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Kapitel 2 Graue Herbsttage

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Ich stand vor meinem Fenster und schaute gedankenversunken auf die Skyline der östlichen Stadtteile Münsters. In meiner Hand eine Tasse mit schwarzem Kaffee. Es war einer der letz­ten warmen Oktobertage und die Sonne schien direkt in mein Zimmer. Es war ein schöner Tag.

Gleich musste ich los, denn heute war Dienstag, Seminartag, der einzige Tag in der Woche, an dem etwas auf meinem Stundenplan stand. Es war genau eine Woche her, als ich mit meiner abgetragenen Lederjacke und einer verwaschenen Hose direkt von Paule Wagenpark in den Hörsaal einzog. Seitdem war eine Menge passiert, wovon im Moment am wich­tigsten war, dass sich das große Mysterium "Examen" allmählich zu konkretisie­ren begann. In stundenlanger Fleißarbeit hatte ich sämtliche Einzelheiten analysiert, alle Eventualitäten kalku­liert, jegliche Unvorhersehbarkeit berücksichtigt und glaubte nun zu wissen, was auf mich zu­kam:

An Kompliziertheit unübertroffen war die Wifipo-Klausur. Nicht weniger als vier Profes­soren tummelten sich auf der Wiese der Aufgabensteller. Die Spielleitung Prü­fungsamt war so nett gewesen, diese zu Zweiergespannen zusammenzufassen, was sehr studenten­freundlich war, da man sich bloß für eines dieser Gespanne zu entscheiden brauchte. Meine Wahl stand fest. Aufgrund langjähriger Zusammenarbeit präferierte ich, trotz meiner in diskriminierender Weise verkannten Hausarbeit, das Institut für Finanz­wissenschaften. So gelangte ich intelligenterweise in den Genuss von Skaleneffekten zum Fach ÖV. Dabei nahm ich die Kupplung mit den Verkehrswissenschaftlern und den wei­teren Kontakt mit dem mir nicht so sympathischen Herrn Dr. Fecht in Kauf, inklusive seines Chaosseminars. Ein weiterer Plus­punkt dabei war nämlich das ausgesprochen reichhaltige Stoffangebot, man wollte schließlich nicht dümmer als nötig sterben.

Es handelte sich um für den unwissenden Probanden ohne erkennbaren Zusammen­hang zusammengewürfelte 12 Einzelthemen. Keines mit weniger als 100 Seiten auf der Literaturliste bedacht. Von Studentengruppen zu erarbeiten, weil das Fechti die Arbeit ersparte. Am schönsten an dieser Kombination war, dass zu dem absoluten Spitzenreiter im quantitativen Bereich (was unter dem Wissensdrangargument als positiv zu bewerten war) eine fast lapidare Aufgabenstellung der Finanzwissenschaftler hinzukam.

Hier kursierten drei Entwürfe von Gliederungsschemata mit ungefähr je zwanzig Ord­nungseinheiten mit deren Hilfe zu einem aktuellen Thema ein Sta­tement abzugeben war. Das war einfach. Man brauchte nur die 60 Punkte auswendig lernen, täglich FAZ, Han­delsblatt, Süddeutsche, wöchentlich Zeit und Welt lesen, und dazu nicht einmal 500 Sei­ten parat haben. Die Hälfte dieser unbedeutenden Seitenzahl war vermutlich so­gar für ÖV relevant, was momentan aber nicht sicher war, da eine Literaturliste für dieses Fach nicht existierte. (Ich mutmaßte, dass die Erstellung von zwei Listen in so kurzer Zeit für ein Universitätsinstitut bei der dort zu bewältigenden Aufgabenvielfalt ein unlös­bares Problem darstellte.) Auf jeden Fall erschien die Verbannung jeglichen Finanzstoffes in die Ferne eine geeignete Taktik zu sein, zumal sich dessen Bearbeitung ohnehin in den Ar­beitsgemeinschaften anbot, von denen bislang keine angelaufen war.

Die andere große, unter dem Stichwort AVWL laufende, Herausforderung war äu­ßerlich wesentlich unspektakulärer, dafür inhaltlich umso komplizierter. Hier hatte das Themenstellerpärchen wahrhaftig ein gemeinsames Seminar zustande gebracht. Zumin­dest waren für die nächsten Wochen an bis zum heutigen Tage unbekannten Terminen vier Veranstaltungen geplant, in denen exemplarisch Fallbeispiele gerechnet werden sollten. Wahrscheinlich befürchteten die Verantwortlichen ohne diese Hilfestellung von den Lösungen der Aufgaben zu sehr deprimiert zu werden. Trotzdem beeindruckend.

Eventuell empfahl sich als Beigabe die Vorlesung, der ich letzte Woche als erstes bei­gewohnt hatte. Da aber die außerordentlich gewissenhaft arbeitende Frau Assmann sich für die Teilnahme daran entschlossen hatte, und es mir beim letzten Mal recht langweilig geworden war, hielt ich es für konsequent, dem Ganzen fernzubleiben. So konnte ich heute Morgen die gesparte Zeit gleich in die Bearbeitung der ersten 50 der insgesamt 1500 AVWL-Seiten investieren.

Nun wartete Meister Fecht auf mich, und ich machte mich frohen Mutes auf den Weg. Weil es draußen so schön war, entschied ich mich für das Fahrrad, die Tour dau­erte nicht viel länger als die Busreise. Ungefähr nach einer halben Stunde war ich am Hör­saalge­bäude am Stadtgraben. Diesmal so rechtzeitig, dass ich mich neben Michaela setzen konnte, die ich über die Inhalte der vorangegangenen Vorlesung ausfragte, an der ich selber ja so gerne teilgenommen hätte.

Die folgenden 90 Minuten waren dank ihrer Nähe erträg­lich. Diesmal bekam ich ein Fisherman’s Friend! Nahezu unerträglich war der mich etwas beschämende Umstand, als einziger verschlafen zu haben, dass nicht wie angegeben die externen Effekte sondern die natürlichen Monopole erörtert wurden. Ich hasste Unwissenheit, umso mehr bei Sachen, die ich eigentlich wissen musste. Mein Stundenthema war deshalb, meine Ahnungslosig­keit bezüglich dieser Monopole zu verbergen.

Nach dem Seminar versammelten wir uns, die wir durch das Wahlfach ÖV und die Ex­amenstermine miteinander verbunden waren. In der näch­sten Woche würden Christoph Mattern, Volker Steinhoff, Martin Haim und ich be­ginnen, die Verfassungstheorien zu beleuchten. Darauf die anderen 11 Themen und dar­auf die drei Gliede­rungsschemata. Michaela würde damit in den nächsten Minuten begin­nen, da sie schon verschwunden war. Bettina Claas wollte wenigstens ihren Informati­onsstand bezüglich ÖV ausdehnen, weshalb sie mich beiseite zog und Richtung Institut für Finanzwissenschaften schob.

Als zuständig erwies sich ein Assistent namens Stefan Korte, mit dem ich aufgrund meines Engagements für dieses Institut sehr gut bekannt war. Glücklicherweise blieb mir Kol­lege Schwarz erspart, der mir seit der Betreuung meiner Hausarbeit, nett ausge­drückt, ein Dorn im Auge war.

Herr Korte war der Ansicht, dass wir uns nicht verrückt machen las­sen sollten. Er hätte sich mit dem Problem Klausur bisher gar nicht beschäftigt, wollte das zwar in den nächsten Wochen tun, aber bis Ende Februar wäre ja Zeit. "Oder?" vergewisserte er sich. Ihn interessierte vielmehr ob Bettina und ich eine Arbeitsgemeinschaft bildeten und warum Martin Haim nicht dabei war, der seines Wissens dritter im Bunde wäre.

Aus Bettinas Mund sprudelte zu der ersten Frage ein entschiedenes "ja", zu der zwei­ten die energische Feststellung, dass Martin sich alleine vorbereiten wollte, wovon ich das erste Mal in diesem Moment hörte.

Als wir beide wieder draußen waren, begann sie sich über Korte aufzuregen. Beson­ders unverschämt fand sie, dass er nicht einmal den Klausurtermin kannte. Außerdem hätte er schlechte Manieren. Als sie vor kurzem bei ihm war, hätte er ihr nicht einmal einen Stuhl angeboten. Ich meinte, dass ich gewöhnlich sogar einen Kaffee bekäme. Auf jeden Fall hätte es den Kasper überhaupt nicht zu interessieren, wer mit wem zusammen lernt.

Auf dem Weg zu unseren Fahrrädern, die zufällig nebeneinander standen, fingen wir beide an zu lachen. Ich hätte sie jetzt gerne auf eine Tasse Kaffee eingeladen, aber sie hatte es eilig.

"Vielleicht später", lächelte sie und fuhr los. Dabei fand ich sie mit ihren Sommer­sprossen richtig niedlich.

Am nächsten Tag mischte ich mich unter eine wilde Horde von BWLern, die sich vor ei­nem der unzähligen Marketinglehrstühle tummelte. Ich war in einer Mission im Auftra­ge Esthers unterwegs, für die ich eine mündliche Prüfung anhören sollte, was ihr selber nicht gestattet war.

Vorsichtshalber postierte ich mich in der Nähe der Falltür der Arena, falls drinnen nicht genügend Ränge für die Schaulustigen vorhanden sein sollten. Zwar gab es keine brüllenden Löwen, aber immerhin einen bösen Professor, der auch äußerst gefährlich werden konnte. Die Tür öffnete sich, und zwei Gestalten mit undefinierbaren Gesichts­ausdrücken kamen heraus. Respektvoll wich der Mob vor den überlebenden Gladiatoren zurück. Die beiden hatten von ihrem Publikumsverzichtungsrecht Gebrauch gemacht, wovon sie im Moment nichts mehr hatten, da sie sofort mit Fragen durchlöchert wurden. Ich dachte nur: "Die Armen", und hoffte, dass mir ein solches Spektakel erspart bleiben würde. Als nächstes er­schien einer der Beisitzer im Türrahmen und rief die nächsten Unglücklichen auf. Die junge Dame im schwarzen Kostüm und der Herr in der blau-roten Kombination, die unbeachtet von der Meute etwas im Abseits gewartet hatten, traten nun hervor. Dahinter schob sich der Mo­loch herein. Ich wurde auf ein ausgesessenes altmodi­sches Sofa gepresst, das eigens für uns nebst ein paar Stühlen aufgestellt worden war. Es gab fünf weitere Stehplätze zu vergeben, der Rest der Fangemeinde musste draußen blei­ben.

Als erstes wurden die Namen der beiden Probanden festgestellt und an Hand ihrer Studen­tenausweise überprüft. Danach die Bemerkung, dass alles einfach sei, wenn man gut vorbereitet wäre. Wovon ja auszugehen sei.

Die erste Frage war inhaltlich tatsächlich nicht schwer: "Wer möchte denn anfangen?"

"Ladies first, wenn sie damit einverstanden sind", wusste der junge Mann sich als Gentle­man aus der Affäre zu ziehen.

Das war allerdings für das nächste die letzte Antwort, die er wusste. Seine Partnerin hatte ihm den Vortritt gelassen, worauf er sich über die Problematik der Abgrenzung des rele­vanten Marktes auslassen musste. Mir fielen dazu pauschal die Trifinischen Koeffizi­enten ein, und ich glaubte mich an ein Industriekonzept von Alfred Marshall erinnern zu können. Der, der es wissen sollte, wusste dazu nichts. Trotz meines Stolzes unvorbereitet mit gestande­nen BWLern konkurrieren zu können, fand ich die Situation beklemmend. Die restlichen Zu­hörer schienen das ebenso zu empfinden, da es plötzlich totenstill ge­worden war.

Der weibliche Prüfungsteil legte sich augenscheinlich eine Antwort zurecht. Doch sie sollte nicht besser davon kommen. Das Wort wurde zwar weiter gegeben, aber die er­warteten Worte waren nicht mehr die gleichen. Letztendlich wusste sie genauso viel wie er, nämlich nichts. Am Ende klärte der neugierige Fragensteller alle Lösungen seiner Rät­sel selbst auf, die ich mir eifrig notierte, damit es Esther nicht genauso wie den bei­den erginge, die mir irgendwie leid taten.

Mit gemischten Gefühlen wählte ich am Abend ihre Nummer. Am Vortag hatte sie ihre erste Prüfung gehabt. Hoffentlich war sie einigermaßen zurechtgekommen.

"Hallo", erklang es am anderen Ende mit fast weinerlicher Stimme.

"Ich bin es. Geht es nicht gut?"

"Weiß nicht, viel zu tun. Bevor du fragst: Mit dem gestern war ich nicht zufrieden, un­ter Umständen hat es aber trotzdem geklappt."

"Bestimmt! Ich habe vollstes Vertrauen in dich!"

"Sagst du so."

"Ja, ich muss das wissen, ich weiß schließlich auch das Erfolgsrezept für ABWL (allgemeine Betriebswirtschaftslehre). Aber trotzdem, erzähl erst mal. War es sehr schlimm?"

"Ja!"

"Wirklich?"

"Vielleicht nicht ganz so schlimm. Mittendrin musste ich über seine Schuhe lachen, der Idiot hatte Sandalen an", prustete sie schon Hoffnung versprechender.

Darauf erzählte sie die genauen Einzelheiten. Sie brauchte in diesem Fach eine Vier um zu bestehen, was normalerweise eine Formsache war. Die Einleitungsfragen hatte sie ohne weiteres gewusst, doch danach war sie immer schlechter geworden. Ich meinte, dass sie ja nicht unbedingt mit einer Eins oder Zwei rechnen brauchte, die Vier aber geschafft haben müsste.

Das beruhigte sie ein wenig. Danach teilte ich ihr meine heutigen Erkenntnisse mit und bemerkte nebenbei, dass die beiden in dieser Prüfung auf jeden Fall schlechter als sie ge­wesen waren, wo­durch sie sich fast normalisierte.

"Ich drücke dir dann morgen die Daumen, es wird schon klappen. Viel Glück!" verab­schiedete ich mich.

Alles in allem gab mir der heutige Tag zu denken. Was für Noten die beiden am Nachmittag bekämen? Meine Vermutung darüber war mit Unbehagen ver­bunden. Meine Gedanken an Esther ebenso. Es war unwahrscheinlich, dass sie morgen die gleichen Fra­gen gestellt kriegte, und ich wusste, dass sie wegen ihrer insgesamt drei Prüfungen nicht allzu gut vorbereitet war. Nächste Woche entschied sich alles. Am Montag ihre dritte, hoffentlich letzte Prüfung, am Freitag die Ergebnisse und bis dahin diese unangenehme Ungewissheit, die jeder Student hasste. Ich war froh, nicht in ihrer Haut zu stecken.

Für mich war die Woche ereignislos.

Am Montag versammelte sich das erste Mal unsere Wifipo-AG. Auf drängen der zwei Herren aus Gievenbeck wurde Christophs Wohnung zum Veranstaltungsort ernannt. Dies erwies sich als kluge Entscheidung, da seine neue Mitbewohnerin eine exzellente Köchin war und uns mehr als ausreichend mit Kaffee und selbstgebackenem Kuchen er­freute. Inhaltlich kamen wir zu dem Ergebnis, dass unsere Verfassungstheorien ein ver­gleichsweise mageres Thema waren, für dessen Präsentation vier Referenten im Grunde genommen drei zu viel wa­ren. Nach ausgeprägter wissenschaftlicher Analyse gelang es uns dennoch, eine sinnvolle Drei­teilung für den Vortrag zu entwickeln, was eine heftige Diskussion darüber auslöste, wem es zuzumuten sei, auf eine Darstellung zu verzichten. Als wahre Männer von Welt wollten wir uns selbstverständlich alle opfern, weshalb wir das Los entscheiden ließen. Wie das Schicksal so spielte, verlor ausgerechnet ich die Ausspielung, trotz der Leitungsübernahme der Tombola.

Am Freitag schellte gegen 17.00 Uhr das Telefon: Esther.

"Bestanden!" jubelte sie, und bevor ich etwas sagen konnte, plapperte sie los:

"In VWL und Finanzen die Vier bestätigt. Rat was ich in ABWL hab!"

"Keine Ahnung, vermutlich was besseres?"

"Ja: Und zwar eine glatte Zwei! Weißt du auch, was er gefragt hat?"

"Doch wohl nicht über Marktabgrenzungen etwa?"

"Doch, genau das. Genial nicht, jetzt hab ich insgesamt ein gutes befriedigend. Gleich wird erst einmal gefeiert. Wenn du Lust hast, kannst du auch kommen, ich muss dir jetzt wohl sowieso etwas spendieren."

Lust auf Abwechslung verspürte ich schon. Da ich aber seit einer Woche ein braver Ex­aminand war, der zwischen Büchertürmen und Blätterhaufen lebte und nur selten seine Klause verließ, hielt ich es für notwendig, ihr abzusagen. Ich verspürte nur geringes Verlangen nach überhaupt einer Ergänzungsprüfung.

"Herzlichen Glückwunsch, erst einmal. Mit dem Feiern tut mir leid. Im Moment kann ich hier nicht weg. Ich wünsche dir aber trotzdem viel Spaß. Lass dich nicht von fremden Männern ansprechen, die könnten böse Absichten haben."

"Blödmann! Ich bin jetzt Diplom-Kauffrau und kann auf mich selber aufpassen..."

"Konntest du das vorher nicht?"

"Oberblödmann! Noch ein Wort und du kriegst von mir nichts mehr ausgegeben!"

"OK! Das überzeugt mich. Also noch mal: Viel Spaß, und tschüs."

"Also bis demnächst. Ich erzähl dir dann von meiner heutigen Nacht, und tschüs"

Bevor ich ihr das dritte Mal "viel Spaß" wünschen konnte legte sie schnell auf.

Heute gönnte ich ihr das letzte Wort. Außerdem war ich froh, dass sie nun alles ge­schafft hatte.

Mein Leben im November als Worcoholic missfiel mir. In den nächsten Wochen fragte ich mich mehr und mehr, wie es Hieronymus Zeit seines Lebens in seinem Gehäuse aus­gehalten hatte. Mein tägliches Pensum von 80 bis 100 Seiten begann mich rasch zu lang­weilen. Beson­ders penetrant: Kein einziger Schritt mehr ohne Literatur. An Tisch und Bett, in Auto und Bus, in der Mensa, bei der Arbeit, beim Putzen, beim Kochen, beim Essen, beim Biertrinken, beim Fernsehen, beim Duschen, beim Einschlafen, einfach bei allem, wobei eine Hand frei war, begleiteten mich die Bücher, und wenn keine Hand frei war, resümierte ich in Gedanken das gerade Gelernte. Und nachts, wenn ich schlief, träumte ich davon.

Wenige willkommene Abwechslungen waren das wöchentliche Kaffeekränzchen schräg gegenüber bei Miriam und die vereinzelten Anrufe Esthers. Sie hatte nun ihre näch­ste Lebensaufgabe gefunden, die Planung ihrer Examensfeier mit Harald Köhler. Ein ausgiebiges Thema.

In der Mitte des Monats kündigte ich bei meiner Autovermietung, vorsichtshalber mit der Option, im nächsten Jahr wieder einsteigen zu können. Ein bisschen hatte ich den Eindruck, dass Paule mich vermissen würde, er regte sich gegen seine Gewohnheit nicht einmal auf und wünschte mir ehrlich viel Glück.

Eine weitere "Abwechslung" war die montägliche Wifipo AG bei Christoph. In der vor­ausgehenden Woche dachte man bezüglich natürlicher Monopole, externer Effekte, Informati­onsasymmetrien, in Anpassungsmängeln und Irrationalitäten, sowie in der neuen politischen Ökonomie und in Wettbewerbsrecht und -theorie Experte zu sein. Außerdem begann man sich unter dem ökonomischen Liberalismus und der Versorgung mit Kollek­tivgütern etwas vorzu­stellen. Und man war stolz auf sich, etwas verstanden zu haben. Doch all dieses nutzte ab montags wenig: In angenehmer Viererrunde wurde man bei Kaffee und Kuchen zunächst irri­tiert und dann am nachfolgenden Dienstag in unange­nehmer Großrunde bei Fechti zum Dep­pen degradiert.

Anfang Dezember, an einem nasskalten Tag mit Schneeregen, stand unsere Nummer mit den Verfassungstheorien auf dem Programm. Bei der Generalprobe am Montag konnte ich dank meines Lospeches zum (noch) mäßigen Är­ger der anderen die Rolle des kritischen Intendanten übernehmen. Am Dienstag übernahm der Doktor persönlich diese Funktion.

Martin Haim hielt den ersten Monolog zum Komplex van Hayek. Ich machte mich auf ei­nem Logenplatz in der letzten Reihe neben Michaela Assmann breit und tat so, als ob mir die Referenten völlig fremd wären.

"Warum machst du denn nicht beim Vortrag mit? Ihr seit doch eine AG, oder?" musste sie unbedingt laut hörbar wissen. "Weil ich es drauf habe", fiel mir pauschal Paules Spruch ein, wobei gerade der mich bis vor zwei Wochen täglich drei bis viermal genau daran zweifeln ließ.

Volker Steinhoff war der Hauptdarsteller des zweiten Aktes zum Fall Buchanen. Im Gegen­satz zu seinem Vorgänger gab es keine Standing Ovations. Herr Fecht erhob sich zum An­tagonisten und bestand darauf (meines bescheidenen Wissens nach) im Wider­spruch zu jegli­cher in der Literatur vertretenen Meinung, dass eine hypothetische Quanti­fizierung von defini­tiv nicht quantifizierbaren Kostenfunktionen in public choice Model­len nicht sinnvoll wäre. Weiterhin wehrte er sich entschieden gegen die Ausführungen bezüglich der Rawlschen Ur­abstimmungssituation unter dem Aspekt der mangelnden Betonung der fehlenden Kenntnis bzw. Unkenntnis der Stimmberechtigten hinsichtlich der potentiellen Szenarien.

Derweil fragte ich in der hintersten Reihe Michaela, ob sie mit Bettina Claas in der letzten Zeit Kontakt gehabt hätte, da ich sie die letzten zwei Wochen nicht gesehen hatte. Martin hatte mir nämlich gestern eine Kopie der nun doch veröffentlichten ÖV-Literatur­liste mitgebracht, und meine Grundstudiumszeit kam mir ins Gedächtnis. Bettina wäre nicht die erste Kommilitonin, die von einem zum anderen Tag verschwunden gewesen wäre.

Michaela meinte, letzte Woche mit ihr gesprochen zu haben. Sie, die Frauen, würden sich nämlich auch in einer AG, mit zwei anderen (Herren), mit denen Bettina bereits im Sommer zusammen gelernt hätte, für Wifipo vorbereiten.

Wer das wohl sein sollte?

Volker tauschte sichtlich erregt nach seinem Disput mit dem Mann vom Fach in der ersten Reihe mit Christoph den Platz, wo er mit Martin die Debatte fortsetzte. Fecht er­bat sich, mit geziel­t bösem Blick auf ihn, unbedingte Ruhe für den letzten Referenten, der hoffentlich weniger Fehler machen würde.

"Zuerst möchte ich meinen Standpunkt darstellen, danach stehe ich gerne für Fragen und berechtigte Kritik bereit", begann Christoph. Eine gelungene Einleitung. Das Publi­kum klatschte, Fecht meinte, er solle zum Thema kommen.

In sei­ner Galanterie ignorierte er die Eingangsbitte einfach. Keine drei Minuten bis zum ersten Einspruch. Danach durfte Christoph unge­fähr fünf Minuten weiter sprechen. Aus dem von uns als Gruppendiskussion konz­ipierten Beitrag wurde ein Vortrag des Mei­sters. Glücklicherweise konnte oder wollte niemand mehr zuhören, da die allgemeine Proteststimmung von einer Aufbruchs­timmung abgelöst wurde. Zum Schluss blubberte er den obligatorischen Hinweis auf die Klausur, die ohne das gerade Angeführte unlösbar sei.

"Ja dann viel Spaß", sagte ich zu Michaela.

"Nehmt das ja nicht persönlich", meinte sie beschwichtigend.

Eine Viertelstunde später versammelten wir uns zur Abschlussbesprechung bei Bölling. Andrea Reimann, die sich inkognito unter die Zuhörerschaft gemischt hatte, fragte, ob das jedes Mal so ablaufen würde und nahm Christoph mitleidig in ihre Arme. Michaela fand es heute im Vergleich zu anderen Veranstaltungen eher harmlos und wollte sogar weitere Einzelheiten zum Thema wissen. Vier unmissverständliche Blicke richteten sich auf ihr hübsches Gesicht, worauf sie die Einzelheiten doch nicht mehr so interessierten. Bevor sich drei Blicke auf mich richteten, bot ich ihr an, mich in die Bibliothek zu beglei­ten, was sie vorsichtshalber tat.

Am Abend lockte mich das vertraute Klingeln meines Telefons unter ei­nem faszinie­rend nach VWL duftenden Papierhaufen hervor: "Hallo, Bettina Claas hier, deine ÖV AG. Es gibt interessante Neuigkeiten", meldete sich zu meiner Überraschung die Vermisste.

"Hei! Gibt es dich auch noch? Lass mich die Neuigkeiten mal erraten: Herr Schwarz ist ge­storben?"

"Leider falsch", lachte sie, "jedenfalls weiß ich nichts davon. Lieber wäre mir auch wenn der Kasperkopf Korte stirbt, der es jetzt immerhin geschafft hat, eine Literaturliste herauszu­bringen."

"Schön, weiß ich sogar bereits."

"Das ist gut, dann können wir ja jetzt loslegen. Hast du eigentlich schon irgendwas ge­tan?"

"Bis jetzt noch nicht, auf blauen Dunst zu lernen ist bei der Gesamtmenge mit den an­deren Fächern nicht mein Ding. Obwohl: Vieles überschneidet sich mit Wifipo. Ein In­sider­tip soll übrigens das Blockseminar sein, das nächsten Montag ist."

"Habe ich auch gehört."

"Meistens kommt in der Klausur eines der Themen davon dran, diesmal könnte ich mir vorstellen, dass wir mit Kohle- oder Agrarsubventionen beglückt werden."

"Nein, hoffentlich nicht. Davon hab ich ja gar keine Ahnung", jammerte sie.

"Das kriegen wir schon hin", beteuerte ich und vereinbarte für Freitag unseren ersten AG-Termin.

"Der Korte ist mir richtig unsympathisch", klagte sie weiter, "der denkt sich bestimmt was aus, was ich nicht kann. Ist der wohl mit jemanden leiert?"

Jetzt musste ich den Telefonhörer in die andere Hand wechseln. "Auch wenn du dir das nicht vorstellen kannst, sogar mit jemandem, der die Herzen aller VWLer höher schlagen lässt, einer sehr ansprechenden Assistentin am Institut für Verkehrswissen­schaft."

"Hoffentlich hat er die nicht Fecht ausgespannt", ging es weiter, "der Kerl ist nämlich als Charmeur noch weniger geeignet. Bei Schwarz im Büro hängt übrigens ein nettes Foto."

"Das muss seine Schwester sein."

"Irrtum, die Frau gibt es wirklich, jedenfalls habe ich die beiden schon Hand in Hand auf dem Prinzipalmarkt gesehen, ein schönes..."

"Entschuldige bitte, aber was du auch sagen möchtest, ich möchte es nicht wissen."

"Wieso denn nicht? Die beiden passen richtig zueinander."

"Wie ein Deckel auf den Topf."

"Du hast eben keinen Sinn für so etwas."

"Vielleicht unterschätzt du mich da", kritisierte ich sie herausfordernd.

Darauf tuschelten wir fast eine halbe Stunde. Merkwürdig wie die Zeit verging, sie philosophierte über Beziehungen, Assistentenglück und das Heiraten, und ich hörte zu. Dann überkam uns der Ernst des bitteren Examinan­denlebens, und wir glaubten, uns wichtigeren Dingen widmen zu müssen.

"Tschau, bis Freitag."

"Tschau, Betti", und unser erstes Telefongespräch war beendet.

Drei Tage später besuchte ich sie zur AG in ihrer Wohnung in Münster Mecklenbeck. Sie hatte mich bereits beobachtet und drückte den Türöffner, bevor ich schellte. Im ersten Stock war ihr Ap­partement. Einladend lächelnd stand sie in der Tür: "Hallo, Till!"

"Hallo", lächelte ich zurück und schaute mich um.

Sie hatte ein großes Zimmer. Hin­ter der nach außen gerichteten Fensterwand war ein Balkon, der wegen des Herbstes traurig wirkte. An der rechten Seite eine kleine Küche, ein angedeutetes Entree und das Bad. Ihre Einrichtung fand ich ein wenig bunt durcheinander gewürfelt, außerdem herrschte beträcht­liche Unordnung. Dazu passend warf ich meine Jacke neben einen Stapel Süddeutscher Zei­tungen auf ein blau-rot gemustertes Faltsofa, auf dem der Hase Hops und der Heinzelmann Moritz wohnten. Auf dem Tisch davor: Unzähligen Blätter, eine Obstschale, ein Teller mit Kinderschokoladenbonbons und diverse weitere Zeugnisse einer überfälligen Unaufgeräumtheit. An ihrer Küchentür fiel mir ein Poster mit einem langhaarigen blonden Mädchen in einer Lederjacke auf, das mich freundlich über einem Frühstückstisch anlachte. Ihr weiteres Mobiliar bestand aus alten Kommoden und Schränken, die vermutlich schon ihren Großeltern gute Dienste erwiesen hatten.

Betti schob mir einen ihrer Stühle zu und fragte, ob ich Orangensaft oder Wasser trin­ken möchte. Ich entschied mich für einen Kaffee, falls das keine Umstände machte.

"Macht es nicht!" verschwand sie in ihrer Küche. Als sie wiederkam, machte sie es sich in ihrem exquisiten Chefsessel bequem: "Lass uns einfach anfangen", sagte sie.

Ihre Beine zog sie ganz zusammen, und weil sie so klein war, passte sie dadurch genau in den Sessel, in dem sie sich zusätzlich in eine Wolldecke einrollte.

"Hast du schon die komplette Literatur?" fragte sie als nächstes und kramte ihre Liste aus einer Ablage ihres im Gegensatz zum Zimmer auffällig gut sortierten Schreibtisches hervor. "Ich habe leider bisher nicht allzu viel gemacht", gestand sie beinahe mit einem schlechten Ge­wissen.

"Ich auch nicht. Zuerst sollten wir einmal die Liste durchgehen und nach Relevantem und weniger Relevantem ordnen. Danach können wir ein Konzept für unser weiteres Vorgehen er­stellen", schlug ich vor.

Nach kurzer Zeit merkte ich, dass sie inhaltlich nicht sonderlich fit war. Ich fragte mich ernsthaft, was sie drei oder vier Semester lang in den Vorlesungen gemacht hatte und begann mit einem Vortrag über den allgemeinen Finanzausgleich, eines meiner Lieblings­themen. Sie servierte mir derweil meinen Kaffee und hörte aufmerksam zu, wobei ihre blauen Augen mich immer irritierter anschauten: "Meinst du, dass ich auch die Klausur schaffen kann?" fragte sie richtig ängstlich nach einer Weile.

"Ich fürchte fast nicht", lag mir auf der Zunge, was ich gerade unterdrückte.

Beinahe schämte ich mich, mit dem einzigen mir vertrauten Thema, den Eindruck er­weckt zu haben, total gut vorbereitet zu sein: "Bestimmt, wir haben genug Zeit, und so­viel Stoff ist es doch gar nicht. Außerdem sagtest du, bisher nicht viel gemacht zu haben. Wenn du dich erst einmal eingelesen hast, klappt das schon", versuchte ich sie aufzumun­tern.

"Meinst du?"

"Ja, ganz sicher! Und jetzt überlegen wir, womit wir nächste Woche richtig einstei­gen."

Gemeinsam machten wir einen Plan. Wöchentlich nahmen wir uns einen Aufsatz vor, den wir dann zusammen besprechen wollten. Zum Ende dachten wir, wäre es sinnvoll, probe­weise einige Mustergliederungen für potentielle Klausurfragestellungen zu entwer­fen, und für das erste verabschiedeten wir uns bis Montag zum Blockseminar.

Dieses Seminar schien auch im Einvernehmen mit Martin Haim so eminent zu sein, dafür sogar unsere Montags-AG ausfallen zu lassen. Als Gastorator war einer der ehe­maligen Pro­fessoren extra aus den neuen Bundesländern angereist, der es derweil in den Hierarchien unse­res Staates weit gebracht hatte. Korte & Co. gaben sich deshalb größte Mühe für ein adäquates Ambiente zu sorgen. Als Buffet gab es frisch gestrichene Bröt­chen mit Käse und Schinken, dazu Mineralwasser und heizungswarmes Krombacher. Prost!

Ein etwas penetranter Kommilitone, der in irgendeiner Kleinstadt als JUler aktiv sein musste, konnte seinen Profilierungstrieb nicht unterbinden und stellte permanent intelli­gente Fragen, die eigentlich seinem IQ widersprachen. Glücklicherweise heiterte mich Martin, der neben mir saß, mit nicht ganz zum Thema passenden Anekdoten auf. Dazwi­schen Kohlepfennig und Agrarsubventionen.

Nach zwei Stunden war endlich Pause.

Martin und mich zog es nach Bölling. Dort, vor der Tür, mussten wir feststellen, dass aus­gerechnet heute der vermutlich einzige Tag war, an dem aus irgendeinem Grund ge­schlossen war.

"Dummköpfe!" hieß es von einer mir wohl bekannten Frauenstimme hinter uns.

Das braunhaarige Wesen entlockte Martin ein Pfeifen und mir die Bemerkung: "Dumm ist, wer im Winter halb nackt herumläuft."

Bevor Esther etwas sagen konnte, ergänzte ich: "Ich bin kein Blödmann."

"Dann eben ein Idiot, „ lachte sie, "was hast du denn hier zu suchen? Wir haben uns ja lange nicht mehr gesehen."

"Immerhin bin ich Student. Ich befürchte fast, dass mein Aufenthalt hier legitimer als deiner ist."

"Glaube ich nicht. Ich habe die Einladungen für meine Examensparty kopiert, was du erstmal schaffen musst. Du bist aber jetzt der erste, den ich einlade."

Darauf drückte sie mir einen Seidenumschlag mit meinem Namen in die Hand und ver­schwand, Martin mit ihrem sündigsten Schlafzimmerblick anhimmelnd: "Du bist natürlich auch eingeladen."

"Wer war denn das?"

"So was ähnliches wie Verwandtschaft."

Wir gingen zum Institut zurück. Oben in der Bibliothek, in der das Seminar stattfand, traf ich Betti in den Katalogen wühlend.

"Schaust du nach ÖV?"

"Ja, ich hab dir doch gesagt, dass ich kaum was habe", erwiderte sie etwas verlegen auf ih­re Liste schauend.

"Haben Sie die zweite und dritte Seite der Liste gar nicht bekommen?" stand plötz­lich Korte zwischen uns.

Betti blickte mit offenem Mund auf.

"Ich habe mich schon gewundert, dass das nur so wenig ist, ich fühle mich richtig un­terfor­dert", konterte ich und versetzte ihm einen Rippenstoß.

"Kommt, es geht weiter", grinste er und entschwand Richtung Brötchenbuffet.

Zu Betti sagte ich: "Wenn du magst, kannst du den Kram von mir bekommen, dann brauchst du dir nicht alles einzeln zusammenzusuchen."

"Wirklich?" Fragte sie in einer einmaligen Mischung aus Unglauben und Ängstlichkeit.

"Klar, ich bring dir das morgen ins Seminar bei Fechti mit."

"Das ist lieb“, meinte sie, überlegte einen Moment und sagte: "Ich habe aber erst am Abend Zeit, darf ich mir das auch bei dir zu Hause abholen?"

"Wenn du meinst, meine Adresse hast du ja. Jetzt komm aber!"

Erleichtert fragte sie auf dem Weg zu unseren Plätzen: "Willst du nicht herüber kom­men, neben mir ist noch frei? - Weißt du, dem Kasper Korte hätte ich gar nicht soviel Hu­mor wie eben zu­getraut", kicherte sie weiter.

Part two der Sitzung wurde neben Betti richtig angenehm. Der offizielle Teil mit den Sub­ventionen wurde bald durch eine nette Plauschrunde mit Ministerbeteiligung abge­löst. Bettis Sarkasmus ließ sogar die Penetranz des JUlers komisch erscheinen, der gro­ßen Wert auf eine wortlautgetreue Erörterung eines Zitats des Bundespräsi­denten im Rahmen einer Chilereise legte. Die zweite Runde Krombacher (bereits etwas abgekühlt) sorgte für weitere Gemütlichkeit. Lediglich die kulinarische Seite ließ zu wünschen übrig. Rein zufällig trafen sich die beiden Brötchentabletts vor Korte und Schwarz, die fleißig um die Wette futterten. Betti zählte fünf zu vier für Schwarz und wettete, dass der Kasperkopf mit dem letzten Käsebrötchen den Ausgleich schaffte. Zwanzig spannungsgeladene Minuten warteten wir bis bei einem der Hunger über den Anstand siegte. Dann zeigten sich die wahren Charaktere. Schwarz war es, der unter dem Jubel der Menge, dessen Ausmaß ihn ungemein irritierte, seinen Sieg perfektionier­te.

Insgesamt war es ein netter Nachmittag geworden. Nach der Veranstaltung schwatz­ten wir fast eine Stunde vor dem Institut in verkleinerter Runde weiter.

Am nächsten Tag stand wieder einmal das Special-Seminar auf dem Programm, das sich dies­mal von seiner angenehmen Seite zeigte, da der große Meister nicht da war.

Abends gegen 17.00 Uhr tauchte Betti mit ihrem "Hallo, Till" vor meiner Tür auf.

Kritisch musterte sie meine Einbauküchenvorrichtung und schaute sich den Rest meiner Räumlichkeiten an. Von meinen Büchern war sie begeistert: "Toll", kommen­tierte sie und fing an, einzelne Stücke zu studieren. Den "geteilten Himmel" von Christa Wolff (ich erinnerte mich an eine meiner ermüdensten Schullektüren) wollte sie immer schon mal gelesen haben. Nach einer Weile überraschte sie mich mit der Frage, ob ich als Lei­stungskur­se im Abitur Kunst und Geschichte gehabt hätte, womit sie fast richtig lag. So erzählten wir uns gegenseitig von unserer Schulzeit und unendlich vielen Dingen mehr.

Sie kam aus der Nähe von Kassel, vom Dorf, wie sie es be­zeichnete und war umso erstaunter, dass ich den Ort kannte. Geboren war sie in Göttingen, kurz bevor ihr Vater seine Promotion in Jura abgeschlossen hatte. Später hatte sie in München gelebt und sogar einige Jahre in der Schweiz, bevor ihr Vater eine Geschäftsführerposition in Kassel bekam.

Meinen Lebenslauf fand ich dagegen langweilig, da es mich räumlich nicht allzu weit herumgeführt hatte. Mit meinen ersten Jahren in der Ruhrpottmetropole Dortmund und meiner Jugend in einem kleinen Kaff zwischen Münster und Dortmund fürchtete ich etwas kläglich dazustehen. Dafür konnte ich von interessanten Ur­laubsreisen und Aktivitäten wie Outdoor-Trecking und Kartfahren berichten.

Sie hatte ein Faible für Kindheitsgeschichten. Eine ihrer ersten Urlaubsfahrten hatte sie an die Nordsee geführt. Leider nur für ein paar Tage, da sie und ihr einige Jahre jün­geres Schwesterchen der Erwachsenenwelt eher negativ aufgefallen waren. Eigens wurde für die Kleinen ein Nutellaglas beim Frühstück mitgedeckt, und diese hatten, statt aus Dank­barkeit besonders liebe Kinder zu sein, nichts besseres zu tun, als die Tischdecke mit ihren Nutellafin­gern als Servierte zu missbrauchen. Ein Riesenskandal.

Auf jeden Fall schien Bettis erster Urlaub für sie im Gegensatz zu mir heute weniger amüsant gewesen zu sein.

Draußen war es mittlerweile dunkel. Als ich die Vorhänge zuzog, erinnerte ich daran, dass sie eigentlich kopieren wollte: "Wahrscheinlich hat der Copyshop jetzt sowieso schon zu", vermutete ich, und wir versanken erneut in der Vergangenheit.

Sie saß auf meinem Bett. Ihre Schuhe hatte sie mit der Zeit ausgezogen und nebenein­ander davor abgestellt. Mit beiden Händen hielt sie ihre Tasse mit Tee und erzählte munter vor sich hin. Ich hatte es mir dicht neben ihr auf meinem Drehstuhl bequem ge­macht und versorgte uns ab und an mit neuen Getränken. Dabei legte sie irgendwann ihr Füße auf meine Knie.

Als sie fahren wollte, war es weit nach acht Uhr.

Ich sagte ihr, dass sie die Sachen bis morgen mitnehmen könnte, und während sie im Flur stand und endgültig los wollte (es dauerte fast 5 Minuten bis sie zur Tür gekommen war) schlug ich ihr vor: "Wenn du früh hier bist, können wir zusammen frühstücken."

Sie lächelte: "Gerne, tschau, bis dann", und entfernte sich zum Treppenhaus.

Während ich ihr nachschaute, dachte ich, ob ich jetzt vollkommen blöd sei und nichts Wich­tigeres zu tun hätte als diesen wandelnden Meter zum Frühstück einzuladen. Aller­dings musste ich zugeben, dass ich nichts dagegen einzuwenden gehabt hätte, wenn sie länger geblieben wäre. Sie war mir richtig sympathisch geworden.

Den Rest des Tages quälte ich mich durch einen 15 Seiten Aufsatz über Subventions­politik, der nicht allzu viel Sensationelles hergab. Außerdem war ich unkonzentriert, meine Gedanken kreisten in meiner und Bettis Lebensgeschichte. Gegen 23.00 Uhr ent­schied ich mich für eine Dusche und danach für mein Bett.

Lange lag ich wach. Ich erinnerte mich an meine Semestervorsätze. Da war etwas von einem geregelten Privatleben mit fester Beziehung gewesen, und je länger ich darüber grübel­te, desto mehr wurde mir bewusst, dass ich mich im Grunde einsam fühlte. Aber wer war die Richtige?

Bilder von Frauen, die in meinem Leben eine Rolle spielten oder gespielt hatten, kamen in mir hoch. Meinen äußeren Ansprüchen entsprach ohne Zweifel momentan Michaela Assmann als er­stes. Obwohl ich sie einerseits nett fand, hielt ich sie andererseits für etwas komisch. In der Zeit, in der ich sie kannte, hatte ich mich fast ausschließlich über Universitätsin­ternes mit ihr unterhalten, über ihr Privatleben wusste ich rein gar nichts. Möglicherweise gab es ja jemanden in ihrem Leben, der ihr mehr als jeder andere bedeutete. Ich wusste es nicht, dachte aber, dass es schön sein müsste, wenn sie jetzt neben mir läge und meine Brust als Kopfkissen benutzte, und ich den Geruch ihrer braunen Locken einatmen könnte. Vorsichtshalber verdrängte ich diese Illusion und erinnerte mich an die zierliche Tatja aus Budapest, mit der ich meine letzte Liebesnacht verbracht hatte.

Längst vergessene Gesichter waren plötzlich vor meinen Augen: Schulfreundinnen, Urlaubsbekanntschaften, Diskoflirts, fremd­gewordene, einst so wichtig erschienene Per­sonen, die nun nur Erinnerung waren. Dann war da Miri, mit ihren aufregenden roten Haaren. So faszinierend ich sie in vielen Dingen fand, war mir klar, dass mehr als ein Kaffeekränzchen zwischen uns nicht stattfinden würde. Anja Steinbach, die ich am Se­mesteranfang beim Verein für Socialpolitik kennengelernt hatte, hätte ich gerne wieder­getroffen. Aber ich hatte sie danach sofort aus den Augen verloren.

Nächstes Wochenende war vierter Advent und am Samstag Esthers Examensfeier. Diese war dank des Organisationstalents von Herrn Köhler im Partykeller des Nachbar­wohnheims. Es könnte ein vielversprechendes Wochenende werden, wenn nicht diese Examenszeit wäre.

Auf meinem Wecker lächelte mich eine große Eins als erste Ziffer an. "Langsam soll­test du schlafen", murmelte ich zu mir selbst. Aber Betti schaute mich plötzlich mit ihren blauen Augen durch ihre Sommersprossen an. Ich erinnerte mich, wie sie am Nachmittag auf meinem Bett saß. "Knuffelchen" wäre der passen­de Name für sie. Mit diesem Gedan­ken schlief ich ein.

Ich hatte einen ominösen Traum. Ich befand mich im Eingangsbereich des Wohnhei­mes. Ein rothaariges Mädchen war bei mir, von dem ich wusste, dass es trotz der Haare Esther war. Wir standen dicht nebeneinander und umarmten uns. Ihre Hände verschwan­den in meiner Ho­se. Ich fühlte mich die ganze Zeit beobachtet, konnte aber niemanden erkennen, obwohl ich genau spürte, dass wir nicht alleine waren. Trotz meiner Erregung wachte ich mit einem unguten Gefühl auf, und sofort war Betti vor mir.

"Scheiße", rutschte es mir heraus. Meine Uhr zeigte einen Stand von 3.32 Uhr an. Ich hatte also keine zwei Stunden geschlafen, fühlte mich hellwach und machte mir über mein psychisches Befinden ernsthafte Sorgen. Ein Contreau aus einem großen Glas ver­schaffte Abhilfe, trotzdem dauerte die Nacht für mich nur bis 6.02 Uhr. Mit Betti, die sich gestern als Frühaufsteherin enttarnt hatte, rechnete ich ab halb neun. Zweieinhalb Stunden sollten normaler­weise für Frühstücksvorbereitungen ausreichen, trotzdem erfasste mich eine un­gewohnte Unruhe. Eigentlich wollte ich mit meiner Einla­dung nur nett zu ihr sein. Jetzt war ich mir selbst nicht sicher, ob ich nicht mehr be­zweckte. Ich versuchte, mich auf anderes zu konzentrieren und resümierte in Gedanken den gestrigen Aufsatz. Das half nichts. An Schlaf war ebenfalls nicht mehr zu denken. Ich verließ mein Nachtla­ger und begab mich zum Bäcker. Aus dem obligatorischen Ein­drucks­schin­dungsmotiv heraus, wählte ich eine breite Mischung aus den verschiedensten Brötchen, Hörnchen und Teilchen, mit der ich eine Großfamilie hätte ernähren können. Oben, bei mir, baute ich ein Menü auf, das mich selbst erstaunte. Danach wartete ich auf sie. Nach­dem ich meine beiden Zeitun­gen auswendig gelernt hatte, löste meine Unruhe Nervosität ab. Außerdem merk­te ich den fehlenden Schlaf. Am liebsten hätte ich mich wieder auf meine Pritsche ge­legt, doch mein Arbeitseifer bewegte mich, mit meiner Lite­ratur weiter zu machen.

Um zehn Uhr schellte es, und Betti hüpfte herein.

"Du arbeitest ja schon. Hast aber nicht gefrühstückt, oder?"

"Nein, ich habe extra auf dich gewartet."

"Das ist gut", stellte sie fest und legte meine Unterlagen auf meinen Arbeitstisch. Ihren Mantel und ihren Rucksack schmiss sie aufs Bett.

"Fühl dich wie zu Hause", ermunterte ich sie und bot ihr den bequemeren meiner Stühle an.

Der Tisch, auf dem ich gedeckt hatte, stand in der Zimmermitte, so dass wir uns ge­genüber saßen und uns anflachsen konnten. Beinahe unbemerkt verstrich der Vormittag, doch heute entflogen wir nicht so weit wie gestern unseren Klausurenkomplexen. Sie zog es nach Hause, da sie unbedingt lernen wollte. Ich hatte ohnehin den Eindruck, dass sie unausgeglichen war, wobei ich nicht sicher war, ob das alles mit dem Examensstress zu­sammenhing.

Am Freitag trafen wir uns zu unserer AG. Ich saß dicht neben ihr, und unsere Gesich­ter berührten sich fast beim gemeinsamen Durchgehen des vor uns liegenden Textes. Gerne hätte ich ihr Haar und ihre Haut gestreift, doch die Atmo­sphäre war anders als am Dienstag und Mittwoch. Betti wirkte wegen ihrer Unsicherheit be­züglich des Stoffes re­gelrecht quirlig, was eine eigenartige Spannung verursachte. Ich akzep­tierte diese Di­stanz, und wir zogen schlicht unser Pensum durch. Das bedeutete, dass ich meine Textin­terpretation erläuterte, und sie dazu (dumme) Fragen stellte. Als wir mit dem In­haltlichen zu Ende waren, erzählte sie, dass sie nächsten Mittwoch zu ihren Eltern fahren wollte, und wir uns voraussichtlich erst nach Weihnachten wiedersehen würden. Mit einem ihrer erschütterndsten Angstblicke bot sie mir an: "Wenn du magst, kannst du meine Telefon­nummer haben, falls dir was Wichtiges einfällt."

Ich hatte das Gefühl, dass sie mich fachlich für genieverdächtig hielt, was ich leider selbst nicht so empfand. Auch erachtete ich es für wichtig, über die Feiertage eine Pause einzuschieben, was ich ihr ebenfalls nahelegte, mit der Empfehlung, uns das ver­dient zu haben.

"Ich fahre nur nach Hause, damit meine Mutter für mich kocht, und ich mehr Zeit zum lernen habe", blubberte sie.

Ich grinste. Sie tat mir mit ihrer Ängstlichkeit leid. Dafür fühlte ich umso mehr, dass ich sie gerne mochte.

Auf der Rückfahrt nach Gievenbeck verbannte ich mittels meines Autos sämtliche Senti­mentalitäten aus meinem Gehirn. Mein Drehzahlmesser übernahm die Rolle des Stimmungsba­rometers, und ich genoss den sanften Druck auf dem Sitz beim Einsetzen des Turboladers. Für kurze Zeit vergaß ich Betti und das Examen. Morgen, auf Esthers Fete, würde ich mich rich­tig austoben, nahm ich mir vor, und genau das tat ich.

Ich saß neben meinem Schwager, der mich ohne mein Schwesterherz begleiten durfte, an der Theke und trank Bier, sehr viel Bier, genaugenommen zu viel Bier. Da mich den Tag über 80 Seiten neue politische Ökonomie bearbeitet hatten, musste ich meine Ge­hirn­zellen bearbeiten, weil ich sonst von der Reizüberflutung überwältigt worden wäre. Da­bei flogen mir beachtlichen Neuigkeiten zu. Harald Köhlers ersten Bewerbungsaktio­nen waren sämtlich fehlgeschlagen und seine Frustration darüber unübersehbar. Esther war es gelungen, aushilfsweise in ein Projekt bei einem Industriebetrieb zu rutschen, und sie mach­te sich ernsthafte Hoffnungen auf ein Praktikum im nächsten Frühjahr in Frankreich. Nebenbei erzählte mein Schwager den neuesten Familientratsch.

Die Erinnerung an das, was passierte, nachdem dieser mich verlassen hatte, und ich mich unter die Menge mischte, fiel mir schwer. Ich muss einer unnahbaren Juristin auf die Nerven gegangen sein, und auf dem Heimweg war mir ein entgegen­kommender BWLer aus dem sechsten oder siebten Semester behilflich. - Den folgenden Sonntag verbrachte ich schlafend.

Am Montag war ich so weit regeneriert, um am Nachmittag der Wifipo AG beizu­wohnen, bei der mich primär der Verzehr von Andrea Reimanns ausgezeichneten Weih­nachtsplätzchen beschäf­tigte.

Am Dienstag arbeitete ich wieder konstruktiv und ertrug willig Fechtis Se­minar. Für den Abend hatte ich mir den Einstieg in die Literatur der Wettbewerbspolitik vor­genom­men, die gemäß meinem Idealvorbereitungskonzept bis Weihnachten abgeschlossen sein sollte. Gegen neun Uhr überfiel mich ein Motivationstief und der Drang mit je­mandem zu telefonieren. Ich dachte an Esther, hielt es jedoch für ratsamer vor einer Kontaktaufnah­me mit ihr meine mangelhaften Erinnerungen an Samstag in einem Feedbackge­spräch mit einer neutraleren Person zu komplettieren.

Betti kam mir in den Sinn. Sie war heute nicht im Seminar gewesen und wollte erst morgen nach Hause fahren. Vielleicht sollte ich hören, wie es ihr geht, und wie weit sie mit ihren Vorbereitungen war?

Ich wählte ihre Nummer.

"Draußen ist Winter, und es ist kalt, und die kleine Hexe hat sich zurückgezogen. Wenn es wieder hell wird, kommt sie wieder hervor und ruft..."

"Bettina Claas", wurde der Anrufbeantworter mit Flüsterstimme unterbrochen.

"Till hier. Tut mir leid wenn ich dich geweckt habe."

"Hast du nicht. Ich liege zwar schon im Bett, döse aber noch ein wenig. Schön, dass du an­rufst. Wie geht's dir? Warst du heute im Seminar?"

Ihre Stimme klang angenehm, und ich versetzte mich in ihr Appartement. Ich stellte sie mir im Bett liegend vor, in ihre Decke gekuschelt, so dass nur ihr Kopf herausschaute, an den sie den Telefonhörer presste.

"Ich wollte einfach mal hören, wie es dir geht. Du warst ja heute nicht da, womit du sicher nicht schlecht gefahren bist. Fechti hat sich selbst übertroffen. Nach nicht ganz 10 Minuten löste er den Referenten mit der Bemerkung ab, dass es besser sei, wenn er sich setzen würde, da er das Thema offenbar nicht einmal im Ansatz verstanden hätte."

"Unverschämt, nicht wahr?" kommentierte sie, was die Einleitung für einen ausgiebi­gen Er­fahrungsaustausch in Sachen Wifipo war. Es war beruhigend zu erfahren, dass ihre AG mit Michaela und den zwei Unbekannten offenbar von dem gleichen Schleier der Ungewissheit umgeben war wie wir. Sie argwöhnten ge­nauso den drohenden Szenarien, deren potentielle Ausprägungsmerkmale uns allen allzu be­kannt waren. Zu meiner Über­raschung vernahm ich, dass Michaela, die ich für extrem strebsam und deshalb für beson­ders klug gehalten hatte, nicht gerade durch in ihrer Qualität bestechende Beiträge auf­fiel.

Nach einer Stunde wechselten wir das Thema. Der Papst, der Vatikan mit dem Petersdom und Bettis Italienreisen standen nun im Mittelpunkt. Ich erfuhr, dass in Siena eine der größten europäischen Privatbanken in einem imponierenden Gebäude ihren Stammsitz hat, und dass die Toskana doch nicht so reizvoll wie allgemein angenommen ist, da Wege nur sehr unzurei­chend beschildert sind, und junge Damen, die nach Abkür­zungen suchen, sich leicht an sta­che­ligen Dornenbüschen ihre Sommerkleidung zerreißen können.

Beim Schreiben ihrer Diplomarbeit wollte Betti Kindergärtnerin wer­den, falls sie durchfallen sollte. Sie stellte sich vor, in einem Elitekindergarten Managerkindern das Mundell Flemming-Modell beizu­bringen, damit sie ihren Papas nicht beim Frühstück auf den Wecker zu fallen brauch­ten, da diese schließlich morgens die FAZ lesen müssten.

"Eine schreckliche Vorstellung", kritisierte ich ihr Berufsziel.

"In letzter Zeit, wenn ich an die Klausuren denke, finde ich das gar nicht mehr so dumm."

"Da musst du ja den ganzen Tag lang aufpassen wo du hintrittst", wandte ich ein.

Darauf erzählte ich, dass meine Schwester richtige Kindergärtnerin ist und ihren Schil­derungen zur Folge das einer der schrecklichsten Berufe sein müsste, den ich mir vor­stellen konnte. Ich dachte an Arnold Schwarzenegger als "Kindergarten-Cob".

"Wir sollten beide Diplom-Volkswirte werden", schloss ich dieses Thema ab, worauf wir zum gestrigen Fernsehprogramm kamen. Dies war für mich die Gelegenheit, das Ende des tra­gisch-komischen Films über den mit einem Taubenkomplex behafteten psychisch gestörten Vi­etnamheimkehrers zu erfahren, den Betti so traurig und ich so langweilig gefunden hatte, dass ich vorher abschaltete.

Sie interessierte sich daraufhin für meine Bundeswehrzeit, bei der mir (zum Glück) ähnliche Erlebnisse erspart geblieben waren.

"Liegst du nicht im Bett?" wollte sie wissen, als sie hörte wie sich mein Stuhl beweg­te, den ich als Fußablage zweckentfremdete.

"Ich bin auf dem Weg dahin", erwiderte ich im zweideutigen Tonfall. Dabei streifte mein Blick die Anzeige meiner rot leuchtenden Digitaluhr. Mitternacht war vorüber. Unweigerlich fielen mir die grauen Briefe der Telekom ein, die die Telefonrechnungen enthielten, und ich verspürte, so leid mir das tat, den Drang unser Gespräch dem Ende zuzuführen.

"Vielleicht wird es langsam Zeit zu schlafen", bemerkte ich beiläufig.

"Wie langweilig", warf sie ein.

"Ja, ich finde es auch traurig, jetzt alleine im Bett zu liegen", rutschte mir heraus.

"Du kannst ja deinen Frosch in den Arm nehmen", entgegnete sie, womit sie meinen der Dekoration dienenden Stofffrosch meinte.

Mit, "lieber würde ich dich jetzt in den Arm nehmen", hielt ich mich zurück, obwohl die­ses durchaus meinen sich erregenden Vorstellungen entsprochen hätte. Ich gab ihr ir­gendeine dumme Antwort.

"Du willst mich doch jetzt nicht etwa loswerden?"

"Dich möchte ich doch nie loswerden."

"Das ist gut! Du hast aber recht, langsam sollten wir wirklich Schluss machen, morgen ist schließlich ein langer Tag."

"Du fährst zu deinen Eltern, wenn ich richtig informiert bin. Ich wünsche dir schon mal eine gute Fahrt, komm gut an, feier schön und lass dir das Essen schmecken."

"Danke, lieb von dir. - Till?"

"Was denn?"

"Schlaf schön und träum was Süßes!"

"Mach ich. Du auch. Tschau Betti!"

Danach legten wir auf.

... und der nächste Tag begann. Durch meine Vorhänge schimmerte das Sonnenlicht und ich fühlte mich gut. Ich lag den halben Vormittag auf meinem Bett und dachte nach. In zwei Tagen war Weihnachten, und ich würde mich endlich mal an erquicklichen Din­gen erquicken.

Ich dachte an Betti. Sie saß jetzt wahrscheinlich in ihrem Auto und fuhr die A 44 entlang nach Kassel. Ich malte mir aus, wie sie zuvor gepackt, ihre Wohnung aufge­räumt und ihre Taschen und Geschenke in ihrem roten Fiesta verstaut hatte.

Wie ihre Eltern wohl wären? - Bestimmt nett. Ich stellte mir die Familie Claas im weihnachtlichen Wohnzimmer vor. Betti, ihre Schwester Sonja, ihre Eltern, möglicherweise andere Verwandtschaft. Sie versammelten sich gemütlich um den Kamin und feierten zu­sammen.

Ich freute mich, dass sie ein paar schöne Tage erleben würde. - Ich befürchtete fast, dass ich anfing, mich zu verlieben.

Semester of Love

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