Читать книгу Der Zauberladen von Applecross (Bd. 1) - Pierdomenico Baccalario - Страница 9

DIE ANGELRUTE
DIESER SELTSAME CITYFLITZER
71 TAGE

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Der Bach, an dem ich immer angelte, hatte keinen Namen. Oder besser gesagt, er hatte keinen richtigen Namen wie die, die man auf Landkarten vermerkt. Die alte Cumai nannte ihn Calghorn dinn, was in der Sprache des Kleinen Volkes »stinkende Pfütze« bedeutete. Und das traf es so ziemlich. Sein Grund war mit abgerundeten Steinen und Kieseln übersät, und wo er seinen Lauf geändert hatte, waren Altarme mit stehendem Wasser entstanden, in die alles Mögliche hineinfiel und vor sich hin faulte. Aber wenn man ihn besser kannte, so wie ich, war der Calghorn dinn ein ziemlich toller Bach. Man musste nur über die ersten Pfützen springen, scharf nach Norden abbiegen und die Totenschädeleiche erreichen (ein furchterregender Baum, an dem zudem noch ein Schild mit der bedrohlichen Aufschrift hing: WEITERGEHEN VERBOTEN), an ihr vorüberlaufen, ohne dabei auf das Schild zu schauen, dem Weg nach links folgen und einige Schritte den Bach hinauf bis zu einer schmalen weißen Sandbank an einem kleinen See, der wie gemalt aussah. Dort konnte man die Fische mit bloßen Augen erkennen, so klar war das Wasser.

In meiner letzten Woche in Freiheit war es besonders heiß. Der Vormittag war schon vorüber und die Schule auch. Na ja, eigentlich stimmte das so nicht: Ich glaube, es war noch ein paar Tage hin bis zu den Ferien. Aber ich hatte beschlossen, dass sie zu Ende war … für mich jedenfalls. Ich konnte es einfach nicht mehr aushalten, so schöne Tage damit zu verplempern, in meiner Bank zu sitzen und Vokabeln zu pauken oder krampfhaft zu versuchen, mir zu merken, an welchem Tag Napoleon die Schlacht bei Waterloo verloren hatte. War das wirklich wichtig? Nicht für mich. Und für die Karpfen auch nicht.

Ich hatte die Angelrute meines Bruders im hohlen Stamm eines vom Blitz getroffenen Baums versteckt, zusammen mit den Ködern und Fliegen. Ich hatte mir beigebracht, wie man die selbst herstellen konnte, mithilfe eines Buches – des einzigen, das mir je bei etwas nützlich war, soweit ich mich erinnern kann. Wie man den perfekten Köder baut hatte es geheißen oder so ähnlich, genau weiß ich es nicht mehr, denn als ich alles gelesen hatte, was mich interessierte, habe ich es im Buchladen mit der Ausrede, ich hätte es doppelt, zurückgegeben. Und dafür habe ich dann ein anderes Buch mitgenommen, eins ganz in Rosa, als Geburtstagsgeschenk für meine Mutter.

Die Köder baute ich mir direkt am Fluss, während ich darauf wartete, dass ein Fisch anbiss. Ich hatte mein Werkzeug dabei: einen Hammer und einen flachen Stein, auf dem ich mir den Eisendraht zu Haken zurechtbog; eine Schere, um ihn anzuspitzen; ein paar Blätter Stanniolpapier und Federn, die ich mir von Mrs Bigelov, die im Hähnchengrill arbeitete, beiseitelegen ließ. Wenn ich Zeit hatte, so wie an jenem Tag, bemalte ich sie auch noch.

Die Fische bissen nicht an. Aber darum ging es mir nicht. Mir genügte es, dazusitzen und das schöne Wetter zu genießen. Flaumige Pappelsamen schwebten weich und weiß durch die Luft. Die Sonne schien warm. Kein Windhauch war zu spüren. Wäre ich bis zum Abend dort geblieben, hätte ich die Libellen sanft über der Oberfläche des kleinen Sees schwirren sehen können. Aber das ging natürlich nicht. Meine Eltern glaubten ja, ich wäre in der Schule, deshalb musste ich rechtzeitig auf den Hof zurückkehren, ganz so, als wäre ich mit den anderen nach dem Klingeln zum Unterrichtsschluss losgestürmt.

Ich schaute nach, wie spät es war, und da fiel mir wieder einmal auf, was für eine tolle Uhr ich hatte. Sie hatte ein Zifferblatt aus Elfenbein und vergoldete, spitz zulaufende Zeiger, die wie kleinen Lanzen aussahen. Die Zahlen waren erhaben, bis auf die Sieben, die irgendwann mal abgefallen war. Ich habe das nie für einen Zufall gehalten: ausgerechnet die Sieben, die Uhrzeit, die ich hasste, weil ich da immer morgens aufstehen musste.

Es war Viertel nach zwölf. Mir blieb also gerade genug Zeit, den Wald zu verlassen, mich an der Mühle vorbeizuschleichen, ohne dass die alte Cumai mich bemerkte, und kurz vor dem Klingeln im Dorf aufzutauchen.

»Auf geht’s, Dusty!«, rief ich. Er sah mich an, die Ohren hingen ihm so tief in die Augen, dass es aussah, als wollte er sie mit den Brauen heben. »Bewegung!«

Ich holte die Angelrute ein, wickelte die Leine ordentlich auf und drückte den Haken fest in die Abschlusskappe aus Schaumstoff, damit sich die Angelschnur nicht verhedderte. Dann verstaute ich alles sorgfältig in dem hohlen Baum, warf mir meinen Rucksack mit den Schulbüchern auf den Rücken und machte mich auf den Heimweg.

Nach einer Viertelstunde hatte ich die schwarzen Dächer der Häuser von Applecross erreicht. Ich schlüpfte verstohlen an Mr Everetts Souvenirladen vorbei ins Dorf, überquerte den Marktplatz und drückte mich an der Trockenmauer, für die man die Steine aus dem Meer geholt hatte, entlang bis zur Rückseite des Schulgebäudes. Alles lief glatt, und als ich die Klingel hörte, hatte ich gerade das andere Ende des hässlichen Baus erreicht. Von den Wänden bröckelte der Putz und vor den Fenstern waren Gitterstäbe angebracht. Wieder einmal dachte ich, dass der einzige Unterschied zwischen einer Schule und einem Gefängnis darin bestand, dass man in Letzterem mit etwas Glück weniger als fünf Jahre absitzen musste.

Nicht ahnend, was mich gleich erwarten sollte, machte ich mich auf den Weg zu unserem Hof und pfiff fröhlich vor mich hin.

»Guten Tag, Miss McCameron«, grüßte ich, als ich an dem Bekleidungsgeschäft vorbeikam. Ich erinnere mich noch an Mebs Lächeln. Und daran, dass sie der letzte freundliche Mensch war, den ich an diesem Tag sah.

In knapp zehn Minuten erreichte ich das kleine Tor unserer Einfahrt. Vaters Schafe hatten sich weit über die hügeligen Wiesen unseres Grundstücks verstreut und sahen aus wie kleine Sommersprossen aus Wolle. Ich hob den Haken, der das Tor verschloss, Dusty zwängte sich zwischen meine Beine und rannte mit wütendem Gebell auf das Haus zu. Wenn er sich so aufregte, war er nicht zu stoppen. Leicht misstrauisch geworden, schloss ich das Tor, aber leider hatte ich nicht genügend Verdacht geschöpft. Ich hätte gleich wieder kehrtmachen und das Weite suchen sollen. Ich wusste ja nicht, wem der Wagen gehörte, der dort mitten auf dem Hof stand. Es war einer dieser kleinen Cityflitzer, bei denen man sich fragte, wie sie es überhaupt hierher in die wilden schottischen Highlands geschafft hatten.

Im gleichen Moment, als ich das Fliegengitter vor der Wohnzimmertür aufstieß, roch ich ein Parfum, und mir stellten sich die Nackenhaare auf.

»Oh, oh«, konnte ich nur noch brummen, als mir klar wurde, dass jetzt alles zu spät war.

Der Wagen im Hof gehörte der Witwe Rozenkratz, die als »mobile Schulleiterin« mehreren kleinen Dorfschulen hier in der Gegend vorstand. Ich war ihr während meiner schulischen Laufbahn als bestimmt kein Musterschüler von Applecross nur ein paarmal begegnet und das hatte mir gereicht. William Shuster, der Sohn des Friseurs, behauptete immer, sie wäre schon als Witwe zur Welt gekommen.

Und nun saß sie im Wohnzimmer unseres Hauses meinen Eltern gegenüber, den Rücken kerzengerade und ganz vorn auf der Sesselkante. Papa trug noch die Latzhose von der Arbeit und blickte so düster drein wie jemand, der nicht nur wütend ist, sondern gerade eine herbe Enttäuschung erlebt hat. Mama schien vollkommen außer sich zu sein.

»Hallo, Finley«, begrüßte sie mich knapp. »Komm rein. Und lass Dusty bitte draußen.«

Ich musste den Hund mit dem Fuß nach draußen schieben. Dort legte sich Dusty vor das Fliegengitter und hörte nicht auf, die Witwe anzuknurren.

»Guten Tag, Finley«, begrüßte mich jetzt die Rektorin. »Ich denke, du weißt, warum ich hier bin.«

»Eigentlich nicht«, log ich, trat einen Schritt vor und fühlte mich unglaublich mutig dabei.

»Wie war es heute in der Schule?«, fragte meine Mutter.

Ich schaute meinen Vater an und sah, dass er die Hände fest ineinander verschränkte, als müsste er sich auf diese Weise zurückhalten. Er hielt die Augen gesenkt, seine Schuhe waren noch völlig schlammverkrustet. Das war das Schlimmste. Wenn Mama ihn mit diesen Schuhen ins Wohnzimmer gelassen hatte, konnte das nur eins bedeuten …

»Nun red schon«, drängte meine Mutter.

Ich stammelte irgendetwas. Mir war ziemlich schnell klar, dass die Rektorin bei mir zu Hause war, weil sie hier zusammen mit meinen Eltern auf mich gewartet hatte. Und die drei hatten auf mich gewartet, weil mein Versteckspiel am Fluss aufgeflogen war.

Da konnte ich auch gleich Farbe bekennen.

»Ich war nicht dort«, flüsterte ich.

»Und warum warst du nicht dort?«, fragte meine Mutter wütend.

Ich deutete aus dem Fenster, auf die Sonne, die dahinjagenden Wolken, den blauen Himmel über den Inseln draußen vor der Bucht, und grinste verlegen. »Weil es so ein wunderschöner Tag ist.«

Seiten raschelten, die Witwe blätterte mit ihren knochigen Fingern ein Heft durch und überprüfte ihre Notizen. »Es ist nun einmal so, mein lieber Finley …«

Lieber? Dieses einfache Wort war quasi schon der Federstrich unter mein Todesurteil.

»… wie es scheint, hat es in letzter Zeit viele wunderschöne Tage gegeben. Mit heute belaufen sich deine, nennen wir es wir mal Fehltage auf einundsiebzig.«

»Tatsächlich war dieser Frühling doch so schön wie seit Langem keiner, Mrs …«

»Sei still«, fuhr mein Vater dazwischen.

Das war das Erste, was er sagte, und es genügte, um mich verstummen zu lassen.

Mein Vater sah mich weiterhin nicht an, stattdessen wandte er sich der Witwe zu.

»Ist da noch etwas zu machen?«, fragte er sie.

»Ich fürchte leider nein, Mr McPhee«, antwortete sie. »Ihr Sohn hat zu viele Fehltage, außerdem waren Finleys Noten auch vor diesem ganz besonderen Frühling schon nicht herausragend gut.«

»Aber …«, versuchte ich mich zu verteidigen. Was war denn mit der Drei in Mathe vom Anfang des Jahres?

Sie konsultierte wieder ihr Heft. »Sagen wir mal, Finley stand zwischen ausreichend und mangelhaft. Jedenfalls solange er zur Schule ging.«

»Wir hatten ja nicht die geringste Ahnung …«, flüsterte meine Mutter, deren Wut sich inzwischen in mitleiderregende Beschämung verwandelt hatte. »Wir haben Finley immer vertraut …«

»Ich …«, setzte ich noch einmal an, aber keiner nahm Notiz von mir, als wäre ich gar nicht anwesend. Oder als wäre ich eine Statue oder ein Sklave, der nur ohnmächtig sein Schicksal erwarten konnte.

»Machen Sie sich deshalb keine Gedanken, Mrs McPhee …«, fuhr die Witwe fort. »Viele andere Kinder haben auch ein Schuljahr wiederholt. Und das war keine Tragödie. Manchmal kann das sogar sehr heilsam sein.«

»Heilsam, natürlich …«, sagte mein Vater leise, aber es klang so schneidend, als würde er ein Messer auf einem Schleifstein wetzen.

»Das ist eine gute Gelegenheit für ihn, mal richtig in sich zu gehen und vielleicht über sein Verhalten nachzudenken. Es wäre bedauernswert, wenn Finley sich nicht ernsthafter seiner Bildung widmete, denn man hat mir gesagt, er sei ein sehr aufgeweckter Junge …«

»Sehr aufgeweckt …«, wiederholte mein Vater.

»Der vielleicht nur etwas mehr Motivation braucht …«

Motivation?

Ich war immer schon der Meinung gewesen, dass das Schicksal hinterhältig, feige und gemein ist. Ich stellte es mir als einen boshaften Mistkerl vor, der Zufälle hin und her schob, wie er wollte, damit man glaubte, nichts geschehe mit Absicht, während er schon längst alles entschieden hatte. Und tatsächlich fing Dusty in diesem Moment an zu jaulen, als hätte ihm jemand auf den Schwanz getreten.

»Verdammter Köter, geh doch aus dem Weg!«, schimpfte mein Bruder Doug und stieß das Fliegengitter auf, um ins Haus zu kommen. Er sah uns vier an, mit diesem stumpfen Blick eines vollkommen intelligenzfreien Rugby-Champions, und raffte natürlich nicht, was hier los war. »He?«, rief er dann dröhnend. »Ist etwa jemand gestorben?«

Ich wäre am liebsten im Boden versunken. Das passierte mir immer, wenn Doug einen Raum betrat und eine Frage stellte, denn leider konnte ich nicht leugnen, dass er mein Bruder war.

»So etwas in der Art: Dein Bruder bleibt sitzen«, erklärte ihm Mama.

Doug sah mich irgendwie seltsam an. Als würde er das erste Mal seit Jahren feststellen, dass wir etwas gemeinsam hatten.

»Wirklich?«, sagte er und zerzauste mir die Haare. »He, stark!«

»Darüber sprechen wir später …«, sagte mein Vater leise und erhob sich mühsam. »Danke, dass Sie persönlich vorbeigekommen sind, Mrs Rozenkratz.«

Die beiden gaben sich die Hand.

»Ich nehme an, es ist sinnlos, wenn Finley die letzten Tage vor Ferienbeginn noch einmal zur Schule geht, oder?«

Die Witwe nickte. »Das glaube ich auch, Mr McPhee.«

Papa nickte ebenfalls, sehr bedächtig.

»Verabschiede dich von Mrs Rozenkratz«, befahl mir Mama und meine Hand schnellte automatisch vor wie die eines Roboters.

»Dann sehen wir uns also im nächsten Schuljahr, Finley«, sagte die Rektorin lächelnd.

Vielleicht tat es ihr ja wirklich leid. Oder sie wusste schon, was in einigen Tagen passieren würde. Ich will lieber glauben, dass es nicht so war und dass ich die Familie Lily auch kennengelernt hätte, wenn ich nicht sitzen geblieben wäre. Aber da kann ich mir nicht sicher sein.

Wir schwiegen peinlich berührt, während die Witwe Rozenkratz den Raum verließ. Dann, als wir hörten, wie sie den Motor ihres Stadtflitzers anließ, sah mein Vater mich endlich an, Mama verzog sich in die Küche und Doug fragte: »Also, was gibt’s heute zu Mittag?«

Der Zauberladen von Applecross (Bd. 1)

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