Читать книгу Die Annalen von Naschfuhd; aus den Chroniken von Biglund - Prince Mario Munibert Gulbrand - Страница 4

Kapitel 1 - Eine seltsame Prophezeiung

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Eines Tages, vor langer, langer Zeit...

Es war ein Tag wie jeder andere, der in dem beschaulichen Dorf an der Bachquelle am zweiten Tag der ersten Woche im fünften Monat des zweihundertsiebenundzwanzigsten Jahres der Rüsselmeise begann - bisher jedenfalls.

Der junge Albin stand noch etwas müde aus seinem Bett auf, rieb sich die Augen und sah schlaftrunken aus dem bullaugenrunden Fenster in seinem Zimmer. Das ganze Dorf war längst wach und übte sich in gewohnter Alltagsemsigkeit. Jeder tat das, was er eben tun musste oder tun zu müssen glaubte und jeder übte seinen Beruf aus wie an jedem Tag in diesem Dorf. Und auch die Tiere des Dorfes waren schon lange aktiv und gingen in der freien Natur und inmitten des Dorfes ihren ureigensten Trieben nach. Nichts Ungewöhnliches und erst Recht kein Grund, irgendeinen Verdacht zu schöpfen.

Albin ging gähnend von seinem Zimmer in die Küche, grüßte seine Mutter, die gerade Marmelade zubereitete, und machte sich ein üppiges Frühstück. Dann setzte er sich an den Esstisch. Heute war sein freier Tag als Wasserradinstallateurgeselle und er konnte tun und lassen, was er wollte. „Ach ist das herrlich“, dachte er, sah wieder aus dem Fenster und sah diesmal der üppigen Flora und Fauna dabei zu, wie sie immer üppiger wurde und andere Leute in dem Dorf nebenbei etwas arbeiteten und falls sie ihn bemerkten, grimmig zurück durch das Fenster starrten. Ja, so war das nun mal in diesem Dorf. Es wurde einem aber auch nichts gegönnt; nicht einmal ein freier Tag. Albin machte sich nichts daraus, denn es war ein wunderbarer Tag.

Albin war ein Mensch und Bewohner der magischen Welt Biglund, in deren westlichstem Gebiet, dem Oberland, sich das kleine Dorf an der Bachquelle befand. Er hatte mittellanges, dunkles Haar, braune Augen und war eher schmächtig gebaut. Er liebte seinen Beruf und sein kleines, völlig unscheinbares Dorf und die Heimat drum herum über alles und hatte deshalb - wie fast alle anderen Bewohner dieses Dorfes und der umliegenden Umgebung auch - sein Lebtag weder etwas anderes gemacht als seinen Beruf, noch ernsthaft den Wunsch gehegt, eine andere Region als die seines Dorfes und seiner umliegenden Heimat zu besuchen, außer vielleicht wenn es um Pflichtbesuche bei Verwandten ging.

Während er am Esstisch saß und weiter durch das Fenster sah, klopfte im nächsten Moment jemand an der Tür, der sein Vorhaben, den Tag so faul wie möglich zu verbringen, gnadenlos vereiteln wollte und der den Beginn eines für Albin völlig unerwarteten und noch weniger gewollten Lebensabschnitts einleiten würde. Albin stutzte. Wer konnte denn um diese Uhrzeit irgendetwas von ihm wollen? Er hatte ja noch nicht einmal zu Ende gefrühstückt. Keinen Augenblick später klopfte dieser jemand wieder an der Tür. Anscheinend hatte er es sehr eilig.

„Albin, geh doch bitte an die Tür. Meine Hände sind ja ganz klebrig“, sagte seine Mutter.

„Ja, ich komm ja schon!“ antwortete Albin der penetranten Person hinter der Haustür und legte endlich sein Frühstück beiseite. Er ging an die Tür und sah durch den Türspion einen Mann, der ihm sehr bekannt vorkam. Das war in diesem kleinen Dorf - in dem jeder jeden anderen besser kannte als sich selbst - auch kein Wunder; vor allem weil die Person auf der anderen Seite der Tür kein geringerer als der Bürgermeister dieses kleinen Dorfes, den man unter anderem an seiner Bürgermeistermütze erkannte, welche er soeben in der rechten Hand trug, weil er sich am Kopf kratzen musste. Es war ein kugelrunder Mann mittleren Alters, der einen eindrucksvollen Schnurrbart und obendrein den ehrfurchtgebietenden Bürgermeisterstab besaß, welchen er ebenfalls in jener Hand trug, die er nicht zum Kratzen seines Kopfes missbrauchte.

„Guten Tag“, sagte er, nachdem Albin endlich die Tür geöffnet hatte.

„Herr Bürgermeister, was verschafft mir die Ehre?“ antwortete Albin, noch im Schlafanzug gekleidet und die Reste seines letzten Frühstücksbissen fertigkauend. Auf einen Besuch war er einfach nicht eingestellt und erst Recht nicht vorbereitet.

„Es gibt schlechte Neuigkeiten. Ich kann nicht um den heißen Brei herumreden. Komm sofort mit!“ erwiderte der Bürgermeister und wies Albin mit einer ruckartigen Handbewegung gestikulierend noch einmal an, sofort mitzukommen.

„Aber ich bin noch gar nicht angezogen“, protestierte Albin.

„Das sehe ich“, stellte der Bürgermeister fest.

„Aber, ähm“, brachte Albin noch heraus.

„Und es ist mir völlig egal. Wir haben keine Zeit zu verlieren! Komm schnell mit“, befahl der Bürgermeister noch einmal.

Albin hatte wohl keine Wahl, denn es war schließlich der Bürgermeister. Wortlos machte er die Haustür zu und folgte dem runden Mann durch das Dorf. Er hatte es anscheinend wirklich eilig, denn er ging Albin, der beinahe hinterherrannte immer mindestens zwei Schritte voraus. Albin war etwas peinlich berührt, da ihn währenddessen jeder im Dorf wegen seines allzu legeren Äußeren kopfschüttelnd begutachtete. Dem Bürgermeister lediglich mit einem Schlafanzug zu folgen war schließlich nicht gerade eine Geste angebrachter Höflichkeit. Albin versuchte wenigstens, sich nicht allzu viel daraus zu machen, denn immerhin war er ja nicht einmal schuld daran. Doch die Blicke der Dorfbewohner drangen in ihrem empörten Argwohn beinahe durch Mark und Bein.

Der Bürgermeister führte Albin so schnell er konnte direkt an die Ältestenhalle; einem Ort, der nur von den Ältesten des Dorfes, der sozialen Oberschicht und dem Bürgermeister, welcher selbst entweder ein Ältester oder Vertreter der sozialen Oberschicht zu sein hatte, betreten werden durfte und Albin zählte ganz gewiss weder zu der einen, noch zu der anderen Sorte Dorfbewohner. Sein gesellschaftlicher Status war wenn überhaupt beim gehobenen Pöbel auf der Schwelle zur unteren Mittelschicht einzuordnen. Es kam ihm deshalb auch sehr seltsam vor, als der Bürgermeister vor der Halle hielt und Albin mit einer erneuten ruckartigen Handbewegung anwies, sofort in die Ältestenhalle zu gehen.

„Du musst hinein. Der Dorfälteste hat etwas sehr Dringendes mit dir zu besprechen“, sagte der Bürgermeister. Normalerweise konnte diese Aufforderung nur ein schlechter Scherz sein, doch das Gesicht des Bürgermeisters, seine Stimme, sowie seine gesamte Körperhaltung verrieten etwas völlig anderes.

Da sich die Ältestenhalle im Quelldorf ausgerechnet genau zwischen dem Sozialamt und einer schäbigen Kneipe befand, lachten ihn sogar die Dorfasozialen aus. Einer von ihnen, der wohl am wenigsten Zähne, dafür aber die fettigsten Haare hatte, bewarf Albin sogar mit einer leeren Schnapsflasche und lachte höhnisch. Albin schämte sich in Grund und Boden. Einige anständigere Dorfbewohner in der Nähe der beiden, die sie belauschten und hoffnungslos offensichtlich so taten, als würden sie das nicht tun, reagierten einen kurzen Moment lang zutiefst geschockt von der Tatsache, dass jemand im Schlafanzug die Ältestenhalle betreten solle. Als dem Bürgermeister das auffiel, taten sie noch hoffnungslos offensichtlicher so, als würden sie sich mit einer völlig anderen Sache beschäftigen.

„Moment mal, das geht mir jetzt ein wenig zu schnell“, beschwerte sich Albin. „Erst einmal möchte ich wissen, warum um alles in ganz Biglund ich dort hinein soll mit nichts anderem an als meinem Schlafanzug.“

„Keine Zeit für lange Gespräche. Geh sofort hinein!“ bellte der Bürgermeister. „Man wird dir schon sagen, worum es geht!“

Das war unmissverständlich genug. „Okay, meinetwegen“, gab sich Albin geschlagen. Andere Möglichkeiten schienen in diesem Moment ausgeschlossen. Nach einer weiteren ruckartigen Armbewegung des Bürgermeisters und einem kurzen Schubs mit dem Bürgermeisterstab ging er endlich hinein in die Ältestenhalle, deren breite Eingangstür ihm von zwei widerwillig dreinblickenden Bediensteten der Ältestenhalle reflexartig aufgemacht wurde. Nachdem er an ihnen vorbeiging, verbeugten die sich pflichtbewusst und schlossen sofort wieder die Tür von außen zu. Albin musste sich erst an diese Ehren gewöhnen und regte sich nun, da er dem Dorfältesten persönlich unter die Augen trat, mit jeder Sekunde mehr darüber auf, dass ihm der Bürgermeister nicht einmal Zeit für einen kurzen Umzug ließ. Was konnte denn nur so unglaublich dringend sein?

Die Ältestenhalle war für hiesige Verhältnisse ein stattliches Gebäude, welches über einen kleinen Vorraum, eine Bedürfnisanstalt und der eigentlichen Ältestenhalle, einem großen Innenraum, verfügte. Albin ging durch den Vorraum, vorbei an der Bedürfnisanstalt in den nächsten Raum. In der Ältestenhalle selbst saß nur der Dorfälteste in einem breiten Sessel am anderen Ende des Raumes und blinzelte Albin merkwürdig zu. Es war Baldomir der Dreiundvierzigste, der in der einen Hand den Ältestenstab der altvorderen Dorfältesten und in der anderen Hand einen bunten Malstift hielt.

„Hoher Dorfältester. Ich wurde zu Ihnen hineingebeten“, begann Albin das Gespräch.

„Ja, das stimmt“, krächzte der Dorfälteste. „Wieso trägst du einen Schlafanzug? Hast du nichts Anständigeres zum Anziehen?!“

„Doch“, versicherte Albin. „Aber der Bürgermeister gab mir dafür keine Zeit und...“

„Jaja, um Ausreden nie verlegen, die Jugend von heute!“ unterbrach ihn der Dorfälteste schroff. „Doch ich will dir trotzdem sagen, warum ich dich hier her bestellt habe.“ Der Dorfälteste machte eine lange Pause, atmete ein paar Mal schwer ein und aus und fuhr fort: „Ich hatte diese Nacht eine Vision. Ein sehr dunkles Omen, aiiiaiiiaiii!!!“

Eine kurze, unangenehme Pause entstand, in der niemand wusste, was er daraufhin sagen sollte, vor allem nicht Albin.

„Waren Sie schon beim Dorfarzt?“ erwiderte er höflich besorgt mit dem Erstbesten, das ihm einfiel. Und es war das erste und einzige, das ihm in diesem Moment einfiel.

„Schweig du nichtsnutziger Narr! Ein Omen ist keine Krankheit oder blödes Gewäsch eines senilen alten Mannes“, klärte der Dorfälteste Albin auf und bohrte sich dabei mit dem Malstift in der Nase herum. „Du musst mir jetzt ganz genau zuhören.“

Albin hörte dem Dorfältesten aufmerksam zu und wartete, bis der eine weitere lange Pause beendet hatte.

„Wo waren wir gerade stehen geblieben?“ krächzte der Dorfälteste.

„Bei eurem Omen, Hoher Dorfältester“, erläuterte Albin.

„Ach ja, richtig, das Omen. Ich sah in dieser Nacht in einem schier endlos langen Traum etwas sehr Mysteriöses und unglaublich Merkwürdiges vor meinem geistigen Auge, das mich zutiefst erschrocken hat. Mir sitzt der Schrecken immer noch in allen Gliedern und glaub mir mein Junge, in wirklich allen Gliedern!“ erzählte der Dorfälteste und begann zu zittern.

Albin wusste, dass der Dorfälteste ein sehr guter Geschichtenerzähler war, der jeder Legende seinen eigenen Stempel auflegte, allein seiner Art der Erzählung wegen. Wahrscheinlich würde er bei der Erzählung der Ereignisse wieder einmal deutlich übertreiben, dachte Albin.

„Höre gut zu, junger Albin“, mahnte er mit gebrochener Stimme. „Es war eindeutig. Furchtbare Dinge werden geschehen. Furchtbarer als du sie dir in deinen schlimmsten Träumen auch nur vorstellen könntest. Es werden Tage kommen, an denen sich beide Sonnen und der grüne Mond verfinstern und die Tiere verrückt werden. Unsere Felder werden verdorren und unsere Häuser brennen!“

Klassischer Fall eines Weltuntergangsszenarios, dachte Albin. Aber was denn für ein grüner Mond und welche beiden Sonnen?

„Unsere Weiber werden den Tieren gefügig und, und, und“, krächzte der Dorfälteste und versank augenkullernd sein Gesicht in die Brust. Dann schnarchte und sabberte er ein wenig und fiel in einen leichten, dösigen Schlaf.

„Hoher Dorfältester!“ weckte ihn Albin auf.

„Aaahhh! Was, wie?!“ krächzte er. „Wo war ich stehen geblieben?“

„Bei Eurem Omen.“

„Ach ja, das Omen, richtig.“

„Was habt Ihr genau gesehen?“ fragte Albin.

Der alte Mann atmete tief durch und dachte noch einmal über den Traum nach. „Ich sah, ich sah“, begann er und sah nach oben an die Decke der Ältestenhalle, ganz so als würde sich dort sein Traum wie ein Film noch einmal von vorne abspulen lassen. Albin blickte unweigerlich ebenfalls nach oben, konnte jedoch nicht mehr erkennen, als restaurierungsbedürftigen, alten und schlecht gemachten Stuck. „Ich sah die große alte Wellhornschnecke. Sie kam immer näher auf mich zu. Sie war riesig und fett und so schleimig wie du sie dir nicht vorstellen kannst“, krächzte der Dorfälteste. „Sie fraß alles auf, was ihr im Weg lag, einfach alles.“

Das war wirklich ein sehr mysteriöser und unglaublich merkwürdiger Traum, dachte Albin, aber... „Was hat das zu bedeuten?“ fragte er.

„Was hat das zu bedeuten?!“ polterte der alte Mann, haute mit beiden Fäusten auf seine Stuhllehnen und zog seinen Malstift wieder aus der Nase, um damit wild in der Luft herum zu gestikulieren. „Lest ihr denn heutzutage keine anständigen Bücher mehr, ihr verzogenen kleinen Rotzbälger?!“

Albin dachte eine Weile darüber nach, wann er das letzte Mal ein Buch über riesige Wellhornschnecken gelesen hatte, das ihm in dieser Situation ein wenig weiterhelfen konnte, doch er musste passen. „Es tut mir leid, hoher Dorfältester. Doch vielleicht erweist ihr mir eine große Gnade und belehrt mich.“

„Jaja, von mir aus“, krächzte der Dorfälteste und gebot Albin mit einer abweisenden Handbewegung zu schweigen. „Die beiden Dorfmagier haben mir heute Morgen erklärt, dass es sich um das sogenannte böse mausgraue Omen der magisch-dämonischen Düsternis und okkulten Dunkelheit handelt.“

Albin runzelte die Stirn.

„Sie meinten, das sei kein gutes Omen“, ergänzte der Dorfälteste.

Albin wagte es nicht, noch einmal zu fragen, was dieses Omen nun konkret bedeutete und wartete deshalb wieder eine Weile, bis der Dorfälteste ihm mehr darüber erzählen würde. Nachdem dieser jedoch wieder eingeschlafen war, meldete sich Albin noch einmal. „Was bedeutet das Omen und was hat das mit mir zu tun, hoher Dorfältester?“

Der alte Mann wachte wieder auf. „Was, wie? Wo bin ich?“ keuchte er. „Ach ja, ich vergaß dir zu sagen, was es genau bedeutet. Nun, der uralten biglundischen Prophezeiung zufolge ist es so, dass nun der böse Hexenmeister Prosta unser geliebtes Biglund in ein neues Zeitalter des Chaos stürzen will, weil sich seine Frau von ihm scheiden ließ, dieses blöde Weibsstück“, krächzte der Dorfälteste. „Du musst das verhindern!“

„Ich!? Aber wieso ich!?“ fragte Albin völlig entsetzt.

„Weil du der Auserwählte bist. Ich habe die riesige Wellhornschnecke klar und deutlich Armin oder Adolf sagen hören. Ich weiß es nicht mehr genau, welcher von den beiden Namen es war, aber wir haben seit Jahrzehnten keinen Adolf mehr und ein Armin hat hier noch nie gelebt“, erklärte der Dorfälteste krächzend.

„Und wieso bin dann ich der Auserwählte!? Ich heiße weder Armin, noch Adolf!?“ beschwerte sich Albin. „Und seit wann kann eine fette Wellhornschnecke eigentlich klar und deutlich reden?“ dachte er weiter, ohne diesen Gedanken laut zu äußern.

„Na weil dein Name noch am Ähnlichsten wie Adolf oder Armin klingt. Hier im Dorf fängt sonst niemand mit dem Buchstaben A an. Die haben doch alle solche Namen wie Treputaf, Kloobolas oder Glattschpater!“ brabbelte der alte Mann, verdrehte dabei die Augen und sabberte ein wenig. „Es steht in der uralten Prophezeiung von Biglund. Gehe in die Bücherei, wenn du mir nicht glaubst und sofern du einen Büchereiausweis hast.“

„Verdammt“, dachte Albin, denn er hatte keinen Büchereiausweis. „Na schön. Was muss ich tun?“

„Also, alles was du machen musst, ist das Siegel der Macht zu finden und zu verhindern, dass Prosta es mit den vier Samen der Elemente "upgradet" oder wie ihr nichtsnutzigen jungen Bälger das heutzutage nennt. Am besten du gehst zuerst einmal meinen Schwiegersohn König Theobald den Siebten in Braksop besuchen. Ich habe ihn durch Korruption und Vetternwirtschaft zur Macht verholfen also ist er mir noch einen Gefallen schuldig“, krächzte der alte Mann. „Richte ihm ruhig einen Gruß von mir aus.“

„Und wo finde ich Das Siegel der Macht und die vier Samen der Elemente?“ fragte Albin, etwas erschlagen von der Fülle an neuen höchst dubiosen und wenig einleuchtenden Informationen und Schlussfolgerungen. Albins Verwirrung stieg mit jeder Sekunde an.

„Dir täte es gut, ein wenig mehr zu lesen, junger Mann! Gehe zu Theobald. Der wird es dir erklären“, antwortete der Dorfälteste schroff. Und kaum hatte er diesen Satz ausgesprochen, schlief er auch wieder ein.

Albin blieb wie angewurzelt stehen. „Habe ich das eben richtig verstanden? Ich muss ganz Biglund retten? Ich ganz alleine?“ Albin dachte noch einmal darüber nach und dabei es kam ihm so vor, als ob gerade im Inneren seiner Magengegend ein Flächenbrand tobte. Gleichzeitig erreichte seine Verwirrung ein Niveau, ab dem das Sprechen beinahe unmöglich erscheint, der Mund ungläubig offen steht und lediglich "Ähm"- Laute aus dem Mund kommen.

Zwei weitere Wachen der Ältestenhalle betraten den Raum und wiesen Albin höflich an, sich schnell und unauffällig aus dem Staub zu machen. Albin folgte brav und verließ das hohe Haus.

„Ich muss ganz Biglund retten?“ dachte er wieder vor der Ältestenhalle, noch immer im Schlafanzug stehend. Das bedeutete Abenteuer, fremde Welten und vielleicht sogar Reichtum und leichte Mädchen! Also all das, worauf ein typischer Bewohner des Quelldorfes überhaupt keine Lust hatte. Albin war ein typischer Bewohner des Quelldorfes. Er stöhnte und dachte: „Warum muss das eigentlich genau mich treffen und nicht irgendjemand anderes?“ Dann fiel ihm unweigerlich auf, dass der Bürgermeister noch immer vor der Tür stand und wohl auf ihn gewartet hatte.

„Und, worum ging es?“ fragte er Albin.

„Ein böser Hexenmeister wurde von seiner Frau verlassen und will nun mit dem Siegel der Macht und den vier Samen der Elemente ganz Biglund in unendliches Chaos stürzen. Und der Dorfälteste weiß das, weil ihm in einem Alptraum eine riesige Wellhornschnecke begegnet ist, die ihm mitteilte, ich sollte den bösen Hexenmeister davon abhalten“, antwortete Albin wahrheitsgemäß.

„Nun, dann viel Glück“, sagte der Bürgermeister bedeutungslos und verschwand auf der Stelle.

Albin kehrte unter den missgünstigen Blicken der Dorfbewohner niedergeschlagen wieder zurück in sein Zuhause und frühstückte zu Ende. Er ließ die letzten Geschehnisse noch einmal durch seinen Kopf gehen, hörte kurz mit dem Essen auf und fragte sich plötzlich allen Ernstes, ob er soeben nicht nach Strich und Faden für dumm verkauft wurde. Eine Wellhornschnecke? Adolf? Das konnte doch alles hinten und vorne nicht stimmen. Doch dieser Gedanke wurde im Nu beiseitegeschoben, weil vorsätzliches An-der-Nase-herum-führen im Königreich Splinarsa, zu dem das Dorf an der Bachquelle einschließlich der alten Wassermühle gehörte, außer an Feiertagen strafbar war und auch ein Dorfältester nur an Feiertagen über dem Gesetz stand. „Und heute ist kein Feiertag“, dachte Albin. Also wurde er definitiv nicht veräppelt. Und träumen tat er in diesem Moment auch nicht, denn im Traum konnte man schließlich nicht schmecken, wie gut ein Frühstück ist. Das konnte nur eines bedeuten: Sein Tag war im Eimer, und wahrscheinlich sogar viel mehr als nur ein Tag, denn er hatte noch nicht einmal die geringste Ahnung, wohin er überhaupt musste, nachdem er den König in Braksop um Rat gefragt hatte.

So einiges stand übrigens im Königreich Splinarsa unter strenger Strafe. Es war unter anderem nicht erlaubt, bei Mitternacht nackt auf einem Pferd sitzend zu angeln oder als männliche und unverheiratete Person einen ausgewachsenen Gnom als Haustier zu halten. Sogar Wirbelstürmen wurde es durch ein königliches Dekret untersagt, an bestimmten Tagen und zu bestimmten Uhrzeiten die splinarsaischen Landesgrenzen zu überschreiten oder sich innerhalb derer plötzlich zu entwickeln. Leider wurde diesbezüglich jedoch nachwievor keine effektive Möglichkeit der Durchsetzung dieses Verbots ausfindig gemacht.

Albin frühstückte zu Ende und sah noch einmal voller Wehmut aus dem Fenster. Er grüßte dabei die Dorfbewohner, die zu ihm hinübersahen mit einem leichten Nicken, doch diese waren soeben dabei, sich über die Tatsache aufzuregen, dass er wenige Minuten vorher noch lediglich mit einem Schlafanzug bekleidet durch das halbe Dorf schritt und überlegten sich bereits angemessene Formen der Bestrafung für diese Schandtat. Dementsprechend wurde Albins Nicken auch nicht freundlich zurückgegrüßt, sondern allerhöchstens mit einer zur Faust geballten Hand oder einem verächtlichen Kopfschütteln erwidert. Albin machte sich nichts daraus, denn schlimmer konnte es ohnehin nicht mehr kommen. Er ging in sein Zimmer, zog sich ein paar Sachen an, die von der überwiegenden Mehrheit aller sittlich denkenden Dorfbewohner als weitestgehend anständig angesehen wurden und packte ein paar Sachen in seinen Rucksack ein, die für eine unbestimmt lange Reise in ein unbestimmtes Gebiet ausreichen mussten, vor allen Dingen all sein Geld. Dann sah er noch einmal in den Spiegel und sprach sich Mut zu. Sein Spiegelbild machte jedoch nicht so recht mit.

Damit waren alle notwendigen Vorbereitungen für die Reise getroffen und Albin konnte zu seiner Mutter in die Küche hinuntergehen, um sich bei ihr zu verabschieden. Sie war immer noch mit der Marmeladenzubereitung beschäftigt, als er dort ankam.

„Mama, ich muss dir etwas Wichtiges sagen“, sagte Albin.

Seine Mutter drehte sich um und fragte: „Was denn?“

„Ich muss gehen. Und ich weiß auch nicht, wann ich wieder komme.“

„Gehst du wieder Pilze sammeln?“ fragte sie und bereitete sich vor, ihm dieses Hobby in einem längeren Streitgespräch wieder einmal austreiben zu wollen.

„Nein, diesmal nicht. Es ist aber ungeheuer wichtig. Mache dir keine Sorgen, wenn ich auch nach langer Zeit nicht mehr wieder komme. Mir wird es schon gut gehen.“ „Wohin geht es denn?“ fragte Albins Mutter besorgt.

„Ich gehe meinen alten Onkel Baram besuchen. Er schrieb mir einen Brief und meinte, er hätte neues Rauchkraut geerntet“, log Albin. Sein Onkel Baram wohnte einige Tagesmärsche weit weg vom Quelldorf.

„Na gut, aber dass du mir ja nicht wieder zu viel rauchst“, mahnte seine Mutter. „Du weißt ja, das ist ungesund.“

„Ja, Mama!“

„Hast du alles eingepackt, was du brauchst?“

„Klar. Sag Papa einen Gruß von mir und meinem Chef, dass ich eine Weile weg bin und Urlaub mache. Ich muss jetzt so schnell wie möglich gehen.“

Mit einer letzten Umarmung verabschiedete sich Albin von seiner Mutter und verließ das Haus. Die lange Reise konnte beginnen.

Albin machte sich auf den direkten Weg nach Braksop und verließ das Quelldorf, an dessen Dorfrand bereits der sagenumwobene und für die Dorfbewohner verwunschene Nebelwald lag. Es war ein geheimnisvoller, beinahe mystischer Ort, an dem die Dorfkinder aufgrund seiner geheimnisvoll mystischen Art nicht spielen durften. Albin war bereits einige Male dort, um eine bestimmte Sorte Pilze zu suchen, die im Verdacht standen, das Bewusstsein zu erweitern. Doch diesmal war er auf einer heiligeren Mission und gönnte sich diesen Luxus ausnahmsweise nicht. Stattdessen überquerte er ohne Umschweife die sogenannte große Vogelwiese, die sich zwischen dem Nebelwald und Quelldorf befand und setzte auf dem beschilderten Wanderweg den ersten Schritt in den Wald hinein.

Albin kannte selbst den Weg nach Braksop, wo König Theobald der Siebte thronte. Er führte auf der kleinen Straße geradewegs durch den Nebelwald, der sich genau zwischen den beiden Städten befand und seine Heimat, das Oberland, vom Unterland trennte. Vor einem musste er sich dort jedoch sehr in Acht nehmen, nämlich vor den grasgrünen Warzas, einer höchst merkwürdigen Lebensform, die sich nur im Nebelwald aufhielt und sogar die großen Bauernaufstände zu Beginn des neuen Zeitalters, die sich größtenteils am und im Nebelwald abspielten, ohne nennenswerte Verluste überlebte. Der gemeine grasgrüne Warza war genauer gesagt ein sehr widerspenstiges, oval geformtes, äußerst seltsames Wesen, das einfach alles und jeden unverhofft mitten ins Gesicht oder an jede andere erdenkliche Körperregion sprang. Albin sorgte für diesen Fall vor, indem er sein altes Vierkantholz von Zuhause mitnahm. Er hielt es schlagbereit in der rechten Hand, als er den ersten Schritt in den Nebelwald wagte.

Viele unbedenklich schwache und völlig ungefährliche Tiere befanden sich direkt vor ihm, an der Schwelle zum Nebelwald, doch das würde sich mit jedem Markierungsstein, an dem er vorbeizog eine ganze Spur ändern können. Albin schritt den Weg entlang, der nach Braksop führte und war dabei in ständiger Kampfbereitschaft. Jedes noch so hinterhältige Knistern, jedes noch so verräterische Zucken hätte für dasjenige, was da so hinterhältig zuckte oder verräterisch knisterte, mit einem ordentlichen Schlag durch das Vierkantholz geendet.

Eine ganze Weile lang tat sich nichts, während Albin den Weg durch den Nebelwald wanderte. Es gab weder ein Knistern, noch ein Zucken und auch kein Murren und Knurren. Es war nicht einmal ein kleines Huschen zu hören. Es war eigentlich für hiesige Zustände merkwürdig ruhig in dem Wald, vielleicht sogar zu ruhig. Albin konnte sich nicht daran erinnern, dass es in diesem Wald einmal tatsächlich so ruhig gewesen wäre, aber vielleicht täuschte er sich auch, da er sich normalerweise auch am wesentlich geräuschvolleren Waldrand aufhielt, weil dort am meisten Pilze und - wesentlich bedeutsamer - am wenigsten gefährliche Tiere - allen voran große, ovalförmige und angriffslustige Warzas - aufhielten. Vielleicht hatten die anderen Tiere des Waldes zu große Angst, sich mitten in den Nebelwald zu begeben. Vielleicht hatte es auch ganz andere Gründe, zu deren fachgerechter Lösung es der Heranziehung mindestens eines biglundischen Gelehrten der Biologie bedurfte. Doch eines war klar: Es war einfach viel zu ruhig in diesem gottverlassenen Wald.

So ging es auch viel zu ruhig weiter, zumindest eine gewisse Zeit lang. Doch dies änderte sich plötzlich und ohne jedes noch so kleine Zeichen einer Vorwarnung, als etwas ganz in der Nähe befindliches mit voller Wucht direkt in Albins Hinterkopf sprang. Es gab einen sehr dumpfen Aufschlag, auf den ein sehr dumpfer Schmerz folgte.

„Aaahhh!!!“ schrie Albin, stolperte einen Meter nach vorne und drehte sich schnell um.

Tatsächlich, es war ein Warza! „Uoouh! Uoouh!“ grölte es. Ein seltsamer Ruf, denn der eigentliche Ruf eines gemeinen Warzas klang mehr wie ein „Phuääh!“ Mit einem neuen Sprung kam es nun direkt auf Albins Magengegend zu. Albin hatte keine Zeit zum Nachdenken. Reflexartig wich er der Kreatur aus. Es musste ein sehr angriffslustiges und schnelles Exemplar dieser Gattung sein. Albin wurde nervös. Adrenalin schoss durch seinen Körper. Seine Augenlieder zuckten und seine Knie wurden weich. Seine Sinne schärften sich und seine Schweißdrüsen sonderten Schweiß ab, um seinen Körper abzukühlen. Sein Puls erhöhte sich. Dann zuckten wieder seine Augenlieder und sein Mund wurde trocken. Es war alles so unglaublich aufregend, aber auf eine ziemlich beschissene Art und Weise.

Albin nahm all seinen Mut zusammen und holte mit seinem Vierkantholz weit aus, da sprang ihn das grüne Warza völlig unverhofft wieder an und wollte ihn allem Anschein nach direkt im Gesicht treffen. Wieder musste er schnell ausweichen, um schlimmere Folgen, welche aus der Umsetzung dieser Absicht zwangsläufig resultieren würden, abzuwenden. Das Warza hörte nicht auf, sofort nach dem einen Fehlschlag einen neuen Rammversuch zu starten. Wieder kam es auf ihn zu und wollte ihn im Leistenbereich treffen. Doch anstatt auszuweichen, schleuderte Albin das Ding diesmal mit einem schnellen und beherzten Schlag in dessen Fratze weg von sich in die dicke, graue Nebelwand. Das Warza flüchtete panisch.

„Puh, das war knapp“, dachte Albin, denn um ein Haar hätte er sich eine leichte Prellung zugezogen, die im schlimmsten Falle sogar mit einem blauen Fleck geendet hätte. Der Kampf dauerte über eine Minute lang. Albin verschnaufte erst einmal.

Das, was ihn soeben attackierte war ein starkes Warza, denn es hatte ganze fünf rote Bommel am Körper. Albin sah normalerweise wenn überhaupt einmal ein Warza mit drei oder vier Bommeln. Exemplare mit fünf roten Bommeln waren hingegen eine Rarität. Es war sicher ein Zeichen dafür, dass auch die Natur aufgeschreckt war durch die neuesten Ereignisse und nun ein wenig verrücktspielte. Es lag etwas in der Luft und es roch verdächtig nach großem Ärger. Wahrscheinlich hatte der Dorfälteste tatsächlich Recht, dachte Albin. Im nächsten Moment stellte er zwar fest, dass dieser merkwürdige Geruch, der in der Luft hing, anscheinend von einem kleinen Überrest tierischer Exkremente am Wegesrand maßgeblich mit verursacht wurde, doch ein fünfbommeliges Warza war auf jeden Fall kein gutes Zeichen und allein deshalb zweifelte Albin keineswegs mehr an seiner Mission. Die Zeichen waren zu eindeutig.

Nach einer kurzen Verschnaufpause ging es weiter. Nun war Albin ein ganzes Stück vorsichtiger als davor und hielt sein Vierkantholz deutlich stärker in der Hand umklammert. Er musste sehr auf der Hut sein. Die Geschöpfe des Waldes waren schließlich hinterhältig, verdorben und bis in das finsterste Innere ihrer abgrundtiefen Seele durchtrieben und die Warzas waren nicht einmal die fiesesten unter ihnen. Inzucht, Kannibalismus und Rassendiskriminierung gehörten genauso zum trostlosen Alltag dieser geistig minderbemittelten Lebewesen wie Drogenhandel, Bandenkriege und sonstiges organisiertes Verbrechen. Man erzählte sich im Dorf nicht selten die gruseligsten Geschichten, die leichtsinnigen Menschen passierten, als sie diesen Wald durchqueren wollten. Von einem Nachbarn hörte Albin einmal, dass er von seinem Schwager hörte, dass dessen Bekannter einmal jemanden kannte, der von einem anderen gehört hatte, dass dieser jemanden gesehen hatte, der dort von einer riesigen Blume gefressen wurde. Albin wusste zwar nicht, ob es stimmte, doch es war allemal ein Grund, besondere Vorsicht walten zu lassen.

Der Wald wurde im Laufe des weiteren Weges immer dichter und nebeliger, sodass Albin bald nur noch eine kurze Strecke vor sich erkennen konnte. Er schlich mehr, als er durch den Wald wanderte, um keine Tiere anzulocken. Im Nebel war er ihnen klar unterlegen. Seine Taktik ging glücklicherweise eine Zeit lang auf, denn außer einem gelegentlichen Rascheln passierte eine ganze Weile nichts Bedrohliches. Dann kam er plötzlich an einer Frittenbude vorbei, bestellte sich dort aber nichts, denn das Fett roch bereits sehr alt. Anschließend war es wieder sehr ruhig. Vielleicht war es zu ruhig. Insbesondere begegnete er bisher keiner fleischfressenden Riesenblume, was einerseits durchaus erfreulich, andererseits wiederum beunruhigend war. Denn lange blieb es im Nebelwald für gewöhnlich nur dann ruhig, wenn gerade etwas Gefährliches lauerte. Zumindest erzählte man sich das im Dorf.

Die Geschichte des Nebelwaldes war weit bemerkenswerter als es der Wald selbst und seine begrenzte Flora und Fauna für Fremde und Ortsunkundige zunächst vermuten ließ und noch viel weniger sein junges Alter. Denn der Nebelwald existierte erst seit ungefähr anderthalb Zeitaltern, wobei die Zahl anderthalb an dieser Stelle leidlich ungenau, vielmehr falsch ist, da man zu jener Zeit noch nicht wissen konnte, wann sich das derzeitige Zeitalter seinem Ende neigen würde, beispielsweise aufgrund eines großen und bedeutsamen Ereignisses oder - wie in den meisten Fällen - aufgrund eines einstimmigen Beschlusses hochrangiger Gelehrter und bestechlicher Politiker, denen das derzeitige Zeitalter bereits zu lange andauerte oder denen sehr an der Verjährung eines Straftatbestandes gelegen war. Doch die Benennung eines Zeitraumes, der bereits in den Beginn des vorherigen Zeitalters reichte, wurde umgangssprachlich mit der Zahl anderthalb angegeben, weil bis zu jener Zeit keine vernünftigere Alternative gefunden wurde, da die meisten Bewohner Biglunds selbst nicht so genau wussten, in welchem Jahr des derzeitigen Zeitalters sie sich befanden. Jedenfalls begab es sich so, dass der Nebelwald erst zu Beginn des vorangegangenen Zeitalters nach biglundischer Zeitrechnung existierte. Es war einer der wenigen künstlich angelegten Wälder Biglunds und er wurde nur deshalb angelegt, weil die Bewohner des Oberlandes, zu dem vor allem das Quelldorf und mehrere umliegende Dörfer gehörten, nichts mehr mit dem zu tun haben wollten, was sich hinter dem zu pflanzenden Nebelwald befand und davon ausgingen, dass ein Wald als natürliches Hindernis ausreichen sollte, ihnen diesen Wunsch zu erfüllen. Tatsächlich ging dieser Wunsch in Erfüllung, allerdings lag das vielmehr daran, dass alles, was sich hinter dem Nebelwald verbarg, selbst kein Interesse mehr an den Bewohnern des Oberlandes hatte. Der Grund für das gegenseitige Misstrauen zwischen den Menschen, die den Nebelwald pflanzten, und allem anderen, was sich dahinter verbarg geriet mit der Zeit in Vergessenheit, sodass sich eine Vielzahl von Mutmaßungen, Spekulationen und Mythen um den eigentlichen Grund rankten, von denen eine unglaubwürdiger als die andere war und regelmäßig zu handfesten Streitigkeiten unter den Bewohnern des Oberlandes führte.

Albin ließ sich nicht verunsichern und schlich vorsichtig weiter. Er musste den Markierungen zufolge etwa zwei Drittel des Waldweges hinter sich gelassen haben, als der Nebel allmählich wieder schwächer wurde. Es war schon fast Mittag und diese eigentlich so lapidare Tatsache war für Albin gerade ein riesiges Problem. Denn bis zu seinem Ziel hätte genau deshalb noch alles Mögliche passieren können, vorausgesetzt es hätte sich noch in den gesetzlichen Grenzen der Logik und Magie von Biglund gehalten. Denn nach den Gesetzen der Logik und Magie von Biglund war so Einiges möglich. Gerade um die Mittagszeit wurden demnach alle Tiere in der Nähe des Quelldorfes aggressiver und suchten förmlich nur so nach Streit. Die Mittagszeit war die gefährlichste Tageszeit in dieser Region. Warum das im Übrigen so war, wusste niemand so genau und es rankten sich wie immer in solchen Fällen zahlreiche Mythen und Legenden um die Ursache dieses seltsamen Phänomens.

Albin musste sich beeilen, um vor Anbruch der Mittagszeit den Nebelwald durchquert zu haben. Er beschleunigte sein Tempo und verzichtete auf das Herumschleichen. Immer schneller hastete er durch den Nebelwald und kam in regelmäßigen Abständen an den am Wegesrand liegenden Markierungssteinen vorbei. Immer wieder konnte er hinter sich ein lautes Rascheln oder Huschen, bzw. Murren oder Knurren hören, doch er war schnell und dachte nicht daran, sich von den Strapazen des Waldweges auszuruhen. Nur ein Warza mit gerade einmal zwei Bommeln ließ es sich anscheinend nicht nehmen, aus dem dichten Unterholz zu seiner Linken zu kommen und direkt vor seiner Nase aufzutauchen. Doch es war schwach und unbeholfen und Albins stürmischer Wut und panikartiger Verzweiflung über die heranrückende Mittagszeit in keinster Weise gewachsen. Mit einem wuchtigen Schlag durch das Vierkantholz wurde es niedergestreckt und flüchtete jaulend in die Tiefen des Waldes. „Mysteriös“, dachte Albin, denn plötzlich lag hinter ihm ein halbes Grillhähnchen auf dem Boden.

Albin schaffte es endlich, noch knapp vor der Mittagszeit am Ende des Waldweges anzukommen. Erleichterung machte sich breit. Braksop! Auf der anderen Seite des Waldes konnte er es sehen. Da lag es nun hinter einer großen Wiese voller halb bestellter Felder direkt vor seinen Füßen: Die Hauptstadt des großen und glorreichen Königreiches Splinarsa, mit all seinen hohen Türmen und dicken Mauern. Legenden und Mythen, Logik und Magie, Gut und Böse rankten sich um die Stadt, ganz so als wollten sie diese Metropole jeweils für sich beanspruchen. Das war also Braksop, Heimat der unbegrenzten Möglichkeiten, Ort der Krieger und Zauberer, Stadt der Musen und der Krämerseelen, Biglunds große Perle und Zankapfel vieler Mächte und Epochen. So stand es zumindest einmal in einem Werbeprospekt, welches Albin von einem Reisebüro im Nachbardorf fünf Jahre zuvor mitnahm und sich auf eine seiner Zimmerwände klebte. Die hohen Mauern aus dickem Stein gewährten ihm nur einen schmalen Einblick in die Stadt. Albin ging den Wanderweg weiter auf die Stadt zu, denn er führte direkt zu einem der Tore. Er war schon sehr gespannt darauf, die Hauptstadt des Königreichs einmal von innen zu sehen, denn er konnte sich nicht daran erinnern, dies jemals getan zu haben und das obwohl sie nicht einmal weit entfernt war. Aber ein Quelldorfbewohner reist nun mal nicht gerne. In Erwartung von dem Ausmaß an Glanz und Prunk betrat er das Tor, das vor ihm von zwei gelangweilt aussehenden Wachen geöffnet wurde.

Die Wahrheit war anscheinend weitaus profaner als das Werbeprospekt vermuten ließ. Streunende Katzen jagten Ratten und Mäuse die Straßen entlang, an deren Seiten viel zu alte Frauen bestimmte Dienste anboten, die weder ihrem Alter, noch ihrem Anblick entsprachen. Kinder spielten in Schlammpfützen und machten sich dadurch ihre Klamotten schmutzig, Ungeziefer krabbelte, kroch, flog oder schwirrte herum und junge Zaubererlehrlinge besorgten für ihre Meister ein paar Arbeitsutensilien in den ausgefallensten und schäbigsten Läden, die Albin je gesehen hatte. Die eine Hälfte der Häuser war längst grundsanierungsbedürftig und ein Drittel der anderen Hälfte war noch nicht einmal zu siebzig Prozent fertig gebaut oder kläglich durch die Verwendung einfachster Bauzauberei vor dem vorzeitigen Einsturz bewahrt. Bauzauberei war nun mal teuer. Das Einzige, was in dieser Stadt augenscheinlich gut instandgehalten wurde, waren ein paar Lesben-Bars und die Türme, in denen sich entweder Zauberer, Steuereintreiber, Zöllner oder Gefangene aufhielten. Albin konnte es kaum glauben, hier richtig zu sein, doch sämtliche Indizien, insbesondere das Schild mit der Aufschrift „Braksop - Hauptstadt des Königreichs“, das er schon vor dem Betreten der Stadt am Wegesrand sah, sprachen klar für diese Annahme. Hinzu kam, dass man hier einen anderen Dialekt sprach, als in dem Dorf, aus dem Albin stammte und in dem man sich genau über diesen Dialekt der Stadtmenschen leidenschaftlich aufregte. Das war also Braksop. Vielmehr ein Schmelztiegel zahlloser sozialer Schichten, Kulturen, Weltanschauungen und ein wild zusammengebrautes Gemisch aus Kriminalität, eigenbrötlerischer Selbstsüchtigkeit, Unrat und dessen, was man armseliges Leben nennt.

Albin ging neugierig die Straße entlang, in der Hoffnung auf handfeste Indizien zu stoßen, die ihm bei seiner Suche nach König Theobald dem Siebten weiterhelfen konnten. Doch er fand nichts: Kein Wegweiser, keine Menschen, die auch nur irgendein Wort über ihn verloren und auch sonst nicht der kleinste Hinweis in dieser hoffnungslosen Gegend. Albin fiel nach einiger Zeit auf, dass er überhaupt keine Ahnung hatte, wo sich König Theobald der Siebte überhaupt befinden konnte. Denn erstaunlicherweise sah er weit und breit keine Burg und kein Schloss, in dem dieser hätte residieren können. Albin ging weiter in Richtung Stadtmitte, in der Hoffnung, irgendwo wenigstens eine bürgerlichere Gegend finden zu können. Die Personen und sogar die Tiere, welche ihm auf dem Weg dorthin begegneten, betrachteten ihn mit großem Argwohn und spürbarer Missgunst. Es bestand von vornherein nicht der geringste Zweifel daran, dass Albin ganz und gar nicht willkommen war in dieser Stadt.

Die versiffte Gegend veränderte sich dem äußeren Anschein zwar nicht allzu sehr, doch immerhin kam Albin nach einiger Zeit am Marktplatz der Hauptstadt an, auf dem sich einige Leute tummelten und umhergingen. „Die machen wenigstens einen seriöseren Eindruck“, dachte er. Vielleicht wussten ja diese Stadtmenschen wirklich mehr als er. Albin suchte sich einen der allerbuckligsten Marktplatzpassanten aus und ging zu ihm.

„Entschuldigen Sie bitte. Wo finde ich König Theobald den Siebten?“ fragte er ihn.

Der bucklige Mann sah Albin von oben bis unten misstrauisch an, kam dann ein gutes Stück mit seinem linken Ohr näher an Albins Mund heran und fragte: „Häh?“

„Ich suche König Theobald. Wissen Sie, wo er ist?“ fragte Albin erneut und diesmal deutlich lauter.

„Ich? Ja, das weiß ich“, antwortete der Bucklige und zog dabei eine schelmische Schnute.

„Und wo ist er?“ fragte Albin ungeduldig.

Der Bucklige spuckte auf den Boden und verzog sein Gesicht. „Nun, für drei Goldtaler oder ein Dutzend gerupfter Hühner verrate ich es dir“, bot er Albin an.

Empört von diesem völlig überteuerten Angebot und enttäuscht von seiner eigenen Zahlungsunfähigkeit wandte sich Albin wortlos von dem buckligen Passanten ab und suchte sich eine neue Möglichkeit. Eine nicht allzu weit entfernte Frau, die in purpurfarbene Tücher gekleidet war, schien allein optisch gesehen wesentlich vielversprechender. Albin ging zu ihr. „Entschuldigen Sie. Wo finde ich König Theobald?“

Die Frau sah Albin noch misstrauischer und missgünstiger an als der bucklige Mann gerade erst; ungefähr so, wie man ein lästiges Insekt ansah. Nachdem sie Albins Frage vernommen hatte, spreizte sie ihre Finger, welche sie mit hochgezogenen Augenbrauen eine kurze Zeit lang begutachtete. Schließlich antwortete sie dann: „Nun, für drei Goldtaler und eine Silberunze verrate ich es dir.“

Albin war geschockt. So eine Summe hatte er noch nie in seinem Leben besessen. Konnte die Inflation in dieser Stadt tatsächlich so viel angerichtet haben? „Nein danke!“ antwortete er und wandte sich von der Frau ab.

Doch er hatte eine bessere Idee. Im Bürgermeisteramt würde er sicher jemanden finden, dessen überbezahlte Arbeit es wäre, ihm zu sagen, wo sich der König befindet. Und nach kurzem Umsehen stellte er fest, dass das Bürgermeisteramt zu seinem Glück direkt am Marktplatz lag. Albin ging sofort hinein und suchte eine hilfsbereit wirkende Person. Die Auswahl fiel nicht schwer, da lediglich eine Person im Bürgermeisteramt anzutreffen war, was Albin bereits sehr erstaunte. Es war die Dame am Empfangsschalter, die sich gerade damit beschäftigte, den Belag von ihren Zähnen zu entfernen, bis sie etwas peinlich berührt bemerkte, dass sich nunmehr eine weitere Person im Raum befand. Albin näherte sich ihr und fragte: „Hallo, Wo finde ich König Theobald den Siebten?“

Die Dame am Schalter spielte sich am Haar herum, überlegte einen Moment lang, kräuselte den Mund und machte anschließend eine Geste, welche unmissverständlich ausdrückte, dass diese Information ihr Geld wert sei.

Albin sah sie ungläubig an. Doch bevor er über den horrenden Preis der erwünschten Information aufgeklärt wurde, sah er bereits die Person, nach der er suchte. Ein breit gebauter Mann schritt hochnäsig wirkend mit zwei Gestalten als Gefolge einen kleinen Korridor entlang, der sich etwa zehn Meter von Albin entfernt befand und in einen weiteren Korridor mündete, welcher von der Empfangshalle in einen anderen Teil des Gebäudes führte. Der resolut wirkende Mann hielt ein Zepter in der rechten Hand und trug eine Rüstung und über der Rüstung ein langes, schwarz-gelbes Gewand mit einem aufgenähten Wappen, welches einen Hund darstellte, der gerade dabei war, versehentlich eine Katze zu besteigen. Das war das Wappen des Königreiches Splinarsa. Es musste eindeutig der König sein.

„Halt!“ schrie Albin, als sich der König in den anderen Teil des Gebäudes aufmachte, und bereute es im nächsten Moment, denn einen König schrie man ja nicht einfach so an.

„Was ist hier los?!“ antwortete König Theobald, drehte sich auf der Stelle um und blickte Albin direkt in sein verdutztes Gesicht.

„Entschuldigen Sie bitte vielmals, euer Majestät“, sagte Albin schnell und deutete eine Verbeugung an. „Aber ich muss Sie ganz dringend sprechen. Es geht um den Untergang von ganz Biglund.“

„Habe gerade keine Zeit. In einer halben Stunde habe ich einen Friseurtermin und muss mich darauf angemessen vorbereiten“, sagte der König wichtigtuerisch, drehte sich um und ging weiter den Korridor entlang.

„Aber der Dorfälteste Baldomir der Dreiundvierzigste schickt mich!“ brüllte Albin.

Der König und sein Gefolge blieben abrupt auf der Stelle stehen, rührten sich einen kurzen Moment lang nicht von der Stelle und drehten sich anschließend um. Albin hatte urplötzlich ein schlechtes Gefühl in der Magengegend. Die Augenbrauen des Königs fingen langsam an zu vibrieren und seine Lippen kräuselten sich. Anscheinend bereitete ihm das, was Albin gerade durch den Gang brüllte, großes Unbehagen. Er kam ganz langsam und bedrohlich auf Albin zu. Der befürchtete das Schlimmste, doch er hielt dem Blick des Königs tapfer stand, bis dieser keinen halben Meter mehr vor ihm stand und mit erregter Stimme endlich antwortete: „Soso. Baldomir der Dreiundvierzigste sagst du. Wer bist du überhaupt, wenn du von diesem Dorf kommst, von dem man sagt, dass es sich nur durch Sodomie und Inzucht all die tausend Jahre über Wasser halten konnte?“

Albin fühlte sich etwas beleidigt von diesem König, den er zuvor noch nie leibhaftig gesehen hatte. Und darüber hinaus verbreitete der König während des Aussprechens dieser Worte einen etwas unangenehmen Geruch, der in unmittelbarem Zusammenhang mit seinem königlichen Odem zu stehen schien. König Theobald der Siebte wirkte bedrohlich. Er musste sicher einer der durchtriebensten und machtbesessensten Könige sein, die es überhaupt einmal gegeben hatte. Das sagte man sich jedenfalls in Albins Dorf, vor allem innerhalb der Kreise des sogenannten gemeinen Fußvolkes. Und nun, da dieser König leibhaftig vor ihm stand, glaubte es Albin aufs Wort. Doch es war immerhin ein König und Albin musste diese Schmach über sein geliebtes Dorf wortlos über sich ergehen lassen. Dem König zu widersprechen wurde schließlich seit dem dritten splinarsaischen Konvent der Grenzdebilen und Inzestösen (einer Versammlung des Königreichs Splinarsa mit beschränkter Gesetzgebungsbefugnis) wahlweise entweder mit der Kastration oder der dreistündigen Kitzelfolter bestraft. König Theobald der Siebte war ein alter und fetter König, der aber weder durch sein Alter, noch durch seine Fettleibigkeit rein gar nichts an seiner durch Machtbesessenheit angetriebenen Energie eingebüßt hatte. Er fackelte nicht lange gegen Widerstände aus fremden, wie den eigenen Reihen und dachte sich ständig neue Möglichkeiten aus, sein Reich und seinen Einfluss zu vergrößern. Darüber hinaus war es ein äußerst selbstverliebter, arroganter und zuweilen großspurig angeberischer König, der seinen Bediensteten ungeheuerlich auf die Nerven ging. Und außerdem war er dumm, grob, aggressiv und beleidigend.

„Wie heißt du, Junge. Du siehst irgendwie aus wie dieser Adolf“, redete der König weiter und strich sich nachdenklich mit den Fingern durch seinen ungepflegten Drei-Tage-Bart.

„Euer Durchlaucht, mein Name ist Albin. Und wenn ich seiner Durchlaucht einen unterwürfigen Hinweis geben könnte...“

„Nein!“ unterbrach ihn der König. „Komm mit, wenn du tatsächlich von Baldomir dem Dreiundvierzigsten geschickt wurdest. Wir unterhalten uns in meinen luxuriösen Audienzräumlichkeiten.“

Der König wies Albin mit einer unmissverständlichen Handbewegung auf, mitzukommen und schritt nun wieder den Korridor entlang, an dessen Ende sich eine Tür befand. „Luxuriöse Audienzräumlichkeiten, hem?“ dachte Albin und kam ein wenig ins Schwärmen, wenngleich er auch irgendwie ein bisschen Furcht vor diesem König hatte. Er eilte dem König nach.

Als alle an der Tür am Ende des Korridors ankamen, nahm einer der Gefolgsleute des Königs, dessen Gesicht der Ausstrahlung einer eitrigen Pestbeule in nichts nachstand, einen kleinen Fetzen cyanblauen Stoffes aus einer seiner vielen Manteltaschen heraus, wedelte damit drei Mal an der Tür herum und sprach ein paar Worte in einer fremden Sprache. Dann öffnete sich die Tür. Der König sah voller Stolz und Selbstverliebtheit zu Albin herab und erklärte: „Ich habe einen der besten königlichen Obermagier in ganz Biglund.“ Albin konnte dem nicht viel Glauben schenken, denn sogar er sah bereits einige Zaubertricks, die diesen simplen Türöffnungszauber um Längen geschlagen hätten. Ein erfahrener Magier hätte diesen einfachen Bannspruch mit Leichtigkeit gebrochen und wäre direkt in die Räumlichkeiten des Königs gelangt. Doch der König war mit sich und seiner Leistung so zufrieden, dass er seinen Kopf so schnell und soweit zurück in die Schulter reckte, dass es einen empfindlichen Schmerz im Nackenbereich verursachte. Er stieß einen kurzen Schrei aus und versetzte zur Strafe für die eigene Dummheit seinem Gefolge einen kräftigen Hieb mit dem königlichen Zepter. Dann ging es wieder vorwärts durch die Tür, die in weitere, schlecht beleuchtete Gänge führte.

Albin fragte sich, warum König Theobald der Siebte seine Räumlichkeiten in so etwas Unspektakulären wie dem städtischen Bürgermeisteramt hatte. Keine Burg und kein Schloss, bei einem König, der selbstverliebter war als alles andere in Biglund? Königliche Räume hinter engen, schlecht beleuchteten Korridoren im Bürgermeisteramt schienen jedenfalls nicht zu dieser aufgeblasenen Person zu passen. Die Antwort darauf lieferte der König selbst, als er während des Voranschreitens durch die Gänge zu Albin sagte: „Ein König braucht kein großes Schloss und keine marmornen Hallen.“ Dabei kam es Albin fast so vor, als wäre eine ungeheure Wehleidigkeit in diesem ausgesprochenen Satz gewesen. „Ich bin ein bescheidener König, der seinem Volke nicht die Last vieler großer Bauten nur für meine Wenigkeit auferlegen will“, sagte er mit einem weiteren Anflug von Wehleidigkeit. Albin vermutete eher, dass es an dem durch die immensen Kriegsausgaben völlig desolaten Haushalt gelegen hatte, dass er sich nunmehr selbst kein Schloss mehr leisten konnte, denn freiwillig hätte dieser König nicht im Traum daran gedacht, auf allen möglichen Pomp zu verzichten, nur damit es seinem Volk besser ginge. König Theobald der Siebte führte schließlich seit über dreizehn Jahren einen absolut sinnlosen Krieg gegen ein kleines Nomadendorf in den Schwefelbergen, welches weder ökonomisch, noch strategisch irgendeinen Vorteil bot, wenn es dem Königreich Splinarsa gehören würde. Durch seine geografische Lage und die Kräfte eines anscheinend sehr fähigen Schamanen war das Dorf jedoch auch mit der modernsten splinarsaischen Kriegsmaschinerie fast nicht einnehmbar. Man sagte sich, dass König Theobald selbst nicht mehr wusste, warum er alles daran setzte, dieses Dorf einzunehmen, aber einem Gerücht zufolge musste es sich um eine verlorene Wette mit einem Kobold handeln, der angeblich die Macht hatte, dem König Schaden zuzufügen, wenn er seinen Wetteinsatz nicht einbrachte. Niemand sollte eine Wette mit einem Kobold eingehen.

Albin schritt dem König und seinem speichelleckenden Gefolge weiter hinterher und fragte sich langsam, wie viele dieser engen Gänge sie noch durchschreiten mussten, bis sie endlich die luxuriösen Audienzräumlichkeiten des Königs erreicht hätten. Zu allem Überdruss lobte dabei einer der beiden Gefolgsleute, nämlich der, welcher die Tür nicht magisch öffnete und daher wohl nicht einer seiner Obermagier war, den König für die lächerlichsten Dinge, die man sich vorstellen konnte. Dutzende Male erwähnte er außerdem, wie toll der König sei und wie bescheiden und wie gütig und wie großmütig und wie friedfertig und so weiter er auch sei, also genau die Eigenschaften, die er tatsächlich am allerwenigsten verkörperte. Albin hielt sich nach einer Weile die Ohren zu und tat dann schnell so, als hätte er sie sich wegen einem Juckreiz nur gekratzt, nachdem der König sein offensichtliches Desinteresse an der königlichen Größe merkte. Glücklicherweise kamen sie kurz danach in besagten Audienzräumlichkeiten an, die zu Albins Überraschung aus einem einzigen, etwa dreißig Quadratmeter großen Raum bestanden, in dessen Mitte ein Tisch mit zwei gegenüberstehenden, ungleich großen Stühlen stand und an dessen einer Seite daneben sich eine kleine, hässliche Topfpflanze befand. Am Ende des Raumes befand sich eine Tür, die den Zugang zum Schlafzimmer des Königs ermöglichte.

„Das sind meine Audienzräumlichkeiten“, prahlte König Theobald der Siebte und lud Albin mit einer Geste der Großzügigkeit ein, seine luxuriösen Audienzräumlichkeiten zu betreten.

„Luxuriöse Audienzräumlichkeiten, hem?“ dachte Albin unter anderem und setzte sich an den wesentlich kleineren Stuhl am Tisch.

Der König setzte sich breitbeinig gegenüber hin und verschränkte selbstgefällig die Arme. „Was willst du? Geld?“ begann er sofort das Gespräch. Anscheinend vermutete er, dass Albin kam, um ihn zu erpressen. Vielleicht wusste Baldomir der Dreiundvierzigste ein paar schmutzige Details aus seinem Privatleben, die ihn stark in Bedrängnis gebracht hätten, wenn sie in der splinarsaischen Regenbogenpresse veröffentlicht werden würden und der König dachte nur, Albin sei der Kontaktmann. Das wäre zumindest ein möglicher Grund gewesen, der diese Frage veranlasst hätte.

„Nein“, antwortete Albin und bemerkte, wie sich die Miene des Königs in Windeseile entspannte.

„Was willst du dann?“ fragte der König.

Aus irgendeinem Grund dachte Albin nun an ein kleines, fruchtiges Kaubonbon, um das er den König hätte bitten können, aber schob diesen Gedanken schleunigst beiseite. „Mein Dorfältester, der Hohe Baldomir der Dreiundvierzigste schickt mich zu euch“, sagte er stattdessen.

„Jaja! Der Hohe Baldomir!“ blaffte der König und machte eine bescheuerte Geste.

Albin schwieg daraufhin.

„Das sagtest du bereits. Komm zur Sache, das mit dem Friseurtermin meinte ich ernst!“ schnauzte der König und zwirbelte genervt an seinem Bart herum.

„Nun, eure Majestät. Es geht darum, dass ich unser geliebtes Biglund vor einem bösen Hexenmeister retten muss. Ich muss das Siegel der Macht und die vier Samen der Elemente finden, bevor er es tut. Mir wurde versichert, dass ihr wisst, wo sich diese Gegenstände befinden“, erläuterte Albin.

Der König schwieg einen Moment lang und sah gedankenverloren in die Ferne, um über Albins Worte gründlich nachzudenken oder zumindest den Anschein zu erwecken. „Hmm, so ist das also“, antwortete er dann leicht kopfnickend und zwirbelte mit den Fingern an einem anderen Teil seines Bartes herum. Albin mochte die seltsame Art und Weise, wie er das sagte, überhaupt nicht. „Du hältst mich wohl für komplett bescheuert wie?!“ ergänzte er.

Das stimmte zwar, doch Albin verstand nicht ganz, warum der König ihm das in diesem Moment vorwarf. „Euere Majestät, ich verstehe nicht ganz...“, antwortete er.

„Glaubst du etwa, ich weiß nicht, was hier vor sich geht?!“ keifte der König und starrte Albin mit böse funkelnden Augen an. „Mit der linken Hand zeigst du mir den Standort des Feindes und mit der rechten wirst du mich im nächsten Moment hinterhältig erdolchen!“

„Was, ähm. Wie bitte?“ antwortete Albin entsetzt.

„Ja, das willst du also in Wahrheit!“ bellte der König, stand von seinem Stuhl auf und stützte seinen Körper mit beiden Fäusten auf dem Tisch ab. „Mich in einen Hinterhalt locken willst du, um anschließend hinter meinem Rücken einen einfachen Waldläufer zum König zu machen! Pah, scher dich weg!“

„Euer Majestät, welcher Waldläufer?!“

„Ach, wie? Das willst du also nicht?“ fragte der König völlig verdattert und setzte sich langsam wieder hin.

„Nein!“ versicherte Albin nachdrücklich. „Es geht mir ausschließlich um die Rettung Biglunds.“

Der König beruhigte sich wieder. „Sag mir, junger Mensch, denn das bist du ja augenscheinlich, wie?“ fragte er Albin und machte eine Pause.

„Ähm, ja“, versicherte Albin wieder und seine Bedenken um des Königs Geisteszustand wuchsen mit jeder Sekunde.

„Was springt dabei für mich raus?“

Mit dieser Frage hatte Albin nicht gerechnet. Schließlich befand sich das Königreich Splinarsa in Biglund und würde zwangsläufig ebenso dem Untergang geweiht sein, wenn es Prosta gelingen würde, Biglund in ein neues Zeitalter des Chaos zu stürzen, falls es zutraf, was ihm der Dorfälteste mitgeteilt hatte.

„Eure Majestät. Ich bin kein reicher Mann und ich war auch noch nie gut in den Künsten der Magie und der Kriegsführung“, versicherte Albin und fuhr fort: „Und ansonsten kann ich eigentlich auch nichts außer Murmeln spielen und Pilze sammeln.“

„Was willst du dann hier? Du verschwendest meine wertvolle Zeit!“ unterbrach ihn der König.

„Nein, bitte lasst mich ausreden. Wenn Biglund zerstört wird, dann auch euer Königreich“, entgegnete Albin.

Der König sah Albin misstrauisch an und blickte stirnrunzelnd hinüber zu einem seiner Hofgelehrten, der daraufhin eifrig nickte, eine Landkarte von Biglund vor sich ausbreitete und mit seinem Finger auf das Königreich Splinarsa zeigte, welches sich auch auf dieser Landkarte - für den König scheinbar erstaunlicherweise - vollständig in Biglund befand.

„Und dann wäre all eure Macht dahin für alle Zeit“, ergänzte Albin und traf damit scheinbar mitten ins Schwarze.

Der König überlegte eine Weile lang, was für Albin so aussah, als wäre es Schwerstarbeit für ihn gewesen und kam schließlich zu folgendem Schluss: „Hmm, vielleicht hast du Recht, junger Mann aus dem hinterwäldlerischen Dorf. Ich bin ein viel zu gütiger König, also kann ich doch mein eigenes Königreich und Volk nicht so einfach im Stich lassen, oder was meint ihr?“ fragte er und schielte mit einer viel zu selbstgefälligen Geste seinen beiden stehenden Begleitern zu, die daraufhin kurz zusammenzuckten und anschließend reflexartig mit dem Kopf nickten.

Albin fühlte sich damit seinem Ziel schon sehr nahe.

„Aber ich selbst kann es dir leider nicht sagen, wo sich diese Gegenstände befinden. Ich kann ja nicht einmal lesen und schreiben, verstehst du.“

„Und der nennt mich einen Hinterwäldler“, dachte Albin mehr wütend als enttäuscht.

„Jedoch kenne ich eine Person, die dir helfen kann“ sagte der König und schenkte Albin neue Hoffnung. „Die Wassernixe Pluna kann es dir vielleicht verraten. Sie ist gut in solchen magischen Sachen und kennt fast jedes Gerücht, auch wenn sie es nicht einmal selbst in die Welt gesetzt hat. Also das sagt man sich zumindest, habe ich irgendwo mal gehört, glaube ich jedenfalls.“

Vielleicht war es der größte Unsinn, den ihm der König überhaupt erzählen konnte und obendrein schlicht und einfach die Unwahrheit, doch es hätte auch ein kleiner Funken Hoffnung in Albins aussichtsloser Lage sein können. Albin musste es versuchen und er hatte nicht den leisesten Eindruck davon, dass ihm der König in dieser Hinsicht mehr helfen könnte, als er es bisher mit seiner letzten, vage formulierten Aussage tat. Er musste herausfinden, wo sich diese Wassernixe aufhält. „Und wo finde ich diese Wassernixe?“ fragte Albin.

„Am Krötenteich, keine zwei Tagesmärsche von hier entfernt in Richtung Nordosten“, sagte König Theobald und wurde daraufhin sogleich von seinem speichelleckenden Gefolgsmann dafür gelobt, dass er das sogar auswendig wusste. Der König grinste daraufhin selbstgefällig und zeigte mit beiden Daumen auf sich selbst.

Albin überlegte scharf. In dieser Gegend war er noch nie. Es wäre sicher ratsam gewesen, eine Landkarte zu besitzen, für den Fall, dass er sich verlaufen oder in einer peinlichen Situation einmal das Toilettenpapier ausgehen würde. Und wenn er schon die ganze Welt retten sollte, konnte er doch mindestens etwas Unterstützung von den Nutznießern bekommen. „Kann ich von Ihnen eine Landkarte haben, eure Majestät?“ fragte er, in der Hoffnung, dass es noch nicht strafbar war, dem König um etwas zu bitten. Alle Gesetze des Königreichs Splinarsa kannte er schließlich auch nicht auswendig.

Der König beäugte ihn etwas misstrauisch und war so gar nicht geneigt, Albin irgendeinen Wunsch zu erfüllen. Wahrscheinlich hätte er lieber einem Sarka (seltene biglundische Spezies, die es sich seit dem dritten biglundischen Zeitalter zur Lebensaufgabe gemacht hat, alle haarigen Tiere von Parasiten zu befreien) dabei zugesehen, wie er dabei war, einen Kultz (gewöhnliche und sehr behaarte biglundische Spezies) zu entlausen (es handelte sich hierbei um ein gängiges Sprichwort für eine äußerst langweilige Beschäftigung.

„Das würde meine Arbeit erleichtern und eure Macht damit schneller sichern“, ergänzte Albin, der diesen König von Minute zu Minute weniger leiden konnte, aber ihn wenigstens durchschaut hatte und diesen Umstand nun auszunutzen wusste.

Der König überlegte wieder eine kurze Zeit lang und kam dann recht spät zu folgendem Schluss: „Wohlan! Deine Logik ist durchaus verzwickt und zuweilen sogar verwirrend, Hinterwäldler!“

Albin wusste nicht so recht, was er dazu noch sagen sollte.

„Aber ich gewähre dir diesen einen Wunsch, denn ich bin gütig“, ergänzte der König mit einer weit ausschweifenden Geste, die den Eindruck erzeugte, als hätte er Albin soeben sein halbes Königreich vermocht. Mein Diener soll sie dir geben. „Nomox!“

Der speichelleckende Begleiter des Königs, der während des ganzen Gespräches zwischen ihm und Albin aufgrund des latenten Stuhlmangels in den königlichen Audienzräumlichkeiten stehen musste, gab ihm die Landkarte, welche er dem König gerade gezeigt hatte, um ihm zu verdeutlichen, dass sich sein Königreich in Biglund befand. Der königliche Obermagier stand daneben und schüttelte dabei leicht den Kopf und verdrehte dabei die Augen, da er wusste, dass dies die einzige Landkarte in königlichem Besitz war. Er war jedoch nicht dumm genug, offen zu widersprechen. Albin nahm die Landkarte dankbar an.

„So und jetzt scher dich weg! Mein Friseur kommt gleich. Wache!“, bellte der König.

Albin zögerte nicht lange, seinem Wunsch Folge zu leisten und verließ die Audienzräumlichkeiten, begleitet von einer stämmigen Wache, die sich während des Gespräches hinter einem alten Vorhang im Raum versteckte, um in einem Notfall dem König augenblicklich zur Seite stehen zu können. Die Wache begleitete Albin zurück durch die vielen Gänge hinaus bis an den Empfangsschalter. Die Dame am Empfangsschalter würdigte die beiden keines Blickes, denn sie war soeben während ihrer Arbeitszeit in eine seichte Lektüre namens „Trockenzonen“ vertieft, in der es unter anderem um eine Frau ging, die für ihr Leben gerne Toilettenschüsseln in öffentlichen Bedürfnisanstalten ableckte. Albin ging wortlos an ihr vorbei aus dem Gebäude.

„Wenigstens habe ich jetzt eine Landkarte“, dachte Albin. Er sah sich ein wenig auf dem Marktplatz um und überlegte sich, was er in der Stadt Braksop unternehmen könnte, wo er schon mal da war. Allmählich hatte er großen Durst. Zu seinem Glück befand sich ein Wirtshaus direkt gegenüber. Besonders einladend sah es zwar von außen nicht aus, doch Albin hatte keine Wahl, wenn er vor der Fortsetzung seiner Reise noch einen Schluck zu sich nehmen wollte. Über der breiten, glaseingefassten Tür des Wirtshauses stand der Name des Wirtshauses: „Zum betrunkenen Kobold“. Die Schrift hing in Form von provisorisch aneinander genagelten Holzbrettern vom Dach des Gebäudes herab. Es wirkte schäbig. Albin betrat das Wirtshaus.

Schon der erste Eindruck verdeutlichte: Es war das schmutzigste, verwahrloseste, schmuddeligste und verlumpteste Wirtshaus, das Albin je gesehen hatte. Doch es gab wenigstens Malzbier. Albin ging direkt an den Tresen, an denen sich bereits ein paar wild aussehende Männer und darunter sogar ein Zwerg mit seiner Axt breit gemacht hatten und gerade damit beschäftigt waren, sehr betrunken zu sein und sich gegenseitig regelmäßig in unbestimmten Zeitabständen wüste Blicke zuzuwerfen. Der Zwerg hielt dabei seine Axt fest umklammert, denn als rassische Minderheit hatte er in diesem Laden im Streitfalle die schlechtesten Karten. So war das nun mal in Biglund.

Vielleicht war es schlicht die unbescholtene Naivität eines Dorfbewohners, die Albin trotz seiner Feigheit Raum dafür ließ, sich in diesem düsteren Wirtshaus nicht nur länger als zwei Sekunden lang aufzuhalten, sondern tatsächlich sogar noch ein Getränk zu bestellen. Denn vollkommen unbeirrt von der überaus heiklen Situation ging Albin an den Tresen und bestellte bei dem dickbäuchigen Wirt mit der total verschmutzten Schürze hinter dem Tresen einen großen Humpen Malzbier zu einem Preis, der mit großem Abstand das Anständigste in diesem ganzen Laden zu sein schien. Nachdem Albin mit einem mürrischen Knurren des Wirtes das nichtgespülte Glas vorgesetzt bekam, verringerte sich dieser Abstand jedoch ganz erheblich.

Die anderen Tresengäste blickten derweil nach und nach immer argwöhnischer zu ihm hinüber. Die Selbstverständlichkeit, mit der jemand, der weder Schläger, noch Säufer oder Zuhälter war und obendrein viel zu anständig aussah, in diesem Laden einfach an den Tresen ging und mitten unter ihnen ein Malzbier bestellte, versetzte sie scheinbar in eine kurze Schockstarre. So langsam merkte aber auch Albin, dass er hier am Tresen zumindest nicht ganz willkommen war und weil er keine Lust auf Streit hatte, setzte er sich sofort weg an einen der schmutzigen Tische in einem der dreckigen Winkel in einer der zwielichtigen Ecken des schäbigen Wirtshauses.

Sämtliche anwesenden Gäste des Wirtshauses machten es sich mehr und mehr zur Lieblingsbeschäftigung, ihn misstrauisch, schief, böse oder grimmig anzustarren. Sogar der Wirt machte nach einer Weile dabei mit. Dabei hätte eher Albin die Gäste anstarren müssen, so unglaublich seltsam wie diese waren. Einer davon hatte ein Gesicht mit einer Schnauze, zwei halb angebissenen, weit abstehenden Ohren und fünf dunkelrosaroten Hörnern am Kiefer, an denen stellenweise Dreck, Blut oder Speichel klebte. Der Rest sah auch nicht deutlich vertrauenerweckender aus. Albin fragte sich, ob er irgendeinen viel zu deutlichen Flecken an seiner Kleidung oder etwas Dreck im Gesicht hatte, doch das war es nicht. Ihm war nicht gut zumute in der Gesellschaft dieser Gestalten, doch ein Malzbier musste einfach sein und bestellt hatte er es ohnehin schon. Und abgesehen von der Temperatur des Getränkes und dem restlichen Dreck am Glas schmeckte es gar nicht mal so schlecht, dass er es wieder zurück an den Tresen bringen wollte, um dort sein Geld zurückzuverlangen und damit aller Voraussicht nach schneller eine Schlägerei zu riskieren, als er blinzeln konnte. Also versuchte Albin irgendwie, es sich schmecken zu lassen und blickte in irgendeine Richtung des Wirtshauses, aus der ihm noch kein böser Blick zugeworfen wurde, was sich als schwierig herausstellte.

Auf dem Tisch entdeckte er eine unmittelbar an selbigem klebende Speisekarte. Er mochte sich eigentlich nicht vorstellen, welche Grausamkeiten er hier vorgesetzt bekommen würde, doch es war immerhin eine Stelle, auf die er seinen Blick werfen konnte, ohne jemanden in dieser verfallenen Spielunke zu verärgern und zum Streit aufzufordern. Albin befreite die Speisekarte von den seit Monaten festgesetzten Bierresten und öffnete sie an einer Stelle, die seine Finger am wenigsten verklebte. Dann sah er wieder nach oben und erschrak.

„Hey, du da! Typen wie dich können wir hier nicht besonders leiden!“ schnauzte ihm jemand entgegen, der beinahe noch hässlicher war als dieser ganze Laden und alle anderen Insassen zusammen und einen Mundgeruch hatte, vor dem sich sogar eine halbverweste Leiche in Acht nehmen sollte. Albin war geschockt. Doch zum Glück verschwand er wieder sofort an ihren Platz, nachdem diese Worte einmal gesagt wurden und die Fronten damit nicht mehr eindeutiger geklärt werden konnten. Der Rest des Wirtshauses betrachtete den Vorfall leicht vergnügt und glotzte Albin anschließend wieder provozierend an. Albin trank so schnell er konnte sein restliches Bier leer und verließ sofort - unter den wüsten Blicken aller dort Anwesenden - das Wirtshaus zum betrunkenen Kobold. „Was haben die nur alle?“

Albin stand wieder auf dem Marktplatz, direkt vor dem Gasthaus. Jetzt, da sein Durst gestillt und er schon ein wenig angetrunken vom (wahrscheinlich gepanschten) Malzbier war, konnte die lange Reise zur Wassernixe Pluna endlich beginnen. Doch zunächst musste er den genauen Weg ausfindig machen. Albin packte seine Karte aus der Tasche und studierte sie gründlich. Es war eine sehr ausführliche und übersichtliche Landkarte, die ganz Biglund abbildete. Dazu gehörte hauptsächlich das Königreich Splinarsa, das Reich der Elfen und das Niemandsland. Albin wandte seinen Blick auf die Stadt Braksop. Es gab anscheinend einen Pfad, der von dort zum Krötenteich führte. Besonders beruhigend fand er diese Tatsache nicht, denn auf der Karte wurde dieser als „Pfad der Leiden“ bezeichnet. „Hmm, Pfad der Leiden“, dachte Albin und sah sich die Karte genauer an. „Das klingt nicht gerade gemütlich.“ Einen anderen Weg als diesen gab es nach der Landkarte nicht, denn außerhalb des Pfades der Leiden lagen im Norden die unpassierbaren Schwarzberge, welche auch die Gegend nördlich des Nebelwaldes von Braksop versperrten und einen direkten Weg zum Quelldorf verhinderten. Und selbst wenn die Schwarzberge passierbar gewesen wären, hätte Albin es dort mit gefährlichen Riesen und tückischen Gnomen zu tun gehabt, was auch nicht besonders beruhigend gewesen wäre. Östlich der Stadt und südlich vom Krötenteich versperrte ein großer See den Weg, in dem zu allem Überfluss angeblich eine zehnköpfige Wasserschlange wohnte, die auf der Landkarte zwar schlecht gezeichnet, aber mit einem deutlichen Hinweis bezeichnet wurde. Albin hatte allmählich eine ungefähre Ahnung, warum sich die Bewohner des Quelldorfes nicht allzu gerne außerhalb der Heimat aufhielten und konnte dieser Vorliebe immer mehr abgewinnen.

„Ich habe wohl keine andere Wahl, denn ich muss Biglund retten“, dachte Albin. Und nachdem er diesen heroischen Gedanken, den nur ein wahrer Held so heroisch denken konnte, zu Ende dachte, machte er sich auf den Weg zum Pfad der Leiden, welcher sich am nördlichen Tor der Stadt befand. Er folgte der Straße zum Nordtor der Stadt. Auf dem Weg dorthin, durch die vielen verwinkelten Gassen und verschmutzten Straßen, sahen ihn wieder einige der dubiosen Gestalten der Stadt merkwürdig an, denn sie stellten in Windeseile fest, dass Albin nicht einer von ihnen war (und das war bereits für sich genommen ein Grund, zumindest argwöhnisch zu sein) und je weiter er in den Norden von Braksop kam, umso weniger davon waren überhaupt noch Menschen, sondern vielmehr Kobolde, Zwerge und allerlei Kreaturen, unter denen manche von irgendeinem verrückten Zauberer einmal mit einem Menschen oder einem anderen Etwas gekreuzt wurden, weil ihm langweilig war oder er seine Freunde beeindrucken wollte. Der ganze Stadtteil war eine einzige Freakshow, deren Haupt- und Nebenfiguren allesamt eine Anhäufung von vorsätzlich Obdachlosen, faulen Trinkern und Betrügern war. Es war der niederträchtigste Bodensatz der splinarsaischen Gesellschaft, der sich hier tummelte. Albin hätte kaum für möglich gehalten, dass es eine noch versifftere Gegend in dieser Stadt gab, nachdem er sie vom Nebelwald kommend, zum ersten Mal betrat, doch da hatte er sich schwer getäuscht. Albin befand sich eindeutig im Elendsviertel der Hauptstadt. Das wusste er erstens, weil es als solches sogar auf seiner Landkarte, die einen kleinen Stadtplan von Braksop am Rande enthielt, gekennzeichnet und mit dem Hinweis "gefährliches Elendsviertel" versehen war, und zweitens weil auf einem Schild, an dem er gerade vorbeiging, groß und deutlich die Worte „Elendsviertel der Stadt Braksop - Nehmen Sie keine Wertsachen mit und kaufen Sie nichts!“ standen. Hier war nichts sicher, was nicht eindeutig niet- und nagelfest war und selbst das war in dieser verlumpten Gegend nicht absolut sicher.

Und gerade in dieser gottverlassensten aller Stadtviertel fiel Albin etwas nicht gerade Unwichtiges ein: „Verdammt, ich habe ja noch nicht einmal eine gute Waffe!“ Das alte und morsche Vierkantholz, das für den Nebelwald gerade noch gut genug war, würde ihm auf dem Pfad der Leiden nicht allzu viel nützen. Verzweifelt sah er sich nach einem Schmied oder etwas Ähnlichem um, aber hatte damit keinen Erfolg. Albin ging suchend weiter die Straße entlang nach Norden, auf der es anscheinend nicht viele Geschäfte gab und jene, die es gab, noch wesentlich finsterer wirkten als das Gasthaus zum betrunkenen Kobold.

„Irgendwo muss es doch einen Waffenladen geben“, dachte er. Albin schritt weiter in Richtung Norden und nach einer Weile entdeckte er unweit entfernt auf der anderen Straßenseite sogar einen kleinen Laden, der ihm vielleicht besser weiterhelfen konnte, als die anderen Etablissements, die es sonst so gab. Es war ein Laden, der so elendig und schäbig wie die ganze Gegend war und auch das Wirtshaus zum betrunkenen Kobold dem Äußeren nach in seiner Elendigkeit und Schäbigkeit noch um Längen schlug. Über ihm war eine Tafel angebracht, auf der die Messingbuchstaben bereits abblätterten, doch auf der gerade noch zu erkennen war, dass dieser Laden „Ramschladen Narsch, begehrter Ramsch seit vielen Jahren“ heißen sollte. Das erschien angesichts der Maßstäbe dieser Gegend halbwegs seriös genug, um zumindest einen Blick in das Geschäft zu riskieren.

Albin ging ans Schaufenster, um zu sehen, was dort verkauft wurde und entdeckte allerlei Ramsch und sinnloses Zeug, das jeden Flohmarkt in seinem Heimatdorf mühelos in den Schatten gestellt hätte. Doch in einer Ecke des hintersten Ladenregals konnte Albin etwas Brauchbares erkennen: eine kleine Holzfrisbee. Eigentlich war es nicht mehr als eine bloße, flache Holzscheibe, die den Namen Frisbee nicht verdient hatte. Doch immerhin schien sie dick zu sein. Damit konnte Albin von sicherer Distanz aus einen mittelmäßig starken Gegner Paroli bieten. Albin nahm all seinen Mut zusammen, packte sicherheitshalber wieder sein Vierkantholz aus dem Rucksack und betrat den schäbigen Laden.

„Miau!“ begrüßte ihn der scheinbare Eigentümer dieses kleinen Geschäftes. „Mein Name ist Narsch. Was kann ich für dich tun, Fremder?“

Albin konnte es nicht fassen. Es war ein mannsgroßer, sprechender Kater, dem dieser Laden scheinbar gehörte. Er stand hinter einem hohen Verkaufstresen, der mehr als zwei Drittel seines Körpers bedeckte. Albin hätte es nicht für möglich gehalten, dass es in der Nähe des Quelldorfs einen sprechenden Kater gab und er davon überhaupt nichts wusste. Der Kater wedelte leicht mit dem Schwanz hin und her und machte eine so glückliche Miene, dass man den Eindruck gewinnen musste, er hätte seit einer Ewigkeit mehr keinen Kunden gehabt.

„Ich brauche diese Frisbee“, antwortete Albin etwas verunsichert und zeigte auf die Holzfrisbee in dem Regal.

„Ja, miau“, meinte Narsch.

„Was soll sie kosten?“

„Hmm, ich gebe sie dir für eine halbe Silberunze. Laut Katalog handelt es sich um eine unverbindliche Preisempfehlung, miau“, schnurrte Narsch und strich mit seinen Pfoten sanft über den Tresen.

Eine halbe Silberunze war im Königreich Splinarsa so viel Wert wie sieben Bronzemeckel. Fünf Silberunzen entsprachen einen Goldtaler. Es schien also fürs Erste ein fairer Preis zu sein.

„Was kann denn diese Frisbee überhaupt?“ fragte Albin.

„Fliegen. Probiere es aus.“

„Du kriegst dafür höchstens fünf Bronzemeckel, nicht mehr und nicht weniger“, handelte Albin den Preis herunter.

„Einverstanden, die Frisbee gehört dir“, schnurrte Narsch. „Nimm sie dir einfach vom Regal.“

Albin nahm sich die Frisbee und legte wortlos das Geld auf den Tisch.

Der Kater schnurrte lange und zufrieden. „Komm wieder wenn du was brauchst, Fremder. Einen schönen Tag noch“, miaute er.

„Danke“, sagte Albin und verschwand schleunigst.

Albin fühlte sich mit der Holzfrisbee schon ein ganzes Stück sicherer. Er ging weiter die Straße entlang in Richtung Nordtor und erreichte es in kurzer Zeit, jedoch leider erst nachdem er wieder von einer Hand voll Stadtbewohnern sehr argwöhnisch beobachtet wurde und diesmal sogar eine ältere - anscheinend geistig etwas labile - Frau ein paar lebendige Giftschlangen nach ihm schmiss. Albin konnte ihnen glücklicherweise knapp ausweichen und damit eine Giftwunde verhindern. Im Vergleich dazu war der Weg durch den Nebelwald ein Kindergeburtstag.

Am Nordtor standen ebenso wie am Westtor, durch das Albin ging als er vom Nebelwald kam, zwei Wachen und machten Albin diesmal von innen das Tor auf, nachdem einer von ihnen fragte, warum um alles in Biglund er durch dieses Tor hinaus wollte und Albin ihm versicherte, dass es ihn nichts anginge. Die schweren Holztüren quietschten laut. Ihre Scharniere mussten wohl eine ganze Weile nicht mehr geölt oder benutzt worden sein. Auf der anderen Seite des Tores standen keine Wachen.

Hinter dem Nordtor bot sich Albin kein einladender Anblick. Ein schmaler Pfad zog sich hinaus in einen tiefen, dunklen Wald, aus welchem er meinte, soeben ein gelbes Augenpaar hatte blinzeln sehen zu können. Westlich davon, hinter einer kleinen Wiese, befanden sich Felsklippen und dahinter die Gipfel der Schwarzberge, aus denen Albin von weiter Ferne einen dröhnenden Schrei vernahm, der von nichts anderem als von einem ausgewachsenen und wütenden Bergriesen stammen konnte. Der Himmel über Albin wurde düster. Ein Gewitter konnte jeden Moment aufziehen. Die Torwachen machten hinter ihm schnell das Tor wieder zu und verriegelten es schnell von innen. Noch einmal hörte Albin einen dröhnenden Schrei aus der Richtung, in der die Schwarzberge lagen. Nun gab es kein Zurück mehr.

Albin betrat den dunklen dichten Wald. Auch durch ihn führte ein Weg, der mit einigen Markierungssteinen versehen war, die eine gewisse Orientierung boten. Zwar war es nicht neblig wie im Wald zwischen dem Quelldorf und Braksop. Dennoch kam Albin dieser Wald deutlich gefährlicher und düsterer vor. Während er den Weg entlangging, machten einige Tiere seltsame Geräusche, die sich in der Dunkelheit des Waldes noch viel bedrohlicher anhörten. Albin bekam eine Gänsehaut. Es war erst Nachmittag und trotzdem schaffte es das wenige Licht, das durch den wolkenverhangenen Himmel drang, kaum durch die hohen Baumwipfel. Weit konnte er nicht sehen in diesem verfluchten Wald. Albin hörte unweit von sich entfernt ein paar Balzgeräusche, die von Zentauren sein mussten. Das wusste er noch von seinem Lieblingsfach in der Schule, Magische Wesen. In Biglundkunde war er hingegen sehr schlecht und kannte sich deshalb und weil er nie gereist war, nirgendwo in Biglund aus.

Albin hielt in der rechten Hand sein Vierkantholz und in der linken Hand seine neu erworbene Holzfrisbee und war jederzeit kampfbereit. Er war sehr auf der Hut, viel mehr noch als im Nebelwald. Er hatte das ungute Gefühl, dass ihm hier viel schlimmere Kreaturen als die eher verspielten Warzas begegnen werden. Zentauren wären dabei kein Problem gewesen, wenn er sie nicht gerade auf ungeschickte Art und Weise in ihrem Gebiet gestört hätte. Albin drang immer tiefer in den Wald ein, sodass er bald nicht mehr auf dem Weg weit genug zurücksehen konnte, um die Stelle zu erkennen, an der dieser Wald für ihn anfing. Er konnte gerade noch den Boden unter seinen Füßen und vielleicht zehn bis zwölf Meter weit den Weg vor sich erkennen, so düster war es. Und die Wolken schienen zu allem Überdruss ebenfalls immer dichter zu werden. Unweit entfernt vor sich konnte Albin schon ein leichtes Gewitter hören.

Plötzlich raschelte etwas direkt neben ihm! Albin stockte der Atem. Er blieb wie angewurzelt stehen und drehte seinen Kopf ganz langsam in die Richtung, aus dem das Geräusch kommen musste, nämlich nach rechts. Es raschelte wieder an derselben Stelle, diesmal lauter. Albin hielt sein Vierkantholz fester und machte sich kampfbereit. Genau aus dieser Richtung, von der das verräterische Rascheln kam, sprang plötzlich und ohne jedes weitere Zeichen der Vorwarnung ein überdimensionales Etwas mit seinem kolossalen Hinterteil direkt in Albins total verdattertes Gesicht.

Albin wurde anderthalb Meter weit zurückgeworfen. Schnell und schwer geschockt rappelte er sich wieder auf und erkannte, was ihn soeben angesprungen hatte. Es war nicht mehr und nicht weniger als ein riesiger Pilz! Ein überdimensionaler bunter Pilz mit zwei knubbeligen Beinen und einem äußerst grimmigen Gesicht unter seinem lamellenbesetzten Pilzkopf. Arme hatte er, bzw. es keine. Was war das nur für eine Teufelei? Davon hatte er nicht einmal in einem Märchenbuch etwas gehört.

Doch für mehr analytische Überlegungen blieb Albin keine Zeit, denn der Pilz rannte schon mit Vollgas direkt auf ihn zu. Albin wich aus und versetzte ihm dabei mit seinem Vierkantholz einen gehörigen Schlag auf seinen Hinterkopf, bevor der Riesenpilz mit viel Schwung gegen den nächsten Baumstamm donnerte. Doch das war anscheinend noch lange nicht genug. Der Riesenpilz schüttelte sich nur ein wenig und stöhnte. Dann sah er sich nach Albin um, verzog eine verärgerte Grimasse und rannte wieder auf ihn zu. Albin wich erneut erfolgreich aus und ließ den Riesenpilz wieder mit seinem Schwung weiterlaufen. Dann nahm er schnell seine Holzfrisbee in die rechte Hand und warf sie mit voller Wucht nach dem bunten Riesenpilz. Es war ein satter Volltreffer. Als die Holzfrisbee den Pilz an einer empfindlichen, lamellierten Stelle traf, versprühte sie ein paar tausend kleine Funken und verwirrte damit den Pilz so sehr, dass dieser scheinbar viel zu paralysiert war, um Albin vorerst wieder angreifen zu können. Anscheinend musste es sich um eine magische Holzfrisbee handeln. Wusste das der sprechende Kater etwa nicht oder hatte er es versehentlich oder absichtlich verschwiegen? Jedenfalls war es die Gelegenheit für Albin, um den Pilz mit einem mächtigen Tritt wieder zurück in den Wald zu befördern, aus dem er kam und anschließend so schnell er konnte wegzurennen. Der Riesenpilz stand nun an einem kleinen Abhang und taumelte verwirrt umher. Albin stürmte mit lautem Kampfgeschrei auf den Riesenpilz zu und versetzte ihm einen gewaltigen Tritt, der ihn auf seinem runden Pilzkopf in den tiefen Wald hinein kullern ließ. Albin wollte doch nicht mehr so schnell er konnte wegrennen, denn der Kampf verursachte einen Adrenalinstoß, der selbst bei einem friedfertigen Dorfbewohner wie ihm einen kleinen Blutrausch verursachte. Er warf dem Riesenpilz noch einmal seine Holzfrisbee entgegen und traute danach seinen Sinnen nicht. Nachdem der Pilz ein weiteres Mal getroffen wurde, stieß er einen wütenden Laut von sich und explodierte anschließend in viele winzig kleine Sternchen. Dann war nichts mehr von ihm übrig, nicht einmal ein kleiner Haufen Staub.

„Wow!“ dachte Albin. Er war beeindruckt von sich selbst und vor allem von seiner Holzfrisbee. Das musste wohl ein magisches Wesen sein, denn ansonsten wäre es nicht nach einem Treffer der Frisbee auf so spektakuläre Art und Weise explodiert und hätte nichts als Luft und kleine Sternchen hinterlassen. Und ganz abgesehen davon gab es in ganz Biglund keine riesigen lebendigen Pilze. Vielleicht hatte Prosta bereits eine Ahnung, dass Albin seine Pläne durchkreuzen wollte und schickte ihm jetzt schon ein paar Hindernisse, um seine Mission zu vereiteln. Der Pilz war sicher nur ein fader Vorgeschmack auf die Zauberkünste, die ihn noch erwarten würden.

Albin war bestärkt durch den siegreichen Kampf. Eigentlich mochte er keine Kämpfe und war deshalb umso erstaunter und bestärkter darüber, wie gut er sich doch geschlagen hatte. Schließlich läuft man nicht jeden Tag einem kampfeslustigen bunten Riesenpilz entgegen. Noch eine Minute vorher hatte er Schwierigkeiten damit, sich vor lauter Aufregungen nicht in die Hose zu machen. Doch jetzt fühlte sich Albin zum ersten Mal in seinem Leben wie ein richtig starker Mann. Am liebsten hätte er deswegen an Ort und Stelle angefangen, laut herum zu grölen, doch bevor er damit ansetzte, stellte er fest, wie bescheuert es gewesen wäre, an Ort und Stelle laut herum zu grölen; vor allem weil er damit möglicherweise eine andere äußerst seltsame und vielleicht noch deutlich gefährlichere Kreatur hätte anlocken können. Also holte er sich ohne jede Form übertriebenen Theaters die magische Holzfrisbee zurück und setzte seine Reise durch den finsteren Wald fort, der seiner Landkarte und den Markierungssteinen nach erst am späten Abend durchschritten werden könnte. Es war ein - für hiesige Verhältnisse - großer Wald, welcher passend zum Namen des Weges den Namen „Wald der Leiden“ trug. Manche - vor allem die Einwohner von Braksop - nannten ihn umgangssprachlich einfach Dunkelwald, was auch recht gut passte. Dieser Wald hatte eine düstere Geschichte. Er wurde vor Jahren einmal von einem finsteren Hexenmeister verzaubert, weil der von König Theobald dem Siebten um eine größere Summe Goldtaler betrogen wurde. Überhaupt war König Theobald der Siebte für den stetigen Verfall seines Königreiches innenpolitisch betrachtet zu achtzig Prozent und außenpolitisch zu fast hundert Prozent verantwortlich. Als Strafe für diesen überaus unverschämten Betrug machte der Hexenmeister den Weg durch diesen Wald, der davor eine wichtige Handelsstraße für das Königreich Splinarsa darstellte, für Reisende und Händler schlecht passierbar, indem er sie verfluchte. Seitdem tummelten sich dort allerlei Seltsamkeiten und trieben ihr Unwesen. Und seit dieser Zeit nannte man den Weg offiziell den Pfad der Leiden. Nur unter Historikern wurde er gelegentlich als die Alte Handelsstraße bezeichnet, da es früher einmal eine für Braksop wichtige Handelsstraße war.

Allerdings war die Zauberkraft dieses Hexenmeisters nicht allzu mächtig und deshalb waren es meistens nur ein paar verfluchte Zwergkaninchen oder kleine Vogelarten, welche den Reisenden durch blitzschnelle Massenangriffe mächtig zusetzten und deren Hab und Gut stahlen, jedoch ihr Leben meist verschonten, wenn sie sich schnell genug ergaben. Riesenpilze oder dergleichen hatte man dort bisher noch nicht gesichtet.

Albin beschleunigte sein Tempo, denn das Gewitter erreichte auch ihn allmählich und seine Kleidung wurde innerhalb weniger Minuten durchnässt. Es stellte sich ihm zwar kein weiterer gigantischer Pilz in den Weg, doch trotz des starken Regenfalls und des sommerlichen Klimas kamen einige überaus garstige Stechmücken und mehrere Dutzend wütender Piepmatze, denen der Regen nichts ausmachte, auf ihn zugeflogen, die sich nur durch ein paar gezielte Hiebe mit dem Vierkantholz verscheuchen ließen. Wahrscheinlich tauchten die vielen kleineren wilden Tiere deshalb erst zu diesem Zeitpunkt auf, weil sie von dem bunten Riesenpilz zuvor vertrieben wurden. Albin hielt allen Gegnern mutig und entschlossen stand. Auch die marodierende Waldhamsterhorde, die sich ihm anschließend in den Weg stellte und eine Unmenge Knabberzeug als Wegzoll verlangte, bereitete ihm außer ein paar kleinen Kratz- und Bisswunden keine größeren Schwierigkeiten. Heldenhaft setzte sich Albin allen tierischen Widrigkeiten zur Wehr. Ein größerer Waldvogel hätte ihn nach minutenlangen aggressiven Drohgebärden beinahe am Ohr gepickt, wenn er ihr nicht mit einem Holzfrisbee-Distanzangriff zuvorgekommen wäre. Einem Angriffsmanöver fliegender Baumwipfelratten konnte er nur knapp ausweichen und schlimmere Verletzungen damit verhindern. Diese Gegend war eindeutig verfluch. So Stunde um Stunde, bis er endlich die ersten, durch den Regen ganz verschwommenen Anzeichen des Waldrandes in der Ferne erblicken konnte.

„Ja, endlich geschafft!“, schnaufte Albin erleichtert. Die Hürde war fast gemeistert und er war allmählich müde von den Strapazen. Auf der anderen Seite des Waldes befand sich zu seinem großen Glück eine Gaststätte, in der er diese Nacht verbringen konnte. Und das musste er schließlich, denn es würde schon bald dunkel werden und wer wusste schon, welche Bestien der Nacht sich in dieser verfluchten Gegend herumtrieben und ihn vielleicht nachts unter der leichten Decke überraschen würden. Sein Zelt, das ihn zumindest vor kleineren Wesen hätte schützen können, hatte Albin dummerweise daheim vergessen.

Vom Regen durchnässt ließ er den Wald hinter sich und kam auf die Gaststätte zu, die sich direkt am Wegesrand nur wenige Meter vom Waldrand entfernt befand. Zumindest von außen wirkte sie recht anständig im Vergleich zu dem, was Albin an diesem Tag sonst so an gewerblichen wie nichtgewerblichen Behausungen gesehen hatte. Es war das Gasthaus zum wackelnden Kuheuter, zumindest der hölzernen Inschrift nach, die sich über der Haustür befand und im Wind leicht hin und her tanzte. Es wirkte betagt und erinnerte ein wenig an einen alten Bauernhof, den man aus einer Notsituation heraus zu einer Gaststätte umfunktionierte. Albins Onkel, der im Gegensatz zu sämtlichen Quelldorfbewohnern für sein Leben gern reiste, hatte ihm einmal von dieser Gaststätte erzählt, da war Albin noch klein und der Pfad der Leiden noch eine blühende Handelsstraße. Seine Augen wurden dabei immer ganz feucht und verrieten einige schöne Erinnerungen, in denen er schwelgte. Albin fragte sich immer, welche Erinnerungen das waren, doch er war zu jung, um die ehrliche Antwort auf diese Frage verstehen zu können.

Albin betrat das Gasthaus. Drinnen bot sich ihm ein Anblick von schier hoffnungsloser Leere, denn allem Anschein nach war er der einzige Gast in dieser Gaststätte. Etwas anderes hatte Albin auch kaum erwartet, denn normalerweise mieden die Menschen diese Gegend so gut sie konnten, seitdem die Straße verflucht wurde. Mitten im Raum war ein großer, rechteckig angeordneter Tresen, der ungefähr die Hälfte des gesamten Raumes in Anspruch nahm und um den herum einige Barhocker und daneben ein paar bestuhlte Tische standen. Einige Kerzen waren angezündet, um den Raum zu erleuchten. Es war insgesamt sehr urig eingerichtet und machte einen gemütlichen Eindruck.

Hinter dem Tresen stand eine junge blonde Frau, die gerade dabei war, ein paar Gläser einzuräumen. „Hey“, sagte sie, nachdem sie Albin bemerkte. „Noch so spät in dieser Gegend?“

„Hallo“, antwortete Albin und ging auf den Tresen zu. „Haben Sie noch ein Zimmer frei?“

Die Frau ließ die Gläser sofort stehen und antwortete: „Jede Menge.“

Von der Eingangstür konnte Albin kaum entdecken, wie unglaublich lang diese blonde Frau ihr Haar trug, denn es wurde zum größten Teil vom Tresen bedeckt. Doch nun, wo er näher kam, stellte er fest, dass es sogar beinahe bis zum Boden reichte. Sie hatte blaue Augen, eine spitze Nase und ein jugendliches Gesicht. Sie war hübsch. Albin hatte eine Ahnung, wer diese Frau sein musste, denn es handelte sich in Wahrheit um eine echte Berühmtheit Biglunds. Doch er wagte es noch nicht, sie nach ihrem Namen zu fragen.

„Ich gib dir eins von den größeren, wenn du willst. Heute kommt sowieso niemand mehr“, sagte die Blondine und kramte hinter dem Tresen in einer Ecke herum, aus der sie dann einen großen Schlüsselbund herausholte. „Komm mit.“

Sie verließ den Tresen und führte Albin zu einer breiten Holztreppe auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes, welche hinauf in die Zimmer führte. Die blonde Frau kam Albin jede Sekunde schöner vor, dazu trug sie noch ein wirklich gutes Parfum. Und gefährlich würde es hier in diesem Gasthaus auch nicht werden. Hier gefiel es Albin. Im ersten Stockwerk angekommen öffnete sie mit einem der Schlüssel eine der Türen. „Da wären wir schon. Gefällt es dir?“ sagte sie vergnügt.

Albin sah hinein in das Zimmer und war positiv überrascht. Es war ein sehr gepflegtes Zimmer mit einem gemütlich erscheinenden Bett, auf dem sich sogar ein kleines, rotes, herzförmiges Kissen befand. Darauf hätte Albin zwar verzichten können, aber es konnte auch nicht schaden. „Was soll es denn kosten?“ fragte er.

Die Blondine kam ihm langsam sehr nahe, so nahe sogar dass sich beinahe ihre Nasenspitzen berührten und flüsterte ihm auf eine unmissverständlich laszive Weise zu: „Das kommt ganz darauf an, was du bereit bist zu geben. Nicht viele junge Männer kommen hierher, weißt du“, fuhr sie fort und berührte nun mit einem ihrer perfekt geformten, straffen Beine eines von Albins Beinen um es langsam zu massieren. Dann lächelte sie plötzlich. „Reingelegt!“

Albin kam sich vor, als ob er gerade durch eine Ohrfeige und einen Eimer eiskalten Wassers von einem Traum aufgeweckt worden wäre. „Was? Wie?“ plapperte er. Es war ja auch zu schön, um wahr zu sein.

„Ohne Frühstück zwei und mit Frühstück drei Bronzemeckel. Bezahlung nur im Voraus“, erklärte sie.

„Hmm, na gut, dann nehme ich das Zimmer mit Frühstück“, sagte Albin noch leicht benebelt und zog seinen Rucksack gleich aus.

„Alles klar. Wenn du fertig gepackt hast, kannst du ja noch mit runter kommen. Dort wartet eine kleine Überraschung auf dich“, sagte die Blondine wieder auf diese laszive, verdorbene Art und Weise zu ihm.

„Verstehe...“, sagte Albin und versuchte dabei, auch etwas lasziv zu klingen, was ihm allerdings nicht gelang. Dafür kam er nun ihr ein wenig näher und versuchte, zumindest dabei in irgendeiner Weise lasziv zu wirken doch auch das wollte nicht so recht klappen.

„Reingelegt!“ sagte die Blondine wieder. „Ich habe schon einen Freund und der ist übrigens ein Werwolf. Es ist ein ganz rauer Bursche.“

„Jaja, das passt zu dir du durchtriebenes kleines ...“, dachte sich Albin, doch um sich nichts anmerken zu lassen, lächelte er einfach nur blöd.

„Ich habe noch kaltes Malzbier, Marke Ranzenbräu, wenn du magst. Ich bin dann mal unten“, sagte sie und ging leichtfüßig die Treppe hinab.

„Uff“, seufzte Albin und packte ein paar Sachen zum Umziehen aus seinem Rucksack. „War das ein Tag. Naja, wenigstens ist das Malzbier gut.“

Und das stimmte auch, denn die Malzbiermarke „Ranzenbräu“ war über das Königreich Splinarsa hinaus in ganz Biglund und sogar bei den Braumeistern der Zwerge sehr beliebt und wurde nur mit den neuesten Großraumpferdefuhrwerken transportiert, was den hiesigen Pferdespeditionen viele Aufträge verschaffte und sprudelnde Steuereinnahmen sowie sozialversicherungspflichtige Langzeitarbeitsplätze sicherte. Die Gründe für die außerordentliche Beliebtheit dieser Malzbiermarke waren zum einen ihr im Vergleich zur Billigkonkurrenzmarke „Pennerglück“ deutlich ansprechenderer Name und zum anderen eine geheime Zutat, die erstens den Geschmack verbesserte und zweitens einen starken Suchtstoff enthielt. Nur ein Alchemist in ganz Biglund konnte diese geheime Zutat herstellen, denn er selbst erfand diese Zutat und weder den Alchemisten, noch die geheime Zutat kannte sonst jemand, außer dem Betreiber der "Ranzenbrauerei'". Alles wurde streng geheim gehalten. Die Brauerei wuchs zu einem regelrechten Wirtschaftsimperium heran und der Alchemist verdiente seitdem so viel Geld, dass er sich eine große Insel im ewigen Meer kaufen konnte und diese Inseln sind sehr teuer.

Albin zog sich trockene Kleidung an und ging hinunter in den Schankbereich der Gaststätte, wo die Blondine bereits auf ihn wartete.

„Na, hast du dich schon eingerichtet?“ fragte sie Albin und stellte ihm einen großen Humpen (biglundisches Ein-Liter-Gefäß) Malzbier auf den Tresen.

„Ja, es war ja nicht viel“, antwortete Albin und setzte sich an den frisch eingeschenkten Malzbierhumpen. Er nahm gleich einen großen Schluck davon und dann gleich wieder einen, weil es so gut war.

„Du bist aber durstig. War deine Reise lang?“

„Ja, kann man wohl sagen. Und nicht ganz ungefährlich“, versicherte Albin. "Ich bin übrigens Albin aus dem Quelldorf hinter dem Nebelwald."

Die Blondine trug etwas in ein kleines Buch ein, in dem die Reservierungen und Zimmerbelegungen aufgelistet wurden. Sehr wahrscheinlich war es wohl der Name Albin und die Zimmernummer, sowie das Datum. „Ich liebe Gefahren“, sagte sie ganz beiläufig.

„Nicht mal die Männer bei uns im Dorf lieben Gefahren“, dachte Albin. „Was ist das nur für eine Frau?“ Er bestellte sich gleich ein zweites Malzbier, und zwar wieder einen großen Humpen und trank begierig weiter. Er hatte unglaublichen Durst. Eine Frage brannte ihm die ganze Zeit schon auf der Zunge und nun, da diese Blondine seit einiger Zeit schon leibhaftig vor ihm stand, konnte er sie nicht mehr zurückhalten. „Sag mal, bist du eigentlich Tiva, die Strohblonde?“ fragte er.

Die Blondine wandte sich wieder ihm zu und schwieg einen Augenblick. Albin rechnete aus unerfindlichen Gründen damit, plötzlich geohrfeigt zu werden, doch es kam anders. Die Blondine antwortete: „Ja, die bin ich.“

Albin wusste es. Sie war es tatsächlich: Tiva, die Frau mit den längsten und strohblondesten Haaren von ganz Biglund diesseits des Krötenteiches. Sie war weit bekannt in Stadt und Land, eben wegen ihrer Haarlänge, ihrer strohblonden Haarfarbe und ihrem hübschen Äußeren, doch sie stand auch im Ruf, eine leicht reizbare und cholerische Frau zu sein. Und darüber hinaus war sie überaus bekannt für ihre zügellose Leidenschaft, was wiederum auch ein Gerücht hätte sein können, doch die vorherige Szene vor Albins bezogenem Zimmer ließ ihn vermuten, dass sich darin ein ganzes Stück Wahrheit verbarg.

„Woher kennst du meinen Namen?“ fragte sie.

„Ach, ich weiß nicht. Ich glaube ein Verwandter von mir lebte mal in dieser Gegend“, log Albin und fragte sich, ob sie selbst nicht viel von ihrer Berühmtheit mitbekam oder ihn wie alle anderen, denen er an diesem Tag begegnete, auch für einen Hinterwäldler hielt, der so hinterwäldlerisch war, dass er nicht einmal Tiva, die Strohblonde kannte. Vielleicht lag es an seiner Kleidung, dachte er sich.

„Gehört dir diese ganze Gaststätte?“ fragte er.

„Ja, ich habe sie von meiner Mutter geerbt. Sie lehrte mich alles, was sie konnte“, sagte sie und fuhr mit einem ihrer Finger über ihre formvollendeten Brüste.

„Meine Fresse!“ dachte Albin. Er wagte gar nicht zu fragen, was ihre Mutter sie alles lehrte, konnte sich aber einige Dinge davon lebhaft vorstellen, auch wenn es zwangsläufig eine etwas verstörende Vorstellung war.

„Und, was führt dich hierher?“ fragte sie und spielte dabei ein wenig mit einer ihrer Haarsträhnen herum.

„Kann ich dir nicht sagen. Es ist eine streng geheime Mission.“

„Ohhh, streng geheim sagst du?“ Tiva wirkte mit jedem Moment gespannter darauf, mehr zu erfahren.

„Ja, streng geheim“, antwortete Albin so bestimmt er in diesem Moment konnte.

„Du bekommst deinen nächsten Humpen Malzbier geschenkt, wenn du es mir verrätst.“

Albin dachte ein wenig darüber nach. Er wollte schon noch einen Malzbierhumpen leeren, bevor er ins Bett ging. Viel größer war zudem sein Hunger, denn er hatte den ganzen Tag über bis auf sein Frühstück keine Mahlzeit zu sich genommen. „Schmier mir noch zwei Stullen dazu und ich sage es dir“, verhandelte er.

Tiva ging ohne eine weitere Überlegung sofort vom Tresen weg und holte von einer Kammer direkt neben der großen Holztreppe ein paar Scheiben Brot, ein großzügiges Stück Käse und eine Wurst und legte alles neben Albins Bier auf den Tresen. Sie hatte das Angebot anscheinend angenommen. Im nächsten Moment bereute es Albin schon wieder, denn eine streng geheime Mission für ein Abendbrot zu verraten war nicht besonders heldenhaft, doch da war es bereits zu spät.

„Na gut“, begann er zu erzählen. „Heute Morgen erst besuchte ich meinen Dorfältesten Baldomir den Dreiundvierzigsten, der mich hergebeten hatte, um mir etwas Wichtiges mitzuteilen. Und er teilte mir mit, dass ein böser Hexenmeister namens Prosta versuchen würde, unser geliebtes Biglund zu zerstören, weil sich seine Frau von ihm geschieden hatte. Er sagte mir, ich sei der Auserwählte und muss das Siegel der Macht und die vier Samen der Elemente finden, bevor Prosta es schaffen würde. Und die Wassernixe Pluna könnte mir sagen, wo ich diese Dinge finde. Das hat mir zumindest der König gesagt.“

Es entstand eine lange, beinahe peinliche Pause. Albin hielt es kaum für möglich, dass sie auch nur ein Wort davon glaubte. Vielleicht hätte er die ganze Geschichte ein wenig langsamer erzählen sollen, um ihrer Tragweite gerecht zu werden und nicht den Anschein zu erwecken, sie wäre nur erfunden.

„Dann steht also das Schicksal von ganz Biglund auf dem Spiel?“ fragte Tiva und wirkte dabei erstaunlich begeistert.

„Ähm. Ja“, antwortete Albin unsicher.

„Das ist ja super, ich wollte schon immer mal ganz Biglund retten. Ich komme mit“, beschloss sie.

Dieser Satz traf Albin wie einen Hammerschlag an einer seiner empfindlichsten Körperregionen und hinterließ ein wachsendes, dumpfes und ungutes Gefühl in seiner Magengegend. „Ähm, wie bitte?“ stöhnte er.

„Du hast richtig gehört. Ich komme mit.“

Es entstand eine lange, peinliche Pause.

„Nein, Sekunde. Ich bin der Auserwählte und muss ganz Biglund retten. Außerdem ist das keine Mission für Mädchen“, wehrte sich Albin endlich.

Diese Aussage schmeckte Albins Gegenüber anscheinend gar nicht, denn noch bevor er nur ein weiteres Wort sagen konnte, befand sich ihre Hand um seinen Hals. „Wieso ist das keine Mission für Mädchen? Hältst du mich etwa für schwach?!“ drohte sie mehr, als sie fragte.

„Ti, ähh, krächz, nein“, krächzte Albin im Würgegriff. Es war das erste Mal in seinem Leben, in dem er das Gefühl verspürte, Angst vor einer Frau zu haben, ein seltsames und unangenehmes Gefühl.

Tiva ließ von ihm ab. „Dann ist ja alles klar. Morgen stehen wir früh auf und dann geht’s los.“

Nach dieser unheilvollen Aussage verließ Tiva den Tresen, ging zur Haustür und schloss sie ab.

„Oh nein, sperrt die mich etwa hier ein?“ dachte Albin. „Aber...“, sagte er.

Tiva ging wieder an den Tresen. „Wenn deine Mission so gefährlich ist, sollte ich in dieser Nacht niemanden mehr hinein lassen", meinte sie.

"Da ist was Wahres dran", dachte Albin.

"Na komm schon. Es wird bestimmt lustig“, versuchte ihn Tiva zu begeistern.

Albin bezweifelte das, doch wagte es so schnell nicht, ihr noch einmal zu widersprechen. Lieber machte er sich über das Abendbrot her und bemühte sich, einen gleichgültigen Eindruck zu machen. Tiva schenkte ihm in bester Laune das weitere Bier ein, das sie ihn noch schuldete. „Ich gehe jetzt hoch in meine Wohnung. Du kannst ruhig weiteressen, aber mach die Kerzen aus, bevor du ins Bett gehst. Und klopf an, wenn du noch was brauchst“, sagte sie.

So, als wenn damit alles, was geklärt werden musste, soeben geklärt worden wäre, verschwand Tiva durch eine kleine Tür direkt hinter Albin.

„Das hat mir gerade noch gefehlt“, dachte Albin. Das war vielleicht ein Tag. Er dachte angestrengt darüber nach, wann ihm einmal an nur einem einzigen Tag so viel passiert worden wäre, doch selbst die Geschehnisse von Jahre in seinem Heimatdorf konnten damit kaum verglichen werden. Nachdem er sein letztes Malzbier getrunken hatte, blies er die Kerzen aus und ging hinauf in sein Zimmer. Er war sehr müde und schlief schnell ein.

Die Annalen von Naschfuhd; aus den Chroniken von Biglund

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