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EIN EINZIGARTIGER INNERER WEG

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Meditieren mit Etty Hillesum, dies mag manchen ein wenig gewagt erscheinen, war sie doch keine Christin. Aber ihr spiritueller Weg ist so bemerkenswert, ja überwältigend, dass es mehr als gerechtfertigt ist, sich von ihr inspirieren zu lassen. Von einem anfänglich ganz vagen, kaum bewussten religiösen Empfinden fand sie zu einem Leben in der fast ununterbrochenen Präsenz Gottes: „Es ist, als hätte sich etwas in mir einem beständigen Gebet überlassen: ‚Es betet in mir‘, selbst wenn ich lache oder scherze.“

Aufgrund der Originalität ihrer Erfahrung und ihrer einzigartigen Weise, darüber zu sprechen und davon Zeugnis zu geben, hat man Etty Hillesum als „nicht klassifizierbar“ bezeichnet. Es wurde gesagt, in ihren Texten scheine der Name Gottes „aller Tradition beraubt“. Doch auch wenn ihr innerer Werdegang wie ein persönlicher Sonderweg erscheint, auch wenn sie sich nie einer Kirche oder einem religiösen Bekenntnis angeschlossen hat, so heißt das nicht, dass sie sich unbeeinflusst von religiösen Traditionen entwickelt hätte. Sie war Jüdin, das Enkelkind eines Großrabbiners, und auch wenn sie offenbar kaum in der Religion ihrer Väter erzogen worden ist, so wurde sie sich doch ihres Judentums sehr bewusst; für sie war es ein fester Bezugspunkt. Gerade das hat sie ja bewogen, sich ihrem Volk tief verbunden zu fühlen und sein Leid zu teilen.

Zudem war Etty in Kontakt mit christlichen Freunden; sie las große christliche Autoren wie Augustinus, Dostojewski u. a. Die Bibel hatte sie stets zur Hand und im Herzen, regelmäßig las sie darin, sie zitierte öfter Worte aus dem Ersten wie dem Neuen Testament. Was anfänglich Neugierde oder Sympathie für dieses christliche Erbe gewesen sein wird, wurde mit der Zeit zu einer tiefen Nähe. Doch darf daraus keineswegs abgeleitet werden, dass sie sich den christlichen Glauben zu eigen gemacht hätte.

Generell sollte man sich davor hüten, Ettys Zeugnis in irgendeiner Weise zu vereinnahmen. So sehr es der historischen Wahrheit und ihrem eigenen Bekunden entspricht, dass sie eine Beziehung zu jüdischen und christlichen Traditionen hatte, so ist gleichzeitig ihre Unabhängigkeit gegenüber jeder religiösen Institution, ob Kirche oder Synagoge, hervorzuheben. Nicht zuletzt diese Unabhängigkeit ist typisch für ihren überraschenden, unkonventionellen inneren Weg. Auch alle Spekulationen, „was wohl aus Etty geworden wäre, wenn sie die Schoah überlebt hätte“, verbieten sich: Sie gehören ins Reich der Fabeln.

Vielleicht ist es dieser innere Weg, diese „spirituelle Initiation“ an den Rändern der großen Traditionen, die sie vielen unserer Zeitgenossen so nahe sein lässt. Denn viele Menschen leben heute ihr inneres Suchen in respektvoller Distanz zu den „etablierten“ Religionen.

Als Etty am 5. Juni 1943 Amsterdam für immer in Richtung Westerbork verließ – ohne Rückfahrkarte sozusagen –, war unter ihren persönlichen Habseligkeiten eine Korbtasche mit dem Koran und dem Talmud … Als sie am 7. September 1943 den Waggon Nr. 12 des Todeszugs Richtung Auschwitz bestieg, war in dem eilig gepackten Beutel eine Bibel …

„Mach den Raum deines Zeltes weit, spann deine Zelttücher aus, ohne zu sparen. Mach die Stricke lang und die Pflöcke fest“, heißt es beim Propheten Jesaja (54,2). Ettys Leben ist ein leuchtendes Beispiel für ein solches „Weitwerden“ und „Sich-Festmachen“.

Doch, es gibt eine andere Wirklichkeit

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