Читать книгу Marthas Boot - Polly Horvath - Страница 7

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Bevor sie aufbrachen, schaute Fiona auf Google Maps nach, wie lange sie zu Fuß zur Schule brauchen würden und kam auf fünfundvierzig Minuten. Sie scheuchte die anderen aus dem Haus und dachte gleichzeitig, dass es wahrscheinlich nicht viel ausmachte, wenn sie zu spät kämen. Schließlich würden sie sich vermutlich fürs Erste nur anmelden und noch nicht am Unterricht teilnehmen. Sie hatten weltweit viel Erfahrung mit neuen Schulen gesammelt und festgestellt, dass jede anders war. Während sie an der Straße entlang gingen, befürchtete Fiona, dass man ihnen ohne ein Elternteil, das alles Mögliche unterschrieb, die Anmeldung verweigerte, doch sie behielt diese Sorge für sich und wies fröhlich auf große alte Scheunen, riesige Bäume und andere interessante Dinge hin.

Als sie an der Grundschule angekommen waren, sich durch die ankommenden Schüler geschlängelt und das Sekretariat gefunden hatten, wusste sie nicht, wohin mit ihren Händen und begann unruhig, sie zu kneten. Marlin versetzte ihr einen festen Stoß mit dem Ellbogen und da merkte Fiona, wie nervös sie wirkte. Also riss sie sich zusammen und betrat kampfbereit das Sekretariat.

Doch statt wegen ihres elternlosen Daseins Zweifel zu äußern, lief die Schulsekretärin zum Tresen vor und sagte: «Da seid ihr ja. Ihr seid doch sicher die McCready-Kinder, oder? Eure Lehrer wissen, dass ihr kommt, denn eure Großtante hat euch letzte Woche angemeldet. Eigentlich hatten wir euch schon gestern erwartet, aber – wie dumm! – ich hatte den Jetlag ganz vergessen. Den ganzen weiten Weg von Borneo, du meine Güte! Ich bin noch nie weiter gekommen als bis Vancouver. Ihr habt bestimmt mindestens einen Tag gebraucht, um euch in der richtigen Zeitzone zurechtzufinden? Liebes, wenn du Fiona bist, dann weiß ich von deiner Großtante, dass du auf die weiterführende Schule von St. Mary’s gehst, die direkt gegenüber liegt. Ich kümmere mich um deine Schwestern, wenn du gleich rübergehen möchtest.»

«Wir wüssten gern, ob es einen Schulbus gibt», erkundigte sich Fiona.

«Ja, also, eure Großtante hat gesagt, sie würde euch hin- und zurückbringen», meinte die Sekretärin. «Oder, oh mein Gott, das habe ich ja vergessen, sie ist ja verstorben. Das tut mir furchtbar leid. Hat es eure Familie noch rechtzeitig zur Beerdigung geschafft?»

«Äh, nein», antwortete Fiona, während die anderen drei unbehaglich dreinblickten und versuchten, nicht zu zeigen, wie viel Angst sie hatten, dass ihr elternloser Zustand jeden Moment enthüllt werden und ihre Hoffnungen und Pläne zunichtegemacht würden.

«Wie schade, aber wie ich hörte, passierte alles ganz plötzlich. Nun ja, ich kümmere mich um den Schulbus. Das ist kein Problem. Ihr könnt alle mit demselben Bus fahren. Die beiden Schulen teilen sich zwei Busse, einer fährt nach Westen, der andere nach Osten. Ihr müsst den nach Westen nehmen, der am Parkplatz von Fionas Schule abfährt. Die meisten Schüler fahren mit dem nach Osten, der auf unserem Parkplatz hält. Also denkt dran, den nicht nehmen. Ich sorge dafür, dass ihr auf die Liste kommt und ein Halt für euch eingeplant wird. Das wird alles geregelt sein, bis der Unterricht zu Ende ist. Ihr müsst dem Fahrer nur sagen, dass ihr die McCreadys seid, seine letzte Haltestelle, falls er es vergisst. Nicht zu fassen, dass ihr so weit draußen bei Miss McCready auf der Farhill Road wohnt. Sie hat, beziehungsweise hatte eine hübsche alte Farm. Allerdings hat sie nie viel angebaut. Sie war mehr aufs Fischen aus, stimmt’s? Aber sie hat sich da wirklich eine wunderschöne alte Farm gekauft. Die alten sind doch immer besonders charmant, findet ihr nicht auch? Früher gab es da eine große Apfelplantage, aber mit den Äpfeln kann sie nun wohl nicht mehr viel anfangen, die Ärmste.»

«Sie kann mit nichts mehr so richtig viel anfangen», flüsterte Marlin Natasha zu.

«Soweit wir das beurteilen können», wisperte Natasha zurück, denn ihr war beigebracht worden, dass alle Menschen in den Himmel kamen und sie dachte, irgendetwas müsste es dort doch auch zu tun geben. Man saß sicher nicht nur herum und drehte Däumchen.

Fiona warf den beiden einen bösen Blick zu, damit sie aufhörten zu flüstern.

«Oh je, jetzt ist es wieder mit mir durchgegangen. Wegen der Äpfel. Ich liebe alte Streuobstgärten und sie hat viele verschiedene alte Obstbäume, nicht nur Äpfel. Aber das ist auch schon alles, was ich über sie weiß. Sie war gern für sich, habe ich gehört.»

«Immerhin haben wir genug Obst», stellte Natasha fest und Marlin stupste sie mit dem Ellbogen an. Die Sekretärin schien nichts zu merken, als sie zu ihrem Schreibtisch zurückkehrte, um die Papiere abzulegen.

«Ich bringe euch drei jetzt zu euren jeweiligen Klassenräumen. Du kannst ruhig gehen, Liebes», sagte sie zu Fiona, die sich bedankte und über die Straße lief. In ihrer Schule wurde sie ähnlich begrüßt und zu ihrem Klassenraum gebracht. Sie war so erleichtert, dass alles viel einfacher gewesen war als sie sich vorgestellt hatte, dass es ihr noch nicht einmal etwas ausmachte, dass sie kein Mittagessen eingepackt hatte. Nach der Schule würden sie zwar alle kurz vor dem Verhungern sein, aber es gab Schlimmeres und am nächsten Tag würde sie daran denken, Pausenbrote einzupacken. Wer die Verantwortung trug, lernte eben ständig dazu.

In den meisten Schulen, die Fiona bisher besucht hatte, musste man für jedes Fach das Klassenzimmer wechseln. In anderen, die oft an abgelegenen Orten lagen, war es üblich gewesen, dass sich Kinder aller Altersstufen einen Raum teilten. In dieser Schule schien es genügend Kinder für eine neunte Klasse mit einem Lehrer zu geben.

Kam man in eine neue Schule, war der schlimmste Moment immer der, wenn man zum ersten Mal das Klassenzimmer betrat, aber hier waren alle sehr freundlich. Fiona entschied, dass die Schule nicht das Problem sein würde. Freunde auf Abstand zu halten, damit niemand die Lage der Mädchen durchschaute, ohne dass die McCreadys als unfreundlich galten – das würde dagegen sicher schwierig werden. Doch das würde sich mit der Zeit erweisen. Fiona schöpfte jedenfalls neue Hoffnung, dass ihr riskanter Plan funktionieren könnte.

Als Fiona nach der Schule auf dem Parkplatz ihre Schwestern suchte, wartete stattdessen die Sekretärin der Grundschule auf sie. Sie kam lächelnd auf Fiona zu und sagte: «Komm doch bitte mit, Fiona, wenn es dir nichts ausmacht. Wir stecken im Sekretariat in einer gewissen Zwickmühle.»

«Was denn für eine Zwickmühle?», fragte Fiona nervös.

«Das wirst du gleich sehen», antwortete die Sekretärin nicht unfreundlich.

Im Büro saßen Charlie, Natasha und Marlin mit betretenen Mienen bei der Schulleiterin, die jünger war als die meisten Schulleiterinnen, denen Fiona bisher begegnet war. Die junge Frau war hübsch, hatte kurze dunkle Haare und ein freundliches Gesicht. Sie lächelte, als Fiona hereinkam.

«Oh, hallo, meine Liebe. Ich bin Miss Webster. Wir wollen nur kurz abklären, was mit euren Eltern ist. Die Lehrer der Mädchen haben jeweils etwas anderes erzählt.»

«Oh», sagte Fiona.

«Also, Charlie behauptet, eure Eltern wären tot …»

«Sind sie auch», nickte Charlie.

Die Schulleiterin hob die Hand, während Marlin ihre Augenbrauen hochzog, um Fiona zu warnen.

«Marlin sagt, sie hätten zu tun. Und Natasha sagt, sie wären noch in Borneo und würden bald nachkommen. Da ich weiß, dass eure Großtante verstorben ist, Liebes, wollte ich es doch lieber genau wissen. Im Grunde geht es nur darum, wer sich zurzeit um euch kümmert, damit wir jemanden anrufen können, falls es Probleme gibt.»

Fiona sah die Schulleiterin an, dann die Sekretärin und schließlich die Wand. Sie strengte sich an, eine gute, vertrackte Lügengeschichte zu erfinden, mit der sie die drei Versionen ihrer Schwestern sinnvoll verknüpfen konnte, aber ihr Verstand glich einem Reh im Scheinwerferlicht und verweigerte jegliches Tun. Die Sekretärin hatte ihre Sachen genommen, weil sie für heute fertig war und verabschiedete sich fröhlich, bevor sie die Tür schloss. Nun waren sie nur noch zu fünft.

So schnell. Nein, nein, nein! Das kann uns so schnell doch nicht passieren, dachte Fiona. Sie hatte in Erwägung gezogen, dass sie eines Tages auffliegen würden, aber doch nicht gleich am ersten. Charlie begann zu weinen.

«Oh, nicht weinen, Liebes», sagte Miss Webster. «Ihr bekommt keinen Ärger. Aber eine Geschichte muss die richtige sein und ich würde sie gern von eurer Schwester hören, weil sie die Älteste ist.»

«Na ja, irgendwie sind die Geschichten auf ihre Art alle wahr», stammelte Fiona und überlegte, ob sie sich irgendwie doch noch rausreden konnte.

«Wie kann das sein, Liebes?», wollte die Schulleiterin wissen, die hinter ihrem Schreibtisch Platz nahm und sie freundlich fragend ansah.

«Ja, also, Sie kennen das doch sicher, bei Umzügen verliert man schon mal das ein oder andere?»

«Willst du damit sagen, dass ihr eure Eltern verloren habt?»

«Nein, nein, das Wort verlieren ist hier zu stark, obwohl es in gewissem Sinne, selbstverständlich, ja, genauso ist, aber kann man jemanden je wirklich verlieren, das ist hier eher die Frage.»

«Verstehe. Hören wir auf, um den heißen Brei herumzureden», sagte die Schulleiterin, die immer noch nicht wütend, sondern besorgt wirkte. «Wer kümmert sich im Haus eurer Großtante um euch? Schließlich weiß ich, dass es nicht eure Großtante sein kann. Außerdem müsst ihr wissen, dass ich früher eine unverbesserliche Lügnerin war und mir alle Tricks vertraut sind, wie man die Wahrheit verschleiern kann.»

«Niemand», antwortete Fiona ausdruckslos. «Im Moment.»

Marlin, Natasha und Charlie sahen Fiona entgeistert an. Hatte sie ihnen nicht eingeschärft, genau das nicht zuzugeben?

«Heißt das, jemand kommt

«Oh, mit Sicherheit, könnte man sagen, oder meinen Sie nicht?»

«Dazu sage ich nichts. Aber netter Versuch. Ich hab euch gewarnt – unverbesserliche Lügnerin. Erste Liga. Aber jetzt sag mir bitte, warum Charlie behaupten sollte, eure Eltern wären tot, wenn das gar nicht stimmt? Und wenn sie tot sind und eure Großtante auch, wer wohnt dann jetzt bei euch? Mit wem kann ich Kontakt aufnehmen?»

«Im Augenblick mit mir», antwortete Fiona.

Die Schulleiterin schwieg. Die Stille zog sich in die Länge, während sie die Wand anschaute, als würde sie nachdenken.

«Aber wir kommen sehr gut allein klar», sagte Natasha. «Das hat Fiona gesagt.»

«Natasha», rief Marlin erschrocken.

«Wieso, hat sie doch gesagt», protestierte Natasha.

«Das heißt, es ist niemand da? Kein Vormund? Niemand von der Kirche? Eure Großtante hat gesagt, die Kirche würde euch herschicken. Sie hat mir nicht gesagt, dass eure Eltern gestorben sind. Eure Tante hat nie mehr gesagt, als unbedingt nötig war, aber selbst nach ihren Maßstäben hat sie da etwas Wichtiges ausgelassen.»

«Wir haben uns», sagte Natasha.

«Natasha …», warnte Marlin. Sie hielt nichts davon, jetzt zu improvisieren. Fiona sollte für alle sprechen. Schließlich sahen sie ja, was dabei herauskam, wenn jeder seine eigene Geschichte zum Besten gab.

«Unbedingt, unbedingt», murmelte die Schulleiterin.

Charlie wählte diesen ungünstigen Moment, um zu sagen: «Ich will nach Hause. Ich habe Hunger!»

Darauf sprang Miss Webster sofort an. «Habt ihr nichts zu essen bekommen?»

«Es gab nichts zu Mittag», jammerte Charlie.

Diesmal stieß Marlin ihr den Ellbogen so fest in die Rippen, dass Charlie «AUA!» schrie.

«Ich habe vergessen, etwas einzupacken!», gab Fiona zu. «Das war ein Fehler und wird nicht wieder vorkommen.»

Darauf folgte erneut ein nachdenkliches Schweigen, bis die Schulleiterin sich unvermittelt gerade hinsetzte, als hätte sie eine Entscheidung getroffen. «Ich muss das Jugendamt anrufen und mich erkundigen, was ich mit euch machen soll.»

Als sie zum Telefonhörer greifen wollte, sah Fiona zu ihrer eigenen Verwunderung, wie sich ihre Hand wie von selbst um das Handgelenk der Schulleiterin schloss, sodass sie den Hörer nicht aufnehmen konnte. So war sie noch nie mit einem fremden Menschen umgegangen, und mit einer Erwachsenen schon gar nicht. Natasha schnappte nach Luft, Marlin riss die Augen auf und Charlie schrie leise auf.

«Tun Sie das nicht», flehte Fiona. «Rufen Sie nicht das Jugendamt an. Bitte! Warten Sie wenigstens so lange, bis ich Ihnen die ganze Geschichte erzählt habe.»

Miss Webster ließ das Telefon los, lehnte sich zurück und wartete.

Mit vielen Pausen und Einwürfen und Unterbrechungen von Natasha, Charlie und Marlin kam alles heraus.

«Es gibt nichts», fasste Fiona zusammen, «nichts, was schlimmer sein könnte, als getrennt zu werden. Sie können sich das nicht vorstellen. Sie können sich nicht vorstellen, wie es ist, wenn man plötzlich seine Eltern verliert und dann erfährt, dass man auch noch seine Schwestern verlieren soll. Ich laufe weg, ehe ich das geschehen lasse. Ich laufe weg und nehme sie mit. Wenn es sein muss, gehe ich in die Wälder. Es ist mir egal, was aus uns wird, Hauptsache wir bleiben zusammen. Wenn Sie das Jugendamt anrufen, sind wir weg, noch bevor sie herkommen können.»

«Droh mir nicht», forderte Miss Webster. «Bleib einfach sitzen und lass mich kurz nachdenken.»

Zum dritten Mal legte sich Stille über den Raum, doch diesmal dauerte sie sogar noch länger an als zuvor. Schließlich sagte Miss Webster: «In einem Punkt habt ihr euch geirrt. Ich weiß, wie es sich anfühlt, seine Familie zu verlieren. Ich bin weggelaufen, als ich nur ein Jahr älter war als du. Meine Wohnsituation war … nun ja, brenzlig. Ich bin abgehauen und habe lange auf der Straße gelebt. Dann hat sich das Blatt gewendet und ich habe eine Ausbildung gemacht. Ich hatte sehr viel Glück, mir wurde oft geholfen. Und jetzt bin ich die jüngste Schulleiterin, die es in St. Mary’s By the Sea je gegeben hat.» Sie wurde rot, als wäre ihr dieser Ausbruch peinlich, und fügte hinzu: «Nicht, dass St. Mary’s By the Sea besonders groß wäre oder es hier besonders viele Schulleiterinnen gegeben hätte.»

«Nein, aber das ist dennoch ein großer Erfolg!», bestätigte Natasha aufmunternd, wie es ihre Mutter getan hätte.

«Danke.» Miss Webster hüstelte. «Ich wollte eigentlich nicht von mir sprechen. Gut, ihr scheint nette Mädchen zu sein und ihr habt Glück, dass ich euer Geheimnis als Erste aufgedeckt habe. Hoffentlich bin ich auch die letzte, denn jetzt erkläre ich euch, was ich für euch tun werde und warum. Da ich das Jugendamt aus eigener Erfahrung besser kenne als mir lieb ist, habe ich mehr Mitleid mit euch als viele andere es hätten. Außerdem ist eure Angst hinsichtlich einer Pflegefamilie meines Erachtens berechtigt. Ihr würdet wahrscheinlich tatsächlich genau wie befürchtet getrennt werden, denn es ist zwar wichtig, aber nicht das erste Anliegen des Jugendamts, euch zusammen zu lassen. Das wäre nämlich, Pflegefamilien zu finden, egal welche. Und ich bin ganz eurer Meinung, dass es euer erstes Anliegen sein sollte, zusammenzubleiben. Solange ihr das schafft, und vorausgesetzt, du, Fiona bist bereit, die Verantwortung zu tragen, denn das Meiste wird auf dich zukommen, weil du die Älteste bist. Aber ich weiß, dass eine verzweifelte Vierzehnjährige mehr schafft als man ihr zutraut. Ich habe sehr viel mehr erreicht als irgendwer glaubte, aber es ist dennoch sehr schwer, wenn man auf sich allein gestellt ist. Schwerer als ihr bisher ahnt. Ich habe das schon so empfunden, ohne, dass ich noch für drei andere sorgen musste. Doch ihr habt auch einiges, was ich nicht hatte. Ihr habt ein Zuhause und Geld auf dem Konto. Und ihr habt viel Erfahrung, weil ihr schon an vielen Orten auf dieser Welt gelebt habt. Ihr könntet klarkommen. Dennoch mache ich mich schuldig, wenn ich einfach wegschaue. Und ich trage die Verantwortung für das Ergebnis dieses Experiments.»

«Nein, das Gefühl müssen Sie nicht haben», widersprach Marlin. «Wir würden Ihnen nicht die Schuld geben.»

«Mit euch hat das nichts zu tun. Ich nehme die Verantwortung auf mich», erwiderte Miss Webster. «Und deshalb komme ich einmal die Woche vorbei und sehe nach dem Rechten. Habt ihr das verstanden?»

Die vier Kinder nickten eifrig wie eine Reihe von McCready-Wackeldackeln. Beinahe hätte Miss Webster hysterisch gelacht. Angesichts der Tragweite dessen, was ihr drohen könnte – zum Beispiel ihren Job zu verlieren oder eine Anzeige zu bekommen oder wer weiß was noch – fühlte sie sich etwas erschlagen.

«Als Gegenleistung dafür, dass ich euer Geheimnis wahre, müsst ihr mir auch etwas versprechen. Ihr dürft nie irgendwem verraten, dass ich mit dieser Abmachung einverstanden war. Wenn ihr erwischt werdet und das Schlimmste zu befürchten steht, bringt es nichts, wenn die Leute erfahren, dass ich eingeweiht war. Versprochen?»

«Ja», erklärte Fiona feierlich. «Sie haben mein Wort, Sie haben unser aller Wort.»

«Wir sind Ihnen so dankbar», fügte Marlin hinzu.

«Vielen Dank», sagte auch Natasha.

«Wir haben den Schulbus verpasst!», rief Charlie und sprang auf, als sie merkte, dass der Parkplatz so gut wie leer war.

«Kein Problem.» Miss Webster griff nach ihrer Handtasche und den Schlüsseln. «Ich bringe euch nach Hause. Bei der Gelegenheit kann ich mir gleich ein Bild machen, wie es da aussieht. Nur um mich zu vergewissern.»

Miss Webster fuhr sie nach Hause und Fiona zeigte ihr das Haus.

Miss Webster fiel auf, wie sauber es in der Küche war, und dass die Betten gemacht waren. Und weil es so ein schöner Tag war, zeigten die Mädchen ihr die Wiese, den Obstgarten und am Ende des Privatwegs auch noch ihren kleinen Strand.

«Einfach bezaubernd», seufzte Miss Webster, als sie mit dem Rundgang fertig waren, am Zaun standen und über das Grundstück blickten. «Ich wollte schon immer eine Farm haben, aber diese hier am Meer ist besonders entzückend. Hier gibt es von allem etwas, stimmt’s? Wetten, dass eure Großtante sie damals günstig bekommen hat? Ich bezweifle, dass ich mir so etwas jemals leisten kann. Glück gehabt, Kinder!» Dann riss sie sich zusammen. «In mancher Hinsicht. So!» Sie klatschte in die Hände, als hätte sie eine Entscheidung getroffen. «Ich bin sicher, dass uns Steine in den Weg gelegt werden und mir vorzustellen, was alles schieflaufen könnte, wird mich wahrscheinlich nächtelang wach halten. Aber für heute lassen wir es gut sein. Der Bus holt euch morgen früh um halb neun am Ende der Farhill Road ab. Ich gebe euch noch meine Handynummer, dann könnt ihr mich anrufen, wenn ihr etwas braucht oder irgendwie in der Klemme steckt.»

Die Mädchen begleiteten sie zum Haus, winkten zum Abschied von der Veranda und bedankten sich noch einmal.

«Keine Ursache. Vergesst nur nicht, etwas zum Mittagessen einzupacken», rief Miss Webster über ihre Schulter hinweg. Die Mädchen hörten, wie sie auf dem Weg zum Auto vor sich hinmurmelte: «Das werde ich bereuen. Ich weiß, dass ich es bereuen werde. Eine dumme Entscheidung. Eine dumme, dumme Entscheidung.»

«Sie ist nicht dumm», fand Charlie, als sie sich auf die Verandastufen setzten und zuschauten, wie Miss Webster abfuhr.

«Nein», sagte Fiona nachdenklich. «Ich finde sie sehr mutig.»

«Wahrscheinlich hat sie gelernt, mutig zu sein, als sie in unserem Alter allein gelebt hat», meinte Marlin. «Und jetzt kann sie es, wenn es sein muss.»

«Tja», lachte Fiona, «da sind wir noch mal mit einem blauen Auge davongekommen. Wie wollen wir das feiern?»

«Mit Kuchen!», rief Marlin. «Mrs Weatherspoon hat mich wohl angesteckt, bei jeder Gelegenheit einen zu backen.»

«Wir haben keinen Kuchen», gab Natasha zu bedenken.

«Nein, aber das muss ja nicht so bleiben», erwiderte Marlin. «Ich schaue mal nach, was ich in Tante Marthas Schränken finde.»

«Das sind jetzt unsere Schränke», verbesserte Fiona sie geistesabwesend.

«Stimmt. Unsere Küchenschränke. Und aus den Vorräten backen wir einen Kuchen.»

«Wir haben kein Kochbuch», erinnerte Natasha. Sie hatten Tante Marthas Bücherbestand bereits am Vortag durchsucht, als sie ein Brotrezept gebraucht hatten. Daher wussten sie, dass es Regale über Regale voller Bücher gab, doch kein einziges Kochbuch.

«Dann sehe ich eben wieder im Internet nach», sagte Marlin. «Da finde ich alle Rezepte, die ich brauche. Da fällt mir ein, Fiona, werden Dinge wie das Internet nicht abgestellt, wenn Tante Martha die Rechnungen nicht mehr bezahlt?»

«Sie ist erst vor vier Tagen gestorben. Das können wir mit dem Anwalt besprechen, wenn wir in die Stadt gehen, um mit ihm zu reden.»

«Und zwar ohne irgendwie preiszugeben, dass wir die Rechnungen selbst bezahlen», mahnte Marlin.

«Ja, das wird nicht so leicht sein», seufzte Fiona und stützte den Kopf in die Hände. «Wie auch immer, am besten machen wir unsere Hausaufgaben, während Marlin den Kuchen backt. Und ich rufe in der Kanzlei an, solange ich mich noch traue. Wir brauchen bestimmt einen Termin.»

Mit einem Gefühl, als hätte sie Felsbrocken im Bauch, schloss Fiona sich in Tante Marthas Arbeitszimmer ein und rief den Anwalt an. Als Mr Pennypackers Sekretärin Fionas Namen notierte, sagte sie «Oh!», als hätte sie den Namen schon einmal gehört und wäre jetzt überrascht, sie persönlich am Apparat zu haben. Doch dann gab sie ihr reibungslos und ohne weiteren Kommentar einen Termin.

Während Fiona telefonierte, durchforstete Marlin die Küche und fand unter anderem Mandelmehl sowie Kirschen in der Tiefkühltruhe. Nachdem sie sich im Internet schlau gemacht hatte, beschloss sie einen Mandelkirschkuchen zu backen. Es handelte sich um ein einfaches Rezept und sie bereitete den Kuchen in einer mittelgroßen gläsernen Form zu. Als sie schließlich mit den Hausaufgaben fertig waren und ein Abendessen aus Dosensuppe und überbackenem Käse verspeist hatten, war der Kuchen so weit abgekühlt, dass man ihn essen konnte.

«Der schmeckt richtig gut», lobte Fiona und nahm einen großen Bissen.

«Du bist die geborene Bäckerin», sagte Natasha.

«Ja, das glaube ich auch», erklärte Marlin, die anschließend noch ihre Schularbeiten machte, während die anderen die Küche aufräumten und Fiona Pausenbrote für den nächsten Tag vorbereitete.

Am Ende fielen sie erschöpft von diesem aufregenden Tag in ihre Betten und schliefen zu dem lauten Orchester der Baumfrösche ein, die sich in ihrem Märzdrang, einen Partner zu finden, die Kehle aus dem Leib quakten.

Auch Miss Webster fiel todmüde ins Bett, abgekämpft von den schwierigen Entscheidungen, die sie hatte treffen müssen, doch es war ein Irrglaube gewesen, dass sie wach liegen und sich Sorgen machen würde, was alles schiefgehen konnte. Sie schlief sehr gut. Fiona dagegen wachte immer wieder auf und grübelte. Denn ihr war noch etwas eingefallen.

Das kann nicht funktionieren, dachte sie mit Blick auf den Großen Wagen, der in der oberen rechten Ecke ihres Fensters hing und großzügig Sternenlicht über den tintenschwarzen Himmel ergoss. Wir brauchen eine erwachsene Person, die so tut, als würde sie für uns sorgen. Hätten wir so jemanden gehabt, hätte Miss Webster nie herausgefunden, wie es wirklich um uns steht.

Auf den ersten Blick war das eine schwierige Aufgabe, weil die Mädchen in St. Mary’s By the Sea bisher niemanden kannten. Doch auch diesbezüglich hatte Fiona schon eine Idee.

Marthas Boot

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