, in den Indischen Ozean. Im Internet sind unzählige solcher Videos zu sehen, in den Kommentaren ist dann »erschreckend!!!« oder »ein absoluter Albtraum« zu lesen. Trotzdem werden jede Minute auf der Welt wieder eine Million Plastikflaschen verkauft.
Wir wissen, dass wir bedachter mit dem Plastik umgehen sollten und machen es trotzdem nicht. Es ist wie mit so vielen anderen Dingen, die einem das Leben für einen Moment einfacher machen, wie mit dem Fliegen und mit dem Autofahren, mit den schnellen Pommes an der Ecke. Wir wissen, es wäre besser, darauf zu verzichten, aber wir haben gelernt, dass wir nicht verzichten müssen. Wir haben uns daran gewöhnt, dass wir alles kaufen können, immer und überall, und dass wir uns für die meisten Waren nicht mehr anstrengen müssen. Das Plastik hilft uns dabei, unseren Glauben an den Konsum nicht in Frage zu stellen. Dabei ist offensichtlich, dass wir das tun sollten.
Man muss nur einmal beobachten, wie viel Plastik man innerhalb einer Woche in die Tonne wirft, und sich dann den Müll vorstellen, den man in seinem Leben bislang aufgetürmt hat. Vielleicht würde sich unser Verhältnis zu unserem Abfall verändern, wenn dieser Berg eines Tages vor uns läge, wenn wir die Tür öffnen würden. Um unseren Müll nämlich kümmern wir uns meistens nur, solange wir ihn sehen. Wenn die Laster dann vorfahren, um unsere Tonnen zu leeren, haben wir schon lange vergessen, was wir hineingeworfen haben, und sind dabei, die nächsten Tonnen zu füllen. Ohne uns zu fragen, was mit unserem Müll geschehen wird und ohne uns zu fragen, ob es sich gelohnt hat, einen Becher herzustellen, den wir nur ein einziges Mal verwendet haben – die Antwort kennen wir wahrscheinlich schon. Wenn es gut läuft, lagert unser Abfall am Ende immerhin nicht auf einer Deponie, das meiste Plastik in Deutschland wird verbrannt. Doch erstens sind die Rohstoffe, aus denen der Kunststoff einmal hergestellt wurde, dann für immer verloren. Zweitens weiß niemand, was mit dem Plastik passiert, das trotzdem noch in Böden, Flüsse und Meere gelangt. Wir wissen nicht, ob eine Flasche im Wasser nach 450 Jahren tatsächlich zerfallen sein wird. Vor 450 Jahren gab es noch kein Plastik. Erst unsere Nachfahren werden das aufklären können, sie werden so viel mehr Plastik in den Ozeanen finden als wir heute. Jede einzelne Flasche, die wir ins Wasser werfen, werden wir ihnen hinterlassen.
Das Meer täuscht einen. Blickt man weit draußen vor der Küste auf die Wellen, könnte man glauben, es sei noch unberührt, so blau, wie es da liegt. Dabei sind die Ozeane voller Kunststoff. Schon in den 1970er Jahren entdeckten Wissenschaftler die kleinen Teile im Wasser, und in den 1990er Jahren stieß ein Kapitän namens Charles Moore auf eine schwimmende Müllhalde, die später als »Great Pacific Garbage Patch« bekannt werden sollte. Heute wird sie mehr als viermal so groß wie Deutschland geschätzt, auch wenn Grenzen in den Wellen kaum auszumachen sind. »Ich war kein moderner Kolumbus, der einen Plastikkontinent entdeckte. Ich war ein Seefahrer, der zuerst ungläubig und dann mit größerer Sicherheit bemerkte, dass dieser riesige Abschnitt überall mit schwimmenden Plastikfetzen übersät war«, schreibt Moore in seinem Buch Plastic Ocean. Was er zwischen Hawaii und Kalifornien in den Wellen treiben sah, war allerdings nur ein Bruchteil des Mülls. Würde man mit dem Schiff aufs Wasser hinausfahren, wäre man überrascht, wie wenig Plastik mancherorts zu sehen wäre – vieles ist so fein, dass wir es nicht erkennen können.
Wir wissen heute von fünf Müllhalden in den Meeren. Eine treibt im Indischen Ozean, neben dem Great Pacific Garbage Patch noch eine weitere im Pazifik, und zwei finden sich im Atlantik. Der Müll folgt den Wellen und so sammelt er sich stets in der Nähe des Äquators, wo die Strömungen aus Norden und Süden aufeinandertreffen. Ein Mann aus den Niederlanden namens Boyan Slat versucht mit seinem Projekt The Ocean Cleanup gerade, den Abfall am Great Pacific Garbage Patch wieder aus dem Wasser zu ziehen, doch selbst wenn ihm das gelingen sollte, wird es ihm ergehen wie Sisyphos in der griechischen Sage: Es wird neuer Müll nachkommen. Niemand kann mit Gewissheit sagen, wie viel Plastik ins Meer gelangt, Schätzungen der Wissenschaftlerin Jenna Jambeck sowie ihren Kolleginnen und Kollegen zufolge sollen es in einem Jahr fünf bis dreizehn Millionen Tonnen sein. Das wären bis zu vier Prozent der weltweiten Produktion. Der meiste Müll stammt dabei nicht von Schiffen, sondern vom Land:
vom Wind, der den Müll von offenen Deponien in die Flüsse oder ins Meer trägt.
aus dem Abwasser, in dem sich zum Beispiel noch Fasern aus Pullovern finden. Selbst Kläranlagen, die einen großen Teil des Mikroplastiks aus dem Wasser filtern, können bislang noch nicht alles fassen.
von Menschen, die ihren Müll direkt in die Flüsse oder ins Meer werfen. (In Deutschland spielt zudem der Abrieb von Autoreifen auf den Straßen eine große Rolle.)
Wenn wir wissen wollen, woher das meiste Plastik in den Weltmeeren stammt, müssen wir nach Asien blicken. Für den meisten Müll sind gerade einmal fünf Länder verantwortlich: Die Philippinen, Indonesien, Thailand, Vietnam und China (wobei Ocean Conservancy zufolge Indien eine ähnlich große Rolle spielt). Der größte Fluss Chinas zum Beispiel, der Jangtse, zieht sich einmal quer durch das Land, von den Hochebenen Tibets bis zum Ostchinesischen Meer. Dort soll er so viel Plastik ins Wasser spülen wie kein anderer Fluss auf der Welt. Auch der Gelbe Fluss in China oder der Indus in Pakistan schwemmen viel Plastik an – was aber nicht bedeuten soll, dass nur Asien ein Problem mit dem Müll hätte. Vor allem China hat dem Ausland in den vergangenen Jahren große Mengen Plastikmüll abgenommen, auch aus Deutschland.
Ohnehin spülen die Menschen überall auf der Erde Kunststoff ins Wasser. In unseren Ozeanen könnte 2050 mehr Plastik schwimmen als Fische, warnte der frühere Vizepräsident der Europäischen Kommission einmal. Der Kunststoff würde dann schwerer wiegen als alle Fischschwärme zusammen, sagte Frans Timmermans damals. Er bezog sich auf eine Studie aus den USA, der zufolge schon im Jahr 2025 auf drei Tonnen Fisch eine Tonne Plastik kommen könnte. Das sind Schätzungen, denn niemand kann nachzählen, wie viele Fische und wie viele Kunststoffe sich weltweit im Wasser finden. Manche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kritisieren die Prognosen stark, aber egal wie viel Plastik in Zukunft in den Ozeanen treiben wird, eines wissen wir schon heute – es wird zu viel sein.
Um die Meere zu schützen, schlug die Europäische Kommission Anfang des Jahres 2018 vor, bestimmte Produkte aus Kunststoff in allen Staaten der EU zu verbieten. Sie konzentrierte sich auf das Einwegplastik, das am meisten Müll an den Stränden hinterlässt und für das es schon Alternativen gibt. Trinkhalme und Teller zum Beispiel, Messer und Gabeln, Becher und Boxen.
Die an europäischen Stränden am häufigsten gefundenen Einwegprodukte:
1 Einwegbesteck; 2 Lebensmittelbehälter; 3 Einwegteller; 4 Zigarettenfilter; 5 Kosmetikstäbchen; 6 Einwegflaschen und -deckel; 7 Rührstäbchen; 8 Strohhalme; 9 Getränkebecher; 10 Tampons und Tamponapplikatoren; 11 Hygieneeinlagen; 12 Feuchttücher; 13 Plastiktüten; 14 Luftballonhalter; 15 Frischhaltefolie
Seine Kinder habe er bereits ermahnt, sagte Frans Timmermans, sie sollten doch bitte keine Trinkhalme aus Plastik mehr verwenden. Das Europäische Parlament kam ein paar Monate später zu dem gleichen Schluss wie der Familienvater: Die Politikerinnen und Politiker beschlossen eine Richtlinie, die ab dem Jahr 2021 in allen Staaten der EU umgesetzt sein soll. Dann wird kein Imbiss mehr Teller aus Einwegplastik ausgeben dürfen, auch kein Plastikbesteck mehr. Viele Betriebe sind deshalb gerade auf der Suche nach Alternativen, einige haben die Halme aus Plastik durch Glas ersetzt oder durch Edelstahl, sie produzieren keinen Müll mehr. Die Suche aber ist nicht immer so einfach, denn ein Material ist nicht zwingend umweltfreundlicher, nur weil es besser abbaubar ist als Kunststoff. Es kommt unter anderem darauf an, wie viel Energie verwendet wird, um das Material herzustellen, um es zu verarbeiten und zu transportieren. Eine Papiertüte muss nicht ökologischer sein als eine Plastiktüte, sie ist es zum Beispiel nicht, wenn man sie nur einmal verwendet. Doch sollte die Richtlinie aus Brüssel ihr Ziel erreichen, würde immerhin weniger Plastik von den Stränden Europas aus ins Meer geschwemmt, und das wäre zumindest ein Anfang.
Denn noch gelangen von der Europäischen Union aus jedes Jahr 150 000 bis 500 000 Tonnen Plastik ins Meer, wobei die halbe Million Tonnen einer Ladung von 66 000 Müllwagen entspricht. Im Mittelmeer, umgeben von drei Kontinenten und von Millionen Touristen besucht, soll die Konzentration von Mikroplastik sogar noch einmal deutlich höher sein als in dem Strudel, den der Kapitän Charles Moore damals entdeckte. Das meiste Plastik im Meer sinkt ab, gerade die kleinen, von Sonne, Wind und Wellen zerriebenen Teile. Tief auf dem Grund, wo der Mensch ihn leicht vergessen kann, sollen heute 70 Prozent des Plastikmülls der Meere lagern. Die Ökologin Melanie Bergmann bezeichnete die Tiefsee deshalb einmal als »Endlager«, von dem niemand sagen könne, wie groß es wirklich ist. Selbst in der Arktis hat sie noch Kunststoff gefunden, fern der Städte und fern der Menschen.
Eine Tupper-Party der 1950er Jahre in den USA
Das verwundert einen nicht, wenn man sich ansieht, wie viel Kunststoff heute produziert wird. Der Lobbyverband Plastics Europe veröffentlicht solche Statistiken. Unternehmen, die Kunststoffe herstellen, haben sich in dem Verband zusammengeschlossen, Firmen wie Wacker Chemie oder BASF. In den 1950er Jahren, als die Tupper-Party gerade erst erfunden wurde, waren es innerhalb eines Jahres weltweit 1,5 Millionen Tonnen Plastik. Heute werden im gleichen Zeitraum mindestens 322 Millionen Tonnen hergestellt. Das ist mehr als das Zweihundertfache und alleine in den nächsten 20 Jahren soll sich die Menge noch einmal verdoppeln. Auch, weil manche Länder erst jetzt so richtig loslegen mit dem Plastik.
Die meisten Kunststoffe werden heute in Asien hergestellt, danach folgt Europa: Innerhalb eines Jahres erwirtschaften knapp 60 000 Firmen mehr als 350 Milliarden Euro mit der Produktion von Kunststoffen (wobei in dieser Statistik von Plastics Europe neben den Staaten der Europäischen Union auch Norwegen und die Schweiz eingerechnet sind). Bekannte Unternehmen in Deutschland sind zum Beispiel Lanxess in Köln oder BASF in Ludwigshafen. Letzteres Unternehmen besaß schon in den 1930er Jahren ein sogenanntes Kunststofftechnikum, in dem Arbeiter Polystyrol in Holzfässer abfüllten. Später sollten daraus Telefone und Stühle werden, Kleiderbügel und Einwegrasierer, oder Dämmungen für Hauswände. Die Menschen begannen damals, ihre Welt aus Kunststoff zu formen, und heute, nur ein paar Jahrzehnte später, kommt keine Branche mehr ohne Plastik aus. Die Automobilfirmen nicht – ein Auto besteht zu mindestens 15 Prozent aus Kunststoff. Die Bauunternehmen nicht – Wände und Dächer werden mit Kunststoffen isoliert. Die Medizinunternehmen nicht – die Transfusion von Blut zum Beispiel ist heute mit Plastikbeuteln einfacher als mit Glasflaschen. Sieht man sich an, welche Branchen in Deutschland am meisten Kunststoff verbrauchen, macht die Medizin allerdings nicht einmal zwei Prozent aus, im Gegensatz zur Verpackungsindustrie. Keine andere Branche verbraucht so viel Plastik, zuletzt verarbeiteten die Unternehmen innerhalb eines Jahres mehr als vier Millionen Tonnen Kunststoff. Das meiste davon war neue Ware. Neues Plastik aus neuen Ressourcen.
Wenn Kunststoffe in Autos oder in Häusern verbaut werden, verbleiben sie dort lange; die Verpackungen aber werden nach kurzer Zeit wieder zu Müll. Sie können trotzdem sinnvoll sein, sie können uns zum Beispiel vor Keimen schützen oder Waren länger haltbar machen. Doch viele bräuchten wir nicht. Die Firmen verpacken so gerne, weil die Waren damit wertvoller wirken, außerdem bedeutet mehr Fläche auch mehr Platz für Werbung, dabei könnte man bei den Verpackungen viel Plastik sparen. Das beliebteste Beispiel war bis vor kurzem die Plastiktüte, die wir im Schnitt nur 25 Minuten nutzen.
In anderen Ländern sind diese Tüten mittlerweile sogar verboten, in Ruanda zum Beispiel. Es ist untersagt, sie zu importieren, sie herzustellen, zu verkaufen und auch sie zu besitzen – ansonsten drohen hohe Geldstrafen und bis zu einem Jahr Gefängnis. Das Verbot aus dem Jahr 2008 scheint zu wirken, in den Straßen Kigalis seien heute keine Plastiktüten mehr zu sehen, war einmal in der Zeit zu lesen. Nur manchmal zögen Händler heimlich noch eine kleine Tüte unter dem Ladentisch hervor, die aus dem Kongo ins Land geschmuggelt worden sei. Auch in anderen Ländern Afrikas sind die Tüten untersagt, in Mauretanien zum Beispiel oder in Marokko, in Kenia hat man sogar noch härtere Strafen erlassen als in Ruanda, mit bis zu vier Jahren Haft.
Ein Verbot gibt es in Deutschland bislang nicht, eine Richtline der Europäischen Union aber schreibt allen Staaten der EU vor, dass sie den Verbrauch der Tüten in den nächsten Jahren senken müssen – viele Supermärkte haben die Tüten deshalb aus dem Sortiment genommen oder verlangen zumindest ein wenig Geld dafür. Es ist kein Zufall, dass man sich in Brüssel als Erstes ausgerechnet mit der Tüte befasst hat, denn sie hat es zum Symbol geschafft. Die Tüte steht für das viele Plastik, auf das wir leicht verzichten könnten, wenn wir uns nur anstrengen würden. Meistens machen wir das nicht, dabei haben wir das Problem mit den unnötigen Verpackungen noch lange nicht gelöst, nur weil an den meisten Kassen keine kostenlosen Tüten mehr liegen.
Die Unternehmen in Deutschland stellen immer noch mehr Verpackungen her, zuletzt waren es Schätzungen zufolge 4,5 Millionen Tonnen. Das waren fast sieben Prozent mehr Taschen, vier Prozent mehr Flaschen und fast vier Prozent mehr Folien als noch im Jahr zuvor. »Negative Diskussionen in den Medien zeigen keine Auswirkungen am Markt«, schrieben die Hersteller in einer Pressemitteilung.
Wir häufen mit unseren Verpackungen in Deutschland so viel Abfall an wie in keinem anderen Land in der Europäischen Union. In einem Jahr waren es zuletzt mehr als 18 Millionen Tonnen, das macht für jede und jeden von uns um die 220 Kilogramm, wobei in dieser Zahl auch der Müll aus dem Gewerbe mit eingerechnet ist. Die meisten Verpackungen werden noch immer aus Papier oder aus Holz hergestellt, aber Plastik gewinnt an Bedeutung. Die große Menge an Müll ist auch die Folge einer starken Industrie, wenn ein Land viel produziert, muss viel verpackt werden. Doch alleine das kann die Zahlen nicht erklären, denn etwa die Hälfte des Abfalls stammt aus den Tonnen vor unseren Haustüren. Das sind in einem Jahr noch immer mehr als 100 Kilogramm für jede und für jeden von uns.
Ein Grund für den vielen Müll mag unsere immer ältere, immer vereinzeltere Gesellschaft sein. Viele Menschen leben alleine, nicht nur die Alten, sondern auch die Jungen, und kaufen kleinere, abgepackte Portionen an Lebensmitteln ein. Vor allem aber sind die vielen Verpackungen ein Zeichen unserer Bequemlichkeit. Wir lassen uns das Abendessen vom Restaurant nach Hause liefern, bestellen unseren Wocheneinkauf im Internet und kaufen in der Mittagspause die geschnittenen Melonenstücke im Plastikbecher. Die Industrie nennt solche Produkte convenience food, bequemes Essen, und an das haben wir uns gewöhnt. Wir glauben noch immer, dass wir ohne Folgen kaufen, wegwerfen und wieder kaufen können. Aber wenn wir es uns weiterhin so bequem machen, wird die Zukunft unbequem werden, vielleicht noch nicht für uns, aber auf jeden Fall für die nächsten Generationen.
Amerikanische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben einmal versucht hochzurechnen, wie viel Plastik auf der Welt bisher produziert wurde, und kamen auf 8,3 Milliarden Tonnen. Das ist ungefähr so viel wie das Gewicht von 80 Millionen Blauwalen oder einer Milliarde Elefanten. Das meiste davon wurde zu Müll, von dem wiederum nur ein Bruchteil recycelt wurde. Der große Rest landete entweder auf Deponien oder in der Natur.
Wenn sich an diesen Zahlen nichts ändert, werden wir uns an Bilder wie die von der Küste Balis gewöhnen müssen. An Wasser voller Kunststoff, an Bilder von toten Walen aus Spanien oder Norwegen oder Thailand, wie sie immer wieder in den sozialen Netzwerken zu sehen sind. Die Menschen teilen diese Bilder, weil sie mit einem emotionalen Motiv ein globales Problem illustrieren – wenn sich niemand um das Plastik kümmert, verbleibt es in der Natur. In Thailand zum Beispiel würgte ein Wal kurz vor seinem Tod noch eine Plastiktüte nach oben, und in seinem Magen fanden Forscher später mehr als achtzig davon. Das Tier hatte insgesamt acht Kilo Plastik in seinem Bauch.
Wir werden in Deutschland gegen Plastiktüten an der Küste Thailands wenig tun können, unsere Tüten landen normalerweise auch nicht im Wasser, sondern im Müll. Doch wir sollten nicht vergessen, dass in unseren Flüssen trotzdem eine Menge Kunststoff schwimmt. Deutsche Umweltämter haben zuletzt 25 Flüsse untersucht und in allen 25 Mikroplastik gefunden. »Es kann von einer zivilisatorischen Grundlast von Kunststoffpartikeln in den Gewässern ausgegangen werden«, steht im Abschlussbericht. Das unsichtbare Plastik produziert zwar keine so drastischen Bilder wie die toten Wale, das Problem aber ist das gleiche. Wir haben nicht unter Kontrolle, wohin unser Plastik gelangt, und wir wissen noch immer nicht, welche Folgen es haben wird.
Eine Gruppe von deutschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern versucht gerade, ein sogenanntes Plastikbudget zu errechnen. Eine gerade noch akzeptable Menge an Plastik also, die auch in Zukunft in die Natur gelangen darf. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sehen sich unter anderem an, wie viel Plastik bis heute produziert wurde, wie viel davon in der Umwelt verbleibt und vor allem wie lange. Für manche Kunststoffe rechnen sie sogar mit einer Verfallszeit von bis zu 2000 Jahren. »Und das ist wohlgemerkt der Best Case«, sagt Jürgen Bertling, der das Projekt am Fraunhofer-Institut für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik leitet. Jede und jeder von uns hinterlasse in einem Jahr etwa fünf Kilo Plastik in der Umwelt und das meiste davon sei Mikroplastik. Der liegengelassene Müll am Strand oder am Straßenrand mache nur ein Kilo aus, im Gegensatz zum Mikroplastik aber werde dieser Müll in den meisten Fällen immerhin wieder eingesammelt. Jürgen Bertling und seine Kolleginnen und Kollegen forschen noch bis zum Jahr 2020 am Plastikbudget, dann werden sie ihre Ergebnisse vorstellen. Eines können sie schon jetzt sagen: Die Menge, die sie uns erlauben werden, wird deutlich unter den fünf Kilo Plastik pro Kopf liegen, die wir noch heute innerhalb eines Jahres hinterlassen.