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Kapitel 1 Auf ein Neues
ОглавлениеDie folgende Geschichte handelt von einem banalen Stoff, nämlich dem Leben, und zwar von meinem. Mein Name ist Till, wobei ich meinen Nachnamen für mich behalten möchte. Ich möchte erzählen von den letzten Monaten und Tagen meines Studiums, wie ich zum akademischen Führungsnachwuchs wurde und mich ins Berufsleben stürzte. Manch einer wird sich fragen, was daran Besonderes ist. - Viele werden sich an eigene Erlebnisse erinnert fühlen, die schon längst verdrängt worden sind, andere werden mit Spannung verfolgen, was auf sie zukommen könnte, und vielleicht werden sich einige wiedererkennen. Es handelt sich um eine lustige Geschichte, die eigentlich gar nicht lustig ist. Es geht um lästige Dinge wie Prüfungen und Bewerbungsverfahren, aber auch um so faszinierende wie die große und manchmal doch nicht so große Liebe, um Erfolge und oft auch um Misserfolge. Kurz gesagt: Es geht um alles, was im Leben wichtig ist.
Meine Geschichte beginnt Mitte der 90iger Jahre an einem grauen Oktobertag. Ich bin VWL-Student der ehrwürdigen Universität in Münster. Es war der erste Vorlesungstag von dem Semester, das mein letztes werden sollte. Es war ein richtiger Scheißtag und dieses nicht nur wegen des Wetters. Vormittags hatte ich gearbeitet, leider wieder mal viel zu lange, so dass ich zu spät an der Uni erschien. Mir war mehr nach einer Dusche als nach einer Vorlesung zumute, aber solange sich niemand über mein nicht dem Klischee des dynamischen Wiwis (Wirtschaftswissenschaftlers) entsprechenden Outfits beschwerte, sollte mir das egal sein. Glücklicherweise beschwerte sich tatsächlich niemand, zumal in der Reihe vor mir Michaela Assmann saß. Obwohl ich froh war, einen Sitzplatz ergattert zu haben, saß ich nicht zufällig hinter ihr. Leider konnte ich ihre braunen Locken nur von hinten betrachten, lieber hätte ich direkt in ihre hübschen Kulleraugen geschaut. Dies tat der Kommilitone Steinhoff, der obendrein ein Fisherman’s angeboten bekam. Mir schenkte sie ihr Lächeln, man hatte sich ja lange nicht mehr gesehen.
Nun folgte eine höhepunktlose Stunde. Außer mehrfacher Aufforderung aus der Reihe vor mir, mich nicht zu laut mit meinem Nachbarn zu unterhalten, dem ich in meinen ersten acht Semestern nie zuvor begegnet war (jedenfalls dachte ich das - Stichwort: Massenuni, Anonymität, Entfremdung...), passierte eine Sache, die mich äußerst skeptisch werden ließ. Meine beiden Kritiker auf den Plätzen vor mir tauschten rege bisher kopiertes und vorbereitetes Material bezüglich des Examens aus. Meine Nachdenklichkeit erklärte sich daraus, dass ich weder genau wusste, welche offensichtlich hochwichtigen Unterlagen das waren, geschweige denn, dass ich selbst irgendwelche eigenen zusammengetragen hatte. Mein dato vorhandener Anstand verbot mir außerdem, mich näher kundig zu machen. Der eigentümliche Klang der eben erhaltenen Tadel war allzu präsent.
So kam in mir die bange Frage auf, ob ich denn eine Chance hätte, das große Finale zu schaffen. Man hörte soviel von Leuten, die trotz größter Bemühungen den Anforderungen nicht gewachsen waren. Von fünf überdimensionalen Klausuren wurde berichtet. Diese waren nur über zwei Termine verteilt zu bezwingen (außer natürlich für Genies). Die vielen Nichtbezwinger der ersten Runde hatten eine Strafrunde in Form mündlicher Ergänzungsprüfungen zu absolvieren. Was sollte dabei aus jemandem wie mir werden, der es nicht einmal nötig hatte, sich in seinen Semesterferien vorzubereiten? - Angst kam in mir hoch. Allerdings nur für kurze Zeit, da der vorne stehende, im Laufe der Zeit etwas grauhaarig gewordene Entertainer das Einsehen hatte und seine vermutlich die Wissenschaft revolutionierenden Ausführungen beendete, die mir wieder mal fremd geblieben waren.
Auf jeden Fall hatte ich nun wichtigere Dinge zu tun als mir Sorgen über weit in der Ferne liegende Prüfungen zu machen. Einmal war da der mir im Moment recht angenehme Kommilitone Christoph Mattern aus der Weite des Hörsaales erschienen, mit dem ein Smalltalk zu halten war. Ich spekulierte nämlich auf dessen Kooperationsbereitschaft bei weiteren Examensangelegenheiten. Zum anderen hielt ich es für notwendig, nach einer gewissen Anja Ausschau zu halten, die ich einige Tage vorher auf einem Sektempfang kennengelernt hatte und von der ich lediglich wusste, außer dass sie sehr hübsch war, dass sie sich in ihrem Wagemut ebenfalls im Schlussakt befand. Leider war keine Anja auszumachen, dafür mit Christoph eine Tasse Kaffee bei Bölling zu trinken, dem monopolistischen Bäcker vor unserem Hörsaalgebäude. Im Mittelpunkt des Kaffeeklatsches standen die unwesentlicheren Geschehnisse der letzten Wochen, deren Pseudowichtigkeit so wichtig war, dass sie erneute Verspätung im nächsten Seminar legitimierte.
So begab es sich, dass der begehrte Platz neben Michaela Assmann wieder belegt war. Zwischen ihr und mir machte sich eine Bettina breit, die ich nur mit Vornamen kannte. Diese war recht klein, hatte kurze, rote Haare und richtig blaue Augen, und ihr Gesicht war mit den typischen Sommersprossen überzogen. Eigentlich sah sie recht knuffelig aus, war mir aber vorher nie sonderlich aufgefallen, weil sie ebenso unscheinbar wie klein war. Zu meiner Überraschung drückte sie mir, den sie für eine Arbeitsgemeinschaft auserkoren hatte, eine rosa Karteikarte mit ihrer Adresse in die Hand. Ich hatte auf eine Zusammenarbeit mit Michaela gehofft, musste jedoch vernehmen, dass sie das betreffende Fach (öffentliche Verwaltung, abgekürzt ÖV) erst im Sommersemester schreiben wollte. So beugte ich mich meinem Schicksal und willigte in eine Zusammenarbeit mit Bettina Claas ein, wie mir die eben erhaltene Karte verriet.
Zum Seminar war zu sagen, dass ein gewisser Dr. Fecht die Leitung innehatte. Gerüchten zu Folge handelte es sich bei diesem um einen der vielversprechendsten Mitarbeiter des Lehrstuhles für Verkehrswissenschaften, wenn nicht der gesamten Fakultät. Von seinem Charme, jedenfalls wie er ihn im besagten Seminar darbot, war leider nicht auf diese fachlichen Qualitäten zu schließen. Unter herablassenden Bemerkungen über Wissensstand, Motivation und allerlei mehr der Studentenschaft wurden Gruppen für die Bearbeitung einzelner Fallstudien formiert. Es war zu erfahren: "Wer sich nicht bereit erklärt, hier mitzuarbeiten, hat nichts in diesem Seminar verloren und eigentlich auch nichts im Examen."
...und eigentlich nichts an der Universität, welch Wunder, dass ein solcher überhaupt die Anmeldung geschafft hatte! Die Würfel warfen mich glücklicherweise mit Christoph Mattern und Volker Steinhoff zusammen. Anschließend bekamen wir einen weiteren Mitstreiter, Martin Haim, der, wie Volker, im ersten Termin steckte. Zu unserer faszinierenden Aufgabe wurde es, sich in den nächsten Wochen mit den evolutionistischen Verfassungstheorien der beiden Nobelpreisträger van Hayek und Buchanan auseinanderzusetzen. Immer wieder was Neues!
Alles in allem war somit dieser Tag vom studentischen Standpunkt her erfolgreich geworden. Ohne eigenes Engagement zu entwickeln, war ich in zwei Arbeitsgemeinschaften gerutscht. Darüber hinaus war es mir gelungen, zwei von fünf der relevanten Literaturlisten meiner drei zu schreibenden Klausuren in die Hände zu bekommen. Diese Erfolge waren Grund genug, mir zu erlauben, ein weiteres Mal bei Bölling einzukehren, wobei diesmal der Kaffee gegen ein Bier getauscht wurde. Der Nachmittag war ja schon weit fortgeschritten.
Gut gestärkt, wesentlich entspannter als am Vormittag und einigermaßen gelaunt, machte ich mich auf den verdienten Heimweg. Nach einer fast halbstündigen Busfahrt stand ich vor meinem trauten Heim in Münster Gievenbeck, das von seiner Größe her durchaus mit einer Burg hätte mithalten können, vom Baustil allerdings eher mit der sozialistischen Plattenbauweise konkurrierte. Es war eben ein Wohnheim für gemeine Studenten, in dem ich meine letzten beiden Semester zwangsweise verbringen musste.
Im Foyer des Palais öffnete ich meinen Briefkasten, einen von weit über Hunderten, in dem mich ausnahmsweise beide meiner zwei Zeitungen anlächelten. Weiter erfreute mich der Anblick meiner zartgrauen Telefonrechnung. Mit der Post bewaffnet, nahm ich den Anstieg zum fünften Stock in Angriff. Wegen meiner klaustrophilien Bedenken und meiner Gesundheit, die ich entsprechend Churchills Motto "no sports" pflegte, hatte ich es mir abgewöhnt, den sich nicht mehr im jugendlichen Alter präsentierenden Aufzug zu benutzen. Das grün und orange gestrichene Dekor des Treppenhauses erinnerte mich etwas an ein Krankenhaus, und in der Tat fühlte ich mich nach dessen Benutzung meistens ziemlich niedergeschlagen. Ich war immer froh, in dem anzukommen, was ich mein Appartement nannte.
Von diesem trennte mich nach geglücktem Aufstieg ein Flur mit etwa 20 Türen, deren farbliches Design sich dem Grün und Orange des Treppenhauses anglich. Zu meiner Linken wohnte dort eine Silke, die ich innerhalb eines halben Jahres ein einziges Mal gesehen hatte, und zwar im Nachthemd. Meine Schrittgeräusche hatte sie wohl mit denen ihres Freundes verwechselt, der mit einer Brötchentüte in der Hand einige Meter hinter mir war. Einfach reizvoll, wie sie mir etwas verlegen die Tür öffnete! Ihr gegenüber wohnte Miriam, besser Miri, ein bezauberndes Mädchen mit langen roten Haaren. Philosophiestudentin, außerdem Germanistik und einiges mehr. Nebenbei spielte sie am Theater, was mich besonders an ihr faszinierte. Neben ihr, mir direkt gegenüber, war Nikos Appartement. Er hatte geschafft, was mir unmittelbar bevorstand, das Examen in unserem Fachbereich. Zwar nur als BWLer, aber immerhin. Leider hatte ihm das ganze bis auf ein nach zwei Monaten abgebrochenes Traineeprogramm nichts eingebracht. Mit meinen rechtsseitigen Nachbarn hatte ich bescheiden wenig zu tun. Neben mir, wusste ich, lebte eine angehende Zahnmedizinerin, braune Haare und meistens attraktiv gekleidet, ob ihr gegenüber überhaupt jemand wohnte, war mir nicht bekannt.
In meinen fast 15 Quadratmeter großen vier Wänden angekommen, fühlte ich mich richtig zu Hause. Ich zwängte mich zwischen meiner Kücheneinrichtung und meinem Einbauschrank hindurch, schob mich an der Tür zu meiner Nasszelle vorbei, die die Mehrzahl meiner Besucher für eine Schiffstoilette hielten, und stand im Zentrum meines Reiches. Hier war ich umzingelt von einer Regalwand, auf der die Unmengen meiner Bücher lasteten, von zwei Schreibtischen, wie sie in der Inventarliste hießen, und meinem pritschenähnlichen Bett, um das mich wahrscheinlich jeder Häftling beneidet hätte. Weitere essentielle Einrichtungsgegenstände waren mein Telefon, mein Fernseher und meine Hausbar.
Ich entledigte mich meiner Post, tätigte den obligatorischen Blick in dem Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen und überflog die Titelseite der münsterschen Lokalzeitung. Mir wurde dabei klar, dass ich ein weiteres Bier brauchte, um heute überhaupt weiteres tun zu können. Im Kühlschrank standen drei Krombacher griffbereit, von denen eine nun geköpft wurde. Gleich ging es mir besser, und ich begann, die Mitbringsel des Tages aus meiner Tasche zu ziehen. Da war die Visitenkarte dieser Betti, die ich erst einmal beiseite legte, ferner waren da meine beiden Literaturlisten, die es als nächstes zu studieren galt. Es handelte sich um die allgemeine Volkswirtschaftslehre (AVWL) und die Wirtschafts- und Finanzpolitik (Wifipo).
Vor mir befand sich ein enzyklopädisches Sammelsurium von Fachaufsätzen und Lehrbüchern zu diesen Themen, grob geschätzt jeweils 600 bis 800 Seiten geballtes Fachwissen, wovon der Strebsame keine einzige auszulassen hatte. Das bewährte Erfolgskonzept in unserem Fach bestand nämlich in der Kunst, möglichst viel des angegebenen Repertoires auswendig zu lernen, denn das erhöhte die Wahrscheinlichkeit, auf nicht antizipierte Fragen eine Antwort zu finden. Das Fatale war, dass unser Jahrgang als erster in den Genuss einer geänderten Prüfungsordnung gelangte. Zu jedem dieser beiden Prüfungsfächer gehörten ab uns zwei Prüfer, denen es unmöglich war, sich auf eine gemeinsame Literaturabgrenzung zu einigen, was bedeutete, dass sich die 1200 bis 1600 Seiten verdoppeln würden. Dagegen erschienen mir die drohenden 800 Seiten ÖV fast lächerlich.
Die Lage war ernst, aber natürlich nicht hoffnungslos. Im Sommer war mir immerhin die Lösung von zwei Klausuren gelungen, deren Ausgang mir allerdings momentan unbekannt war, da im Prüfungsamt die Sitte herrschte, sich auf die Verkündung von Gesamtergebnissen zu beschränken. Hier fiel mir ein, dass übermorgen die Note meiner Diplomhausarbeit ausgehängt wurde, von der ich bisher nur sicher wusste, bestanden zu haben, da man mir sonst die Anmeldung zu den Klausuren verweigert hätte.
Ich beschloss, Christoph Mattern zwecks Vergleichs der Semesteranfangsimpressionen anzurufen. Eventuell hatte er ja Lust auf ein (weiteres) Bier. Zu meiner Überraschung meldete sich etwas schüchtern eine Andrea Reimann auf schwäbisch. Mir wurde mitgeteilt, dass Herr Mattern an der Uni sei und bis spät abends in der Bibliothek zu tun habe. Ich sagte: "Danke", und legte auf. Mein plötzlich ganz schlechtes Gewissen wurde von der Neugier verdrängt, mit wem ich da gerade gesprochen hatte. Ich erinnerte mich dunkel an Christophs alte Freundin, mit der er vor zwei Monaten in Münster zusammenlebte. Zwei Monate waren natürlich eine lange Zeit, und am Nachmittag bei Bölling war merkwürdigerweise das Thema "Frauen" ausgelassen worden, was meine Spekulationslust enorm anregte.
Trotz aller Ablenkungen meldete sich in mir mein Pflichtbewusstsein, und ich machte mich daran, mein weiteres Vorgehen strategisch zu planen: Morgen würde ich die fehlenden Literaturlisten inklusive der darauf stehenden Werke beschaffen. Mehr konnte ich heute beim besten Willen nicht tun. Also stellte ich meinen Fernseher an und ließ den Abend mit "heute", den "Tagesthemen" und den Klängen von MTV ausklingen.
Dabei lag ich auf meiner Pritsche und resümierte die letzten Tage und Wochen. Meine Gedanken wanderten nach Budapest, zu Tatja, der zierlichen Bedienung der Interdisco "Halligalli", in der ich mich von einem anstrengenden Urlaubstag erholte. Tatja versorgte mich über einen Abend mit Getränken. Nach drei, vielleicht auch erst nach vier Stunden ließ sie sich das erste ausgeben, einen mittelgroßen Pina colada für 17 500 Forint (ungefähr 20 DM). Danach wurde sie richtig nett, wogegen ich nichts einzuwenden hatte, weil ich sie äußerst anziehend fand. Ihr kleiner Busen erschien durch ihr schwarzes Bustier wesentlich größer. Besonders stimulierend fand ich ihren Kugelschreiber, den sie dort jedes Mal hineinschob, wenn sie etwas aufgeschrieben hatte. Zwischen ihrem Oberteil und ihrer Radlerhose, ein Stück ihrer bronzenen Haut und ihr Nabel, irgendwo darüber ein breiter weißer Gürtel, der neonfarben im Scheinwerferlicht leuchtete.
Drei Stunden später saßen wir nebeneinander im Taxi. Vorher hatte ich fast eine halbe Stunde draußen gewartet, bis sie ihre Bar aufgeräumt hatte. Als letzter wollte ich nicht gehen, weil mir das zu auffällig war. Bis wir in meiner abgelegenen Pension ankamen, war es fast hell. Bis dahin wusste ich, dass sie einen schwarzen Slip trug und ohne BH war. Ihr Haar duftete angenehm nach Lavendel und ihre Haut nach einem mir unbekannten, aber dafür sehr erotischen Parfüm. An das, was danach passierte, konnte ich mich kaum erinnern, auf jeden Fall bin ich verhältnismäßig schnell eingeschlafen. Wenigstens wachte ich mittags nicht alleine auf. Der Mensch, der uns weckte, weil mein Auto angeblich in der Einfahrt im Weg stand, schien sich sehr zu amüsieren, was mir aufgrund meiner Kopfschmerzen ziemlich egal war. Unser erstes und letztes gemeinsames Frühstück servierte mein Wirt ausnahmsweise nach 12 Uhr. Er war schließlich auch mal jung, meinte er. Danach fuhr ich Tatja in die Stadt. Urplötzlich wollte sie irgendwo im Nirgendwo aussteigen. Ich habe sie nie wieder gesehen, nicht einmal unsere Adressen hatten wir getauscht.
Zwei Tage zuvor war ich in Prag gewesen. Fast wäre ich meinem Prinzip untreu geworden, mich nicht mit einer Prostituierten einzulassen. Das langhaarige, blonde Mädchen saß auf einer der Bänke am Wenzelsplatz, ungefähr gegenüber der Gedenkstätte des Prager Frühlings, wo nach wie vor frische Blumen niedergelegt werden. Mir kam es vor, als ob mich eine Kommilitonin anspräche, so natürlich fragte sie das Unnatürliche: "Kommst du aus Deutschland? Bist du alleine? Willst du mit mir mitkommen?" Ich wollte schon, denn ich war in der Tat alleine, tat es aber trotzdem nicht.
Dies alles kam mir nicht aus dem Sinn.
Das war im August. Eine Woche Kurzurlaub im wilden Osteuropa. Natürlich ohne Begleitung, da Intellektuelle alleine reisen. Nachmittags Kultur, abends, besser nachts, Neon- und Rotlicht.
Danach Arbeit bei meiner Autovermietung, da das Abenteuer ein ordentliches Loch in mein schmales Budget gerissen hatte.
Letzte Woche diese schwarzhaarige Anja Steinbach auf dem Kongress des Vereins für Socialpolitik. Das Zeremoniell wurde dieses Jahr in Münster abgehalten, und der ehrenvolle Organisator war unser Institut für Finanzwissenschaften, das u. a. für mein Schwerpunktfach ÖV verantwortlich war. (Meine Diplomarbeit schlummerte im Moment auch dort.) Anja, einige andere und ich waren so eifrig und engagiert, freiwillig diese Veranstaltung zu unterstützen. Als am zweiten Abend alles vorbei war und wir fleißigen Helfer uns über den übriggebliebenen Sekt hermachten, fiel mir Anja als sympathische Gesprächspartnerin auf. Leider verabschiedete sie sich zu schnell, und jetzt fragte ich mich, warum sie heute nicht an der Uni gewesen war.
Bisher hatte ich mein loses Studentenleben genossen, doch in letzter Zeit kam in mir vermehrt die Assoziation der Annehmlichkeit eines geregelten Lebens empor. Warum nicht auch mal eine längere Beziehung? Schließlich wird der Mensch nicht jünger. Und dann die Nachexamenszeit. Bei einem Diplom-Volkswirt sollte das Privatleben geordnet sein. So nahm ich mir als letztes an diesem Tag vor, verstärkt nach einer adäquaten Partnerin Ausschau zu halten.
Gewöhnlich weckten mich die Sonnenstrahlen, heute weckte mich das Telefon. Ein gezielter Blick durch den Nebel vor meinen Augen Richtung Wecker verriet mir, dass es 7.38 Uhr war. Für einen Studenten eine denkbar undankbare Zeit, für meinen Arbeitgeber die achte Dienstminute. Grund genug, das lästige Geräusch aus der Gegend meines Telefons zu ignorieren. Dieses war aber nicht ignorierbar, jedenfalls nicht nach der 14. Wiederholung. Möglicherweise etwas Wichtiges: "Hoffentlich ist niemand gestorben", dachte ich und nahm ab.
"Bist ja doch zu Hause, warst bestimmt noch am schlafen, deshalb habe ich auch solange schellen lassen", meldete sich Paule, der Disponent meiner Autovermietung.
"Ich bin gerade vom Bäcker reingekommen und hab im Flur das Schellen gehört. Eben noch rechtzeitig dran gewesen. Was kann ich denn für euch tun?"
"Zeit?"
Literaturlisten, Bibliotheken, Copyshops, Übungsaufgaben, Arbeitsgemeinschaften und die guten Vorsätze vom Vortag dominierten die Koordination meiner Gedanken. Ich hatte keine Zeit, ich musste zur Uni.
Leider sagte man mir des Öfteren (und dieses nicht immer ohne Grund), dass ich nicht "nein" sagen könne. Ich konnte aber doch, und das würde ich jetzt beweisen.
"Um was geht es denn?" fragte ich lediglich aus Neugier.
"Der 55er muss heute nach Leipzig. Wenn du in einer halben Stunde da bist, ist das deine Tour."
Ich konnte doch nicht "nein" sagen. Die Nummer 55 war nämlich die firmeninterne Bezeichnung für den Mercedes 300 SEL, und eine Fahrt nach Leipzig würde bei der voraussichtlich etwas kürzeren Fahrtdauer eine nette Pauschale einbringen.
"Ok! Ich bin in 25 Minuten da."
Dank meines Renault 5 Alpine Turbos, dem etwas studentenuntypischen Fahrzeuges, das mir sehr ans Herz gewachsen war, befand ich mich nach einer Viertelstunde vor Ort. Vergessen waren die Literaturlisten und anderen Lästigkeiten. Paule, der eigentlich Paul Brinkkötter hieß, drückte mir meinen Fahrauftrag und die Wagenschlüssel in die Hand. Dazu die Bemerkung, mich beeilen zu müssen, da die Herrschaften in Leipzig das gute Stück bis 14.00 Uhr benötigten.
Ich hatte weder eine konkrete Vorstellung von der mich von der dortigen Station trennenden Entfernung, geschweige denn, dass ich wusste, auf optimalem Wege dahin zu gelangen. Zweiteres ließ sich schnell durch die firmeneigene Deutschlandkarte klären, auf der sämtliche Autobahnen und Bundesstraßen eingezeichnet sind. Das erste Problem blieb Problem, insofern ich erfuhr, dass meine Rückreise mit einem 7,5 Tonner stattfinden würde und zwischen Abfahrt und Ankunft fast 1000 km lagen. Ich erinnerte mich daran, am Abend bei Esther auf ihrer Geburtstagsparty eingeladen zu sein.
Also Grund, sich zu beeilen. Ich verzichtete, die an einen Zahnarztstuhl erinnernde elektronische Sitzeinstellung auszuschöpfen und fuhr los, obwohl die Kopfstütze in einem relativ unbequemen Winkel stand. Nach zweimaligem Abbiegen befand ich mich auf der A 43, von der ich nach vier Kilometern am Kreuz Münster Süd auf die A 1 wechselte. Meine 148 kW nützten mir bis zum Kreuz Dortmund/Unna genauso wenig wie mein linker Blinker und die Lichthupe, über 170 stieg die Tachonadel nicht. Zeit für Esther und das Autotelefon, das ich unter der mit Wurzelholz verzierten Mittelkonsole fand und normalerweise wegen der Kundenabrechnung gar nicht benutzen sollte. Ich wählte ihre Nummer und wartete. Sie nahm tatsächlich ab, obwohl es erst viertel nach acht war. Sie kam gerade aus der Dusche, war nur mit einem Handtuch bekleidet und hatte tropfnasses Haar, was ich gerne selbst gesehen hätte.
Vorsichtshalber entschuldigte ich mich für mein vermutlich späteres Eintreffen am Abend. Ich sei beruflich unterwegs und hätte keine Ahnung, wie lange das dauerte. Ich käme auf jeden Fall vorbei.
Außerdem fiel mir ein, Harald Köhler absagen zu müssen, der bei mir im Nachbarwohnheim wohnte und mit mir mitfahren wollte. Ich fragte, ob sie so lieb sei, mir das abzunehmen, da ich im Dienstwagen säße, weder seine Nummer auswendig wüsste, noch Zettel und Stift in greifbarer Nähe wären, und ich das Telefon normal von Rechts wegen her gar nicht privat benutzen dürfte.
Sie grunzte.
Ich sagte: "Danke, bis nachher", und legte auf.
Esther konnte ich gut leiden, obwohl sie mich überall als ihren Cousin vorstellte, ohne in Wirklichkeit meine Cousine zu sein. Mein Onkel hatte sie vor etlichen Jahren adoptiert. Sie studierte BWL und steckte in der Vorbereitung ihrer mündlichen Prüfungen. Ich fand es verwunderlich, dass sie dabei Zeit fand, ihren Geburtstag zu feiern.
Harri war VWLer, und im Sommer hatten wir uns bei meinen ersten bzw. seinen letzten Klausuren ergänzt. Über mir nie vollkommen klar gewordene Kanäle war er mit Esther gut bekannt. Anfangs, bis er seine Corinna kennengelernt hatte, hatte ich sogar den Eindruck, dass er gerne noch näher mit ihr bekannt gewesen wäre.
Mittlerweile war ich auf der A 44, die aufgrund des geringeren Verkehrsaufkommens eine brauchbare Geschwindigkeit erlaubte. Kurz nach Unna durchbrach ich die 200-Mauer und flog, auf meine Ledergarnitur gepresst, an den Orten vorbei, die mir aus meiner Kindheit vertraut waren. Kurz hinter Soest, an der Auffahrt Geseke, wollte eine nicht mehr allzu junge Golffahrerin so nett sein und den Einbiegern ein leichtes Einfädeln ermöglichen, weshalb sie auf die Überholspur wechselte. Leider übersah sie mich dabei. Das war sehr schade, weil ich mich gerade über die Erreichung der vermeintlichen Höchstgeschwindigkeit von 245 km/h freute und diese Freude einige Zeit genießen wollte. Stattdessen wurde ich einem massiven Reaktionstest unterzogen. Dafür erlebten die unblockierbaren Bremssysteme meines Stuttgarters Raumschiffes ihre Sternstunde. Die Trägheit der Masse besorgte, dass die Schnauze meines Fahrzeuges sich ruckartig soweit nach unten neigte, dass ich dachte, das auf dem Kühler thronende Firmenemblem würde sich mit dem Asphalt vereinigen. Ich erahnte das Geräusch von aufeinanderprallenden Blechen und sah einen Luftballon zwischen mir und Lenkrad sich aufpusten. Mein Blick huschte nach rechts. Dort war alles frei. Ich ließ das Bremspedal los und zog das Lenkrad so gefühlvoll wie möglich herüber. Jetzt fingen die Reifen doch an zu quietschen, und ich fühlte mich in meinem Polstersessel auf einmal sehr unwohl. Sofort lenkte ich wieder gegen und blieb, derbe schaukelnd, geradeaus fahrend auf der rechten Spur. Hier erlaubte ich mir, die Golffahrerin mit einem nicht ganz freundlichen Seitenblick zu überholen.
Nach diesem Zwischenfall ging es wieder auf der Überholspur weiter. Als Vorsichtsmaßnahme schaltete ich die Scheinwerfer ein. Mit meinen eineinhalb Stunden bis zum Kasseler Kreuz war ich zufrieden. Danach genoss ich auf der meiner Meinung nach zu kurvenreichen A 7 das reizvolle hessische Bergland. Die mich direkt in den anderen Teil Deutschlands führende A 4 war eine für meine Nobelkarosse weniger geeignete, vorsintflutliche Schlaglochstrecke. Auf den schmalen Spuren bekam ich regelrecht Platzangst.
Am Rasthof Herleshausen entschied ich mich für einen Boxenstop. Sicherheitshalber tankte ich 79 Liter nach, um nicht kurz vor Leipzig ein weiteres Mal pausieren zu müssen. Nach 362 km war mein Tank wieder voll. Außerdem hielt ich es für notwendig, an diesem Tag mit der Nahrungsaufnahme zu beginnen.
Das nach einem leichten Druck auf den Schlüssel rot leuchtende Lämpchen an der Türverriegelung verriet mir, dass ein Öffnen für Unbefugte während meiner Brotzeit nicht möglich war. Schlösser, in die man Schlüssel steckte, waren ja mehr etwas für Mittelklassewagen.
Als ich nach keinen 15 Minuten wieder kam, wartete ein in einer unmöglichen Farbkombination gekleidetes Subjekt mit Dreitagebart auf mich. In einem fremdartigen Akzent (angeblich holländisch, meines Eindruckes nach mehr osteuropäisch) versuchte er mir verständlich zu machen, dass ihn interessiere, ob es sich bei dem Mercedes um meinen handelte. Da die grünweiße Wagenmappe mit fett gedruckter Firmenbezeichnung auf dem Beifahrersitz lag, war es für einen Menschen mit einem Hauch von analytischem Denkvermögen nicht schwer zu erraten, dass es sich um einen Mietwagen handelte. Ich war mir zwar nicht sicher, ob mein Gegenüber diesen Rückschluss gezogen hatte, wollte ihn jedoch nicht unterschätzen. "Jedenfalls bin ich im Besitz des Schlüssels", antwortete ich überlegend grinsend.
Der bunt gekleidete Vogel machte mir darauf ein einmaliges Angebot. Ich sei der Auserwählte für den Kauf eines echten Silberbesteckes, von allerhöchster Qualität, bei dem es sich sogar um ein Erbstück handele. Ich müsse lediglich eben zu seinem LKW mitkommen.
Mein Kopf verspürte wenig Lust auf Kontakte mit Wagenhebern oder ähnlichen Instrumenten, außerdem durchbohrte mich Paules strafender Blick beim Ausfüllen einer Diebstahlmeldung.
"Ich bin nicht allzu kultiviert und esse gewöhnlich mit den Fingern", tat ich ihm kund. Dabei öffnete ich unbemerkt mit meinem Zauberschlüssel aus der Tasche heraus die Tür.
Als nächstes schob ich den etwas irritierten Menschen mit einem sanften Stoß beiseite. Bevor der Clown eine Reaktion zeigte, die über ein dümmeres Gesicht als bisher zu ziehen nicht hinaus kam, trennte uns eine verriegelte Tür. Ich ließ den Motor starten, hob meine Hand zum Abschiedsgruß und beeilte mich, den Ort dieses Geschehens zu verlassen.
Gegen halb eins passierte ich das Leipziger Ortsschild. Unser Stationsverzeichnis wies mich zum Übergabepunkt in die Bahnhofsgegend. Der Wagentausch sollte reine Formsache sein. Doch diesmal war ich viel zu spät. Der Kunde hatte laut Leipzig zu 13.00 Uhr reserviert. Paule war also ein Schwätzer, und viel schlimmer, die Wagenwäsche war nun unmöglich, aber woanders gab es so schnell keine S-Klasse, also egal.
Ich gönnte mir eine Mittagspause. Für Esther besorgte ich ein mit einer gelben Lilie verziertes Fläschchen Chanel No. 5. Darauf bestieg ich meinen nächsten guten Stern, der mit glatten 7,5 Tonnen wesentlich größer als der erste war. Ich legte eine Tachoscheibe ein und errechnete durch Division von 500 km durch 80 km/h, dass ich in 6,25 Stunden in Münster sein müsste. Also konnte ich Harri mitnehmen.
Nach einer Orientierung auf meiner Karte mit den Autobahnen und Bundesstraßen entschloss ich mich, den Weg über Hannover auszuprobieren. Dieser schien kürzer zu sein. Den Umstand, dass zwischen Halle und Magdeburg (fast 100 km) eine einfache, relativ dicke Linie mit der Bezeichnung B 71 eingezeichnet war, nahm ich gelassen hin. Gesetzliche Bestimmungen fixierten mich sowieso auf eine Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h.
Nach dem dritten Hinweisschild mit dem Text "Umleitung" wurde mir klar, dass ich eine Fehlentscheidung getroffen hatte. Ich lernte idyllische Dörfer mit Kopfstein gepflasterten Straßen kennen, in denen ich mir gut Meister Lempel als Dorfschullehrer und die Witwe Bolte mit ihren Hühnern vorstellen konnte. Leider begegneten mir fortlaufend postsozialistische Erntefahrzeuge, bei denen ich mich des Verdachtes nicht erwehren konnte, dass diese meine rasche Heimkehr sabotieren wollten. Recht schnell bildeten wir, ein Tanklastzug aus Hamburg, ein Kleintransporter aus Halle und ein Schwertransporter aus Irgendwo, der die unüberholbare Spitze innehatte, eine Kolonne, die nach geschlagenen drei Stunden Magdeburg erreichte. Als ich den blauen Pfeil mit der Aufschrift Hannover an der Auffahrt zur A 2 sah, dachte ich zu wissen, was Columbus auf der Santa Maria 1492 empfand, als der wachhabende Matrose rief: "Land in Sicht."
Um viertel nach neun geschah das Unfassbare. Ich kam in Münster an. Auf meinen Fahrauftrag schrieb ich 0.15 und beeilte mich, mit meinem Turbo-Fahrzeug nach Hause zu kommen. Blitzartig verwandelte ich mich in einen dynamisch gestylten Repräsentanten der Fachschaft Wirtschaft, den es auf die Geburtstagsparty seiner Cousine zog.
Die elitäre Runde aus überwiegend angehenden oder seit kurzem diesen Titel führenden Diplom-Kaufmännern und Frauen hatte bereits ohne mich ihren Lauf genommen und hätte das auch problemlos weiter tun können.
Esther freute sich, dass ich es geschafft hatte, ich freute mich, dass ich nicht vergessen hatte, ein Geschenk mitzubringen, und Harald nörgelte, mit Corinna in seinen Armen, dass er seine Anreise von dem einen zum anderen Ende der Stadt selbständig managen musste. An meinen Vorsatz vom Vortag mich erinnernd (den mit der adäquaten Partnerin), schaute ich mich um. Pech gehabt. Die meinen optischen Präferenzen genügenden Damen hatten alle jemanden gefunden, zumindest für diesen Abend. Also beschäftigte ich mich primär mit den alkoholischen Getränken. Eine frischgebackene Unternehmensberaterin mit über 80 Bewerbungen klärte mich über die Hoffnungslosigkeit des Arbeitsmarktes und die Verzwicktheit der ersten Woche im Unternehmen auf. Leider entsprach sie nicht meinen Präferenzen.
Nachdem sich die Dauer meines Aufenthaltes auf über vier Stunden ausgedehnt hatte und die Palette der Getränke durchprobiert war, überfiel mich eine Welle der Müdigkeit. Ich wollte nach Hause. Mich außerstande sehend, mein eigenes Fahrzeug zu lenken, überzeugte ich Harald davon, mich mitzunehmen. Er hatte sich ja extra ein Auto geliehen.
Irgendwann zwischen drei und vier Uhr erreichte ich schließlich mein Bett.
Dieses war der erste Vorbereitungstag meiner zweiten Examenshälfte.
Am nächsten Morgen weckten mich die Sonnenstrahlen, allerdings nicht die ersten. Neben dem grellen Licht beeinflusste die Vorstellung meines bevorstehenden Rendezvous mit der Notenliste der Diplomarbeiten meine Empfindungen. Das unangenehme Gefühl eines steigenden Adrenalinspiegels überkam mich. Ich hasste Ungewissheit, insbesondere die letzten Minuten vor unheimlichen Begegnungen, wie sie mir heute bevorstanden. Glücklicherweise hatte ich wegen des gestrigen Alkohols eine angenehme Nacht gehabt. Jetzt war mir nach neuer Medizin zumute. Um den Zahnpastageschmack loszuwerden, trank ich einen Korn. Eine kalte Dusche regte meinen Kreislauf an. Zehn Minuten später saß ich in der Buslinie 11, in der mir einfiel, dass ich mein Auto, das ich eben gesucht hatte, bei Esther zurückgelassen hatte.
Zwei Stationen später stieg Christoph Mattern hinzu, der ebenfalls in Gievenbeck wohnte. Breit grinsend fragte er, ob ich auch auf dem Weg nach Canossa sei. Ich bot ihm höflich an, im Gefolge Heinrich IV. Platz zu nehmen, und wie es sich für echte Büßer gehörte, schwiegen wir uns bis zum Prüfungsamt an.
Vor dem ehemaligen Krankenhaus, das in die Verwaltung der Fachhochschule und in unser Prüfungsamt umfunktioniert worden war, herrschte Aufruhrstimmung. Ein Schild verkündete, dass vor 15.00 Uhr nicht mit den Noten zu rechnen sei, weil eine juristisch unentbehrliche Unterschrift fehlte. Christoph und ich entschieden uns für einen Kaffee bei Bölling.
Die meisten Worte entpuppten sich als Stimmungstöter. Dennoch entlockte ich ihm, dass er im Sommer einige Divergenzen mit Karin hatte, seinem nun ausgetauschten Frauchen. Die mir vom Telefon bekannte Andrea Reimann aus Reutlingen sei seit längerem bei ihm zu Besuch. Ansonsten saßen wir uns gedankenversunken gegenüber. Eine merkwürdige Atmosphäre. Die mit uns am Tisch sitzenden Noten verschnürten unsere Kehlen.
Wir zogen den Gang unserer eigenen Wege vor, die mich zu meinem Auto führten. In tiefer Meditation versunken, durchquerte ich das Juridicum (unser Fachbereichsgebäude) über den sogenannten Jesuitengang, der mich zum Domplatz führte. Von dort war es nicht mehr weit zu Münsters guter Stube, dem Prinzipalmarkt. Hoch über mir hingen am Turm der Lambertikirche die drei Käfige, in denen 1535 die sterblichen Reste der Wiedertäufer zu Ausstellungsstücken wurden. Die drei hatten damals verloren. - Ich würde heute gewinnen, dessen war ich mir sicher. In weniger als vier Stunden würde ich sie schwarz auf weiß hinter Glas verschlossen vor mir sehen: Meine Diplomhausarbeitsnote. Es musste sich um eine eins oder zumindest eine zwei handeln. Alles Schlechtere wäre eine bittere Enttäuschung, genaugenommen ein Ding der Unmöglichkeit.
Mit dieser Gewissheit nahm ich in dem mit schwarzer Hifi-Werbung bemalten Bus Platz. Auf einmal fühlte ich mich mit meinem flauen Gefühl in der Magengegend alleingelassen. Ich überlegte, wie es wäre, zu zweit, mit jemandem, der einem wirklich etwas bedeutete, am Nachmittag dorthin zu gehen und sich gemeinsam zu freuen.
Am östlichen Stadtrand in Mauritz stieg ich aus.
Für sentimentalen Schwachsinn fehlten mir die Zeit und die Lust. Esther würde mich auf andere Gedanken bringen. Ich beschloss, bei ihr reinzuschauen.
In ihrem Einzimmerappartement, das immerhin einen Balkon hatte, waren die Spuren der Nacht unverwischt. Sie saß mit einem Handtuch um den Kopf in einem Morgenmantel auf ihrem Schlafsofa. Nasse Strähnen ihrer langen braunen Haare rutschten vereinzelt hervor. In ihrem Ausschnitt, zwischen den Hälften des weißen Frotteemantels, leuchtete ein goldenes Amulett auf ihrer braunen Haut, das an einer bis zwischen ihre Brüste reichenden Kette hing. In solchen Momenten dachte ich, dass es schade war, dass sie für mich tabu war, obwohl dafür gar kein wirklicher Grund bestand. Vielleicht verstanden wir uns aber gerade deshalb so gut.
"Ich bin noch nicht zum Aufräumen gekommen", begrüßte sie mich.
"Das sehe ich, macht aber nichts", sagte ich, obwohl ich nicht sicher war, ob das Wort Chaos für den Zustand ihres Zimmers angebracht war.
"Und? Schon beim Prüfungsamt gewesen?"
"Fehlanzeige, erst heute Nachmittag. Es hat sich niemand gefunden, der bereit ist, die Liste zu unterschreiben."
"Schön, dann kannst du mir ja beim Aufräumen helfen", grinste sie herausfordernd.
"Du hast doch bestimmt nicht gefrühstückt, oder?" versuchte ich mich aus der Affäre zu ziehen. "Ich lad dich ein, aber nur für die Mensa, wenn dir das recht ist."
Zum Glück war ihr das recht.
In der Zeit, in der sie sich anzog und ihre Haare fertig machte, opferte ich mich, die gröbsten Partyreste zu beseitigen. Ich schob das Sofa an den gewohnten Platz und baute in der Spüle einen Turm aus halbgeleerten Flaschen und Gläsern. Dann stand sie vor mir. Ihr kurzer Rock und ihre schwarze Strumpfhose betonten ihre schlanken Beine, darüber ihre Lederjacke, darunter ein weißes T-Shirt, darunter ihr Chanel No. 5, und darunter meine schlechten Phantasien. "Wir können", lächelte sie mich an und streifte ihr Haar aus dem Gesicht.
Ich öffnete für sie die Beifahrertür, und sie nahm in meinem Miniaturrennauto Platz. Weil ich wusste, dass sie das nicht mochte, mäßigte ich auf der Fahrt zu meinem Stammrestaurant am Aasee meine sportliche Fahrweise.
Jedes Mal, wenn ich beim Schalten ihr linkes Knie berührte, schmunzelte sie zu mir herüber: "Fahr nicht so wüst, mit deinem komischen Auto!" und versetzte mir einen sanften Stoß zwischen die Rippen.
Während des Stammessens II erzählte sie von den Schwierigkeiten des Examens: "Wenn überhaupt irgendwo eine gute Note, dann in der Hausarbeit. Hoffentlich hast du gleich Glück!"
Sie hatte ihre Hausarbeit immerhin mit gut bestanden, doch bei den Klausuren war sie vom Pech verfolgt gewesen. Jetzt musste sie in drei Mündliche und war froh, wenn sie durchkam. Mir empfahl sie, als Ziel zu setzen, in keine zu kommen.
Mein unausgesprochenes, schemenhaft operationalisiertes Ziel hieß allerdings die Gesamtnote "gut", die ihrer Schilderung nach (und der vieler anderer) nur in der Prüfungsordnung existierte.
"Mal abwarten", kommentierte ich selbstbewusst ihr vermeintliches Geschwafel und bemühte mich, das Gespräch auf andere Themen zu lenken.
Später, auf dem Rückweg zum Auto, nahm ich sie tröstend in den Arm, da ich merkte, dass sie sich doch einige Sorgen machte. "Du schaffst das schon", flüsterte ich in ihr Ohr und fuhr sie nach Hause, wo ich ihr beim Aufräumen half.
Mir selber hätte ich darauf gerne eine Mütze Schlaf gegönnt, doch in den eigenen vier Wänden störte mich als erstes mein Telefon. Meine Mutter. Sie war natürlich auf eine Erfolgsmeldung erpicht und fand es extrem unverschämt von unserem Prüfungsamt, diese nicht vernehmen zu können.
Als nächstes klopfte es. Miriam, meine Nachbarin, stand vor der Tür. Sie brauchte einen Mann, um eine Kiste aus ihrem Auto nach oben zu tragen. Ich brauchte hinterher einen Kaffee, weil sie mir wegen meiner Unrasiertheit keinen Dankekuss auf die Wange geben wollte.
Wieder bei mir, war an Schlaf nicht mehr zu denken. Es war bereits nach drei Uhr, und das flaue Gefühl von heute Vormittag um meinen Magen herum nahm überhand an.
Entschlossen machte ich mich auf den Weg zum Ruhm. Der Lärm meiner 79 kW und der sanfte Druck nach hinten beim Einsetzen des Turboladers halfen mir, diesen Weg zügig zu überwinden.
Dann kam der große Moment, auf den ich acht Semester gewartet hatte.
Mit erhöhtem Pulsschlag stand ich vor dem Prüfungsamt, dem Entscheidungsort. Selbstsicher erklomm ich die Stufen des Hauptportals. Drinnen öffnete ich die Glastür zu dem endlos langen Gang durch den linken Seitenflügel, dessen Wände mit Aushängekästen tapeziert waren. Am Ende des zweiten Drittels, auf der rechten Seite, versteckte sie sich: Unsere Notenliste. Nach Sekundenbruchteilen standen wir uns Auge in Auge gegenüber. Der Hauptansturm war abgeklungen. Mein Zeigefinger konnte sich ungestört das Register der dem Tode Geweihten entlang arbeiten. Ungefähr in der Mitte stand mein Name, besser meine Matrikelnummer, inklusive Geburtsdatum, und dahinter, man höre und staune, eine 3,3.
Ich schloss meine Augen. Es wurde still um mich. In meinem Kopf begann es sich zu drehen. Die Zeit schien stehen zu bleiben. Der Moment war wie die Ewigkeit. Ich glaubte, mein Leben flog an mir vorbei. Ich öffnete die Augen und schaute abermals hin. Es änderte sich nichts. Ein Blick in die falsche Reihe war ausgeschlossen. Die 3,3 blieb.
Ich war heilfroh, dass niemand in der Nähe war, den ich kannte. Regungslos zog ich mich zu meinem Auto zurück. Ich war geschlagen. Fünf Minuten wartete ich, danach ging ich erneut hinein. Doch das, was nicht wahr sein durfte, war wahr geworden. Ich hatte verloren. Ich fühlte mich, als ob ich neben die Wiedertäufer an den Kirchturm gehängt werden sollte.
Mein Nachhauseweg dauerte über eine Stunde. Mein Drehzahlmesser zeigte selten weniger als 4000 an.
Hinterher fiel ich auf mein Bett, in meiner Hand eine Flasche Weinbrand. In der mich umgebenden Dunkelheit die Stimme Humphrey Bogarts: "Es gibt nichts, was ein doppelter Bourbon nicht wieder in Ordnung bringt."
Das würde ich jetzt mit meinem Mariacron ausprobieren und setzte die Flasche an. Das Telefon schellte. Wieder meine Mutter, und wieder nichts mit der Erfolgsmeldung. Sicherheitshalber zog ich den Stecker heraus, um nicht weitere Gratulanten enttäuschen zu müssen. Den nächsten Notentermin würde ich für mich behalten. Ich schaute nochmals in die Flasche. Danach besann ich mich auf meinen Status, schließlich hatte ich soeben eine Diplomhausarbeit bestanden. Zwar nur mit mäßiger Note, trotzdem Grund genug, ein Weinglas für den Weinbrand zu nehmen.
Die Idee mit dem Zweierexamen war in die Kategorie "Unmöglichkeiten" gerutscht. Unter expliziter Berücksichtigung des Faktors Glück hatte ich mit guten Ergebnissen in den beiden freiwilligen und befriedigenden in den restlichen Fächern kalkuliert, was verrechnet mit meiner heutigen Eins oder Zwei gereicht hätte, mich auf eine Stufe mit Leuten zu stellen, deren Namen mit dem Begriff "Genie" in Verbindung gebracht wurde.
Nach dem dritten Glas war mir das alles egal. Meine Gedankenwelt begann sich um wahrhaft abstruse Dinge zu drehen. Als ich das letzte halbvoll gewordene Glas trank (ein wertvolles Viertel landete leider daneben), hatte ich das Bewusstsein, das Unmögliche wahr werden lassen zu können. Darauf schlief ich ein.
Ich war froh, dass Paule am nächsten Tag anrief. Zuvor gab es das erste Mal in dieser Woche Frühstück, was wahrscheinlich durch die zeitweilige Unterbrechung meines Telefons möglich geworden war, eine meiner letzten rational nachvollziehbaren Handlungen der gestrigen Trauerfeier.
Der Arbeitstag brachte nicht die erhoffte Ablenkung. Meine Examensnöte drehten sich mit dem Restalkohol um die Wette. Meine Dienstgespräche mit Michaela Assmann und Christoph Mattern steigerten meine Melancholie. Beide erfreuten sich einer 1,7. Wie Volker Steinhoff abgeschnitten hatte, wollte ich nicht mehr wissen. Sogar Paule merkte, der unter Insidern als waschechter Choleriker gehandelt wurde (ein tieffliegendes Telefon soll den Vogel mal abgeschossen haben), dass ich nicht bei der Sache war und meinte wohlwollend, mich am frühen Nachmittag entbehren zu können, wobei ich redlich bemüht war, meine Weinbrandfahne zu vertuschen.
Ich wurde magisch angezogen von den ehrwürdigen Hallen unserer Uni. Den restlichen Nachmittag verbrachte ich in Bibliotheken und Copyshops und kehrte erst spät abends schwerbeladen mit wertvollen Büchern und Bänden sowie seltenen Aufsätzen und Abhandlungen nach Gievenbeck zurück, wo ich eine Metamorphose in einen braven Examinanden durchlebte.