Читать книгу Heute schon gepflichtteilt? - Prof. Dr. Joerg Andres - Страница 5
KAPITEL 3: DIE ENTSTEHUNG DES PFLICHTTEILSANSPRUCHS
ОглавлениеA) DER URSPRUNG
Das Bundesverfassungsgericht hat zuletzt im Jahre 2005 klargestellt, dass die grundsätzlich unentziehbare und bedarfsunabhängige wirtschaftliche Mindestbeteiligung der Kinder am Nachlass der Eltern als tragendes Strukturprinzip des geltenden Pflichtteilsrechts durch die Erbrechtsgarantie des Artikel 14 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes (GG) geschützt ist.
Das bedeutet aber nicht, dass dadurch ein Zwangs- oder Noterbenrecht festgeschrieben werden würde. Vielmehr wird ein Zahlungsanspruch in Geld gewährt. Dieser Anspruch ist übertragbar, vererblich und eingeschränkt pfändbar (§§ 2317 BGB, 852 Zivilprozessordnung (ZPO)).
Wie vieles andere im Leben, hat auch dieser Anspruch seine Kehrseite. Zuletzt hat der Bundesgerichtshof (BGH) zu Lasten eines Sohnes entschieden, der 40 Jahre lang keinen Kontakt mehr zu seinem Vater hatte (BGH, Urteil vom 12.02.2014, Az.: XII ZB 607/12), weil der Vater dies ablehnte. Trotz dieser langen Zeit und der Gesamtumstände muss der Sohn für Heimkosten seines Erzeugers nachträglich zahlen. Gemessen am parallel dazu bestehenden Pflichtteilsanspruch insoweit aber lediglich konsequent. Hätte der Vater über großes Vermögen verfügt, zeigt sich in der Praxis immer wieder, dass die Geltendmachung des Pflichtteilsanspruchs auch durch noch so lange familiäre Abstinenz in keiner Weise ausgeschlossen wird. Der Pflichtteilsanspruch existiert jedenfalls in solchen Fällen ohne Zweifel.
B) DER ZEITPUNKT DER ENTSTEHUNG
Wann kommt es nun zur Entstehung eines solchen Pflichtteilsanspruchs?
Dazu folgender Fall 1:
Der verwitwete Werner Wolf (W) hat zwei erwachsene Kinder, Sönke (S) und Tabea (T). Mit S hat er seit Jahren keinen Kontakt mehr, während T ihn seit seiner schweren Hüftoperation betreut und pflegt.
Das Vermögen im Wert von 900.000 € möchte er alleine seiner Tochter T vererben.
Da er gelesen hat, dass nach der gesetzlichen Erbfolge seine Kinder zu gleichen Teilen erben würden, verfasst er ein handschriftliches Testament.
Darin schreibt W:
Mein letzter Wille
Im Vollbesitz meiner körperlichen und geistigen Kräfte hebe ich hiermit alle bisherigen letztwilligen Verfügungen auf.
Mein gesamtes Vermögen vermache ich meiner Tochter Tabea.
Weitere Verfügungen treffe ich heute nicht.
Düsseldorf, den 31.12.2013
Werner Wolf
Als W am 02.01.2014 verstirbt, findet die T das Testament und reicht es beim Nachlassgericht in Düsseldorf ein. Zugleich verständigt sie den S und sendet diesem eine Kopie des Testaments.
S hat mehrere Fragen:
a) Er will wissen, ob er durch das Testament
„enterbt“ wurde, obwohl er darin gar nicht namentlich erwähnt worden ist.
b) Auch möchte S erfahren, ob er nun einen
„Pflichtteilsanspruch“ hat und wie hoch dieser generell ist.
Lösung zu Fall 1:
aa) Die Enterbung durch Testament oder Erbvertrag
W hat wirksam abweichend von der gesetzlichen Erbfolge durch handschriftliches Testament zugunsten der T verfügt.
Damit kommt die sog. gewillkürte – also die vom Erblasser gewählte – Erbfolge zum Tragen.
Ebenso hätte W mit T auch einen notariellen Erbvertrag (§§ 2274 ff. BGB) abschließen können, der ebenso das Eingreifen der gesetzlichen Erbfolge verhindert hätte.
Schaubild 1: „Erbfolge“
Da W den S in dem Testament gar nicht erwähnt, also auch nicht bedacht hat, hat er den S konkludent – also stillschweigend – von der Erbfolge ausgeschlossen.
Eine ausdrückliche Erwähnung einer „Enterbung“ ist nicht erforderlich.
bb) Die Entstehung und die Höhe des Pflichtteilsanspruchs
Die Tatsache, dass W ein formwirksames privatschriftliches Testament allein zugunsten der T errichtet hat, heißt nicht zwangsläufig, dass S hierdurch zwangsläufig keinerlei Recht auf einen Anteil am Nachlass des W hätte.
Denn S gehört zum Kreis der sog. Pflichtteilsberechtigten:
Schaubild 2: „Mögliche Pflichtteilsberechtigte“
Zum Zeitpunkt, als W sein Testament niedergeschrieben hat, bestand zugunsten des S noch kein Pflichtteilsanspruch, sondern lediglich ein Pflichtteilsrecht. Erst durch den Tod des W hat das Testament seine Wirkung entfaltet und nominell zur „Enterbung“ des S geführt. Zugleich ist sein Pflichtteilsrecht aber zu einem Pflichtteilsanspruch erstarkt.
Diesen Pflichtteilsanspruch kann der S ausüben, kann aber genauso gut darauf verzichten, wenn er keinen Wert auf eine Geltendmachung legt.
Die Höhe des Pflichtteilsanspruchs ergibt sich aus § 2303 Abs. 1 Satz 2 BGB:
Schaubild 3: „Höhe des Pflichtteilsanspruchs“
Im Falle des S ermittelt sich der Pflichtteilsanspruch wie folgt:
Der gesetzlichen Erbfolge zufolge würde S gleichberechtigt neben seiner Schwester T erben (§§ 1924 Abs. 1 und Abs. 4 BGB), da weitere Kinder oder ein Ehegatte bzw. eingetragener Lebenspartner des W nicht existieren (§ 1931 Abs. 1 BGB; § 10 Abs. 6 Lebenspartnerschaftsgesetz (LPartG)).
Demnach würde der gesetzliche Erbanteil des S hier ½ betragen.
Der Pflichtteilsanspruch des S beläuft sich auf die Hälfte hiervon, also auf ¼.
Zusammenfassung:
Der Pflichtteilsanspruch entsteht nur dann, wenn die gesetzliche Erbfolge nicht zur Anwendung kommt.
Er kann nur von Abkömmlingen (Kindern, Kindeskindern) des Erblassers, von dem überlebenden Ehegatten oder dem eingetragenen Lebenspartner, u.U. auch von Eltern des Erblassers geltend gemacht werden.
Die Höhe des Pflichtteils beträgt die Hälfte des gesetzlichen Erbteils. In der Regel kann der Pflichtteilsanspruch nicht wirksam einseitig vom Erblasser ausgeschlossen werden.