Читать книгу Vom Mauerblümchen zum Loverboy - R. J. Simon - Страница 4

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Er liegt da, ganz ruhig. Die Atemnot, die Krämpfe und das Herzrasen, die eine furchtbare Todesangst in ihm auslösten, sind vorüber. An deren Stelle breitet sich eine besondere, überirdische Leichtigkeit aus. Eine ungewohnte und nie zuvor gefühlte Schwerelosigkeit ergreift ihn, lässt ihn ruhig werden, trägt ihn davon und die Neugier, wie es nun weiter geht, verdrängt seine vorherigen Ängste.

Vor seinem geistigen Auge und dem inneren Gehör läuft sein Leben ab. Es ist wie ein interaktiver Film beinahe real. Seine Erinnerungen sind deutlich und klar. Er durchlebt Erfahrungen und Gegebenheiten, die er längst vergessen glaubte. Erstaunt stellt er fest, dass die kleinsten Details, die schon Jahrzehnte zurückliegen, genauso frisch und ohne Lücken in seinem Erinnerungsvermögen vorhanden sind, wie die Erlebnisse der letzten Minuten.

Ganz leise, aus weiter Ferne hört er Stimmungsmusik. Eine Tanzkapelle spielt einen Festzeltklassiker. Er fühlt das Stampfen der mitsingenden Leute und erkennt das Lied. Aus einer Erzählung seines Vaters, die er einst unter dem Einfluss erheblicher Mengen Alkohols preis gab, weiß er: Das ist der Zeitpunkt seiner Zeugung!

Nach der Erklärung seines Vaters trug es sich auf einem Volksfest zu, das im Frühjahr statt fand und auf welches üblicher Weise jeder aus dem Ort zu gehen pflegte. Seine Eltern waren selbstverständlich als jungverliebtes Pärchen bei dieser Attraktion dabei gewesen. Sie saßen abends in dem riesigen Festzelt und schwammen gut gelaunt auf der dort herrschenden, fidelen Stimmungswelle mit. Wie das so üblich ist bei solchen Veranstaltungen mit Fastnachtscharakter, wurde viel getrunken, gesungen und geschunkelt. Seine Eltern, damals gerade verlobt, sangen auch die Stimmungslieder leicht alkoholisiert lauthals mit und wiegten sich im Rhythmus der Musik. Die Blaskapelle zog die Feiergemeinde in ihren Bann und riss jeden in dem überfüllten Festzelt mit, sodass es sich in einen einzigen, überschäumenden Stimmungskessel verwandelte.

Seine Eltern küssten sich gelegentlich flüchtig und unauffällig, denn 1961 war das Schmusen in der Öffentlichkeit bei den Alten und den Moralhütern noch verpönt und fast unanständig. Um Zärtlichkeiten auszutauschen war es ratsam, sich in möglichst versteckte Winkel zurückzuziehen und das nicht vor den Augen der Allgemeinheit zu tun. Der Wald und der Stadtpark wurden dafür am Abend von den verliebten Paaren gerne aufgesucht und genutzt. Diese Heimlichkeit erzeugte zwangsmäßig eine gewisse Romantik, die es wiederum schön machte, die junge Liebe zu erleben. Das waren noch die letzten Ausläufer der so genannten guten alten Zeit, in der es jeder tat, aber keiner darüber sprach. Erst die Hippybewegung mit der skandierten offenen Liebe brachte später den Wandel und die sexuelle Revolution.

Aus dieser Not heraus kamen seine Eltern im Laufe des späteren Abends auf die Idee, sich in den umliegenden Wald zurück zu ziehen, um sich ungestört und unbeobachtet gegenseitig Liebesbezeugungen zu geben. Die kurzen, gestohlenen Küsse im Zelt waren nämlich bald längst nicht mehr genug, denn die Frühlingsgefühle wirkten bei ihnen überwältigend. Der Alkohol, die Stimmung und das Küssen heizte sie an und sie wollten beide mehr. Durch einen Seitenausgang traten sie bald hinaus ins Freie und schlenderten Arm in Arm über den Festplatz um das Zelt herum. Die noch frische Abendluft vermochte ihre überhitzten Gemüter jedoch in keiner Weise abzukühlen.

An der abgelegenen, schmalen hinteren Stirnseite des Zeltes blieben sie dann im Finsteren eng umschlungen stehen und küssten sich innig. Hier war es recht dunkel und es bestand kaum die Gefahr, dass jemand vorbei kam und sie störte. So konnten sie ihre heißen Küsse ausgiebig genießen ohne Furcht entdeckt zu werden. Nach ein paar dichten Büschen endete der Festplatz und der düstere, weitläufige Wald begann. Sie waren hier also höchstwahrscheinlich unbeobachtet und konnten in der Dunkelheit das Leuchten in den Augen gegenseitig sehen, genießen und es weiter befeuern.

Sie befanden sich genau in Höhe der Kapelle, deren Musik hinter der dünnen Zeltwand deutlich und laut zu hören war. Die Küsse wurden immer länger, immer heißer und immer fordernder. Ihr gegenseitiges Streicheln und Liebkosen wurde intimer und das Verlangen nach mehr stärker und stärker. Ihre eifrigen Aktivitäten und Anstrengungen diesem „mehr“ nachzukommen steigerten sich stetig. Sie hatten beide das Gefühl, dringend etwas gegen dieses Verlangen tun zu müssen, sonst würde es sie verbrennen, ja umbringen. Die Natur schaltete das rationale Denken weiter ab und sie kamen an einen Punkt, an dem ihnen alles egal war.

Sein Vater besaß die Gabe, für aufkommende Probleme stets einen praktischen Ausweg zu finden. Also löste er sich aus der engen Umarmung seiner Liebsten und kniete nieder. Durch einen instinktiven Impuls begann er am Boden die Befestigung der Zeltplane zu lösen und hob diese ein wenig an. Dahinter zeigte sich ein Hohlraum und es kamen die Pfosten und Trägerbalken der Zeltkonstruktion zum Vorschein. Ein umsichtiger Blick in die dunkle Umgebung zeigte, dass keine Menschenseele in der Nähe war. Sie sahen sich entschlossen gegenseitig in die glühenden Augen und waren sich ohne Worte sofort einig, was sie tun würden.

Nacheinander krochen sie unter der geöffneten Plane hindurch an den Pfosten vorbei in den weitläufigen, dusteren, halbhohen Hohlraum unter der Bühne. Die Blaskappelle spielte ihre Musik genau über ihren Köpfen und das stampfen der Füße im Takt polterte auf den Blanken über ihnen. Durch die unzähligen Spalten in den Brettern drangen vereinzelte Lichtstrahlen der Scheinwerfer, die die Bühne erhellten, in ihr Versteck und schafften so eine romantische Beleuchtung, die man mit Absicht inszeniert, vielleicht nicht so perfekt hätte erzeugen können. Hier waren sie mit absoluter Sicherheit ungestört, unbeobachtet und mit sich alleine.

Im Halbdunkel des musischen Lichtspiels schlugen die beiden ihr Liebeslager im trockenen Gras auf. Es duftete nach Heu, Holz und Wiesenblumen. Die Kapelle spielte gerade den Klassiker Humpa-humpa-humpa-Täterä, als sie sich nebeneinander, der feurige Liebhaber halb über seine Freundin gebeugt, auf den Wiesenboden legten um ausgiebig zu schmusen.

Zu dem darauf folgenden „Auf und nieder, immer wieder“ gab das junge Pärchen dann endgültig dem Drang ihres Fleisches und der Natur nach. Das Ende des Liedes war auch gleichzeitig der Höhepunkt ihres überstürzten Beischlafes. Die über den Abend angestaute Lust ließ letztendlich nicht mehr viel Zeit für Romantik. Zunächst einmal ging es ihnen nur um ihre pure Befriedigung.

Die Menge im Zelt gab zum Ausklingen der Musik tobend Applaus, trampelte im Takt mit den Füßen und forderte lautstark eine Zugabe. Sein Vater und seine Mutter mussten ungehalten Lachen, ohne zu befürchten, dass es jemand hören könnte. Der Trubel im Zelt übertönte alles. Es war, als galt der euphorische Beifall und das Begehren nach mehr ihnen beiden und ihrer Leistung. Die Kapelle, ebenso wie auch der Vater, kamen der Aufforderung nach einer Zugabe gerne nach, fügte der bei seiner Erzählung zum Schluss mit breitem Grinsen an. Alkohol- und Erinnerungstrunken kicherte er: „Das waren doch noch schöne, gute Zeiten“ und dieser Abend soll demnach der Zeitpunkt seiner Zeugung gewesen sein. Dort im Verborgenen unbeobachtet und dennoch umgeben von einer Menschenmenge unter der Bühne, mit der musizierenden Kappelle direkt über ihnen!

Erleichtert und entspannt krochen sie alsbald aus ihrem Schlupfwinkel hervor, sich zuvor vergewissernd, dass keiner sie dabei beobachtete. Glücklicher Weise erwischte sie niemand, denn es wäre jedem klar gewesen, was sie in ihrem Versteck getrieben haben könnten. Da die Beiden noch nicht verheiratet waren, wäre das eine Sünde gewesen, von der die Eltern am Besten erst gar nichts erfuhren. Sein Vater lieferte seine Freundin danach noch rechtzeitig zu Hause ab, dass auch kein Groll bei deren Eltern wegen einer zu späten Heimkehr aufkam. Keiner ahnte dass „Es“ trotzdem schon geschehen war.

Da bewahrheitete sich ein abgewandeltes Sprichwort: Wo ein Wille ist, ist auch ein Gebüsch. Bald bemerkte seine Mutter, dass ihr unkeusches Treiben unter der Bühne ein Nachspiel in Form eines beginnenden Lebens hatte.

Es folgte nach dieser Erkenntnis direkt die unumgängliche Hochzeit. Alles andere wäre in dieser Zeit noch völlig undenkbar gewesen. Aber sein Vater stand auch ohne Diskussion zu dem gezeugten Kind und heiratete seine Freundin schnellst möglich.

Für die Augen der Öffentlichkeit war er dann allerdings damit ein Siebenmonatskind. Denn bis seine Mutter merkte, dass sie schwanger war und sie alle erforderlichen Vorbereitungen für eine Hochzeit erledigt hatten, vergingen gut zwei Monate. So blieben folglich bis zur Geburt des Kindes lediglich sieben Monate übrig, um dessen Zeugung vor der Gesellschaft in die Ehe zu verlegen. Das war damals allerdings eine gern angewandte Praxis, um die Moral und den schönen Schein der heilen Welt zu wahren.

Die Zeiten waren damals nicht einfach für ein junges Paar. Die wenigsten Familien besaßen genügend finanziellen Hintergrund, um ihren Kindern den Start zu erleichtern. Seine Eltern gingen beide einer Arbeit nach, aber große Sprünge konnten sie sich deswegen nicht erlauben. Der Vater verdiente sein Geld als Maschinenführer in einem Motorenwerk, seine Mutter war Arbeiterin in einer Fabrik für Gummierzeugnisse. Die erste Einrichtung ihrer gemeinsamen Wohnung mussten sie komplett auf Raten kaufen.

Überhaupt eine akzeptable Wohnung zu finden war schon alleine eine Hürde, an der das Paar lange scheiterte. Erst als seine Oma zu seiner Mutter damals sagte „frage doch mal bei der alten Reinhardt nach“ fand sie für sich und ihren Mann ein vernünftiges Heim. Die Familie Reinhardt war eine der reichsten in dem Vorort, die einige Mietshäuser besaßen. Und der Tipp der Oma führte zum Erfolg bei der Wohnungssuche.

Neun Monate später tat er alles dagegen, die Umstände dabei normal ablaufen zu lassen. Seine Eltern hatten natürlich in der Zwischenzeit geheiratet, um der Geburt ihres Kindes die moralische Legalität zu geben. Ein uneheliches Kind stellte noch eine echte Sünde in den Augen der überwiegenden Bevölkerung dar. Da stand der Schein von ungetrübter Sittlichkeit für viele weit über der Vernunft.

Den Tumult um die Geburt herum erzählte ihm seine Mutter. Es war an seinem fünfzehnten Geburtstag gewesen. Seine Eltern, die Gäste und er saßen gemütlich am Kaffeetisch beisammen, da sagte seine Mutter zu ihm amüsiert: „Heute vor 15 Jahren hatten wir beide einen schweren Kampf miteinander.“

Dann erzählte sie zur Erinnerung aller Verwandten, die es damals direkt miterlebten und zu seiner Aufklärung, wie das mit ihm und ihr ablief, bis er endlich den ersten Schrei in die Welt machte. Einige zeigten schon zu Beginn der Geschichte ein leichtes Lachen. Seine Oma verlieh ihrer Belustigung durch den Zusatz „ja, ja, da habt ihr zwei ein Theater veranstaltet“ Nachdruck.

Bereits am Morgen zuvor habe seine Mutter beim Aufstehen Kreuzschmerzen verspürt, erzählte sie dann. Sie wusste aber nicht, ob das nun Wehen oder normale Schmerzen waren. Um nicht umsonst alle um sie herum verrückt zu machen, entschloss sie sich dann erst einmal abzuwarten, wie sich das weiter entwickeln würde. Die Schmerzen ließ sich seine Mutter zunächst nicht anmerken, so lange sie es schaffte, diese zu verbergen. Sie war selbst gespannt, ob das nun der Beginn der anstehenden Geburt sein würde.

Seine Mutter war noch sehr jung und unerfahren, denn er war schließlich ihr erstes Kind. Die krampfartigen Schmerzen wurden allerdings ständig schlimmer und die Abstände dazwischen kürzer, sodass seine Mutter schon langsam den begründeten Verdacht bekam, das müssten wohl doch die Wehen sein, die seine Geburt ankündigten. Sie hielt es aber auch dann noch nicht für notwendig, Geburtsalarm auszulösen.

Mittags kam dann der werdende Vater unverhofft früher als sonst von der Arbeit nach Hause. Es war reiner Zufall, dass er an diesem Tag ein paar Stunden eher Feierabend machte als üblich. Sollte das vielleicht eine Art Vorahnung oder übersinnliche Eingebung gewesen sein?

Beim Eintreten in die Wohnstube sah er als erstes seine Frau, die sich gerade vor Schmerz über dem Tisch liegend krümmte. Im ersten Moment befiel ihn sogleich Panik, dass etwas nicht stimmen könnte. Aber seine Angst legte sich schnell und er vermutete richtig, dass die Geburt kurz bevor stand und das die Anzeichen dafür waren. Er wollte sofort tätig werden und in die Klinik gehen. Ihm tat es weh, zusehen zu müssen, welche Qualen seine Frau durchstand, ohne dass er ihr helfen konnte. Dennoch wollte sie weiter abwarten, um nicht unnötig früh in der Klinik zu sein.

„Aber das kannst du doch nicht machen, wir müssen los“, beschwörte er seine Frau.

Die Ausführungen seiner Mutter wurden ständig durch Lachen unterbrochen, wenn sie sich das verzweifelte und hilflose Verhalten des Vaters von damals ins Gedächtnis rief. Er saß nur Kopf schüttelnd, aber mit breitem Grinsen dabei und hörte zu.

Während die Zeit verstrich und seine Frau sich durch die Schmerzwellen quälte, wurde der Vater allmählich immer nervöser und hektischer. Er ging in der kleinen Wohnung in erzwungener Zurückhaltung auf und ab, wie ein Tiger in einem viel zu engen Käfig. Bei jedem Krampf, den seine Frau sich krümmen ließ, rannte er zu ihr, um sie liebevoll in den Arm zu nehmen, sie zu streicheln oder ihre Hand zu halten. Mehr konnte er leider nicht für sie tun. Sie ließ auch darüber hinaus nicht mehr zu. Ihr Verhalten brachte ihn fast zur Verzweiflung. Er wollte unbedingt ins Krankenhaus gehen, aber sie vertröstete ihn immer wieder und sagte nur: „Es geht noch, wir warten noch ein Bisschen.“

Als die Wehen mit einem Abstand von zehn Minuten einsetzten, was er mittlerweile mit zittrigen Fingern kontrollierte, ließ er sich allerdings nicht mehr weiter von ihr hinhalten. Seine Geduld war zu Ende und die Strapazierfähigkeit seiner Nerven hatte das erträgliche Maß weit überschritten, sodass er endgültig auch gegen ihren Widerstand handelte. Sein Vater beharrte entschlossen darauf jetzt aufzubrechen und duldete keine Widerrede mehr. Die Unverantwortlichkeit gegenüber seinem ungeborenen Sohn konnte er nicht länger hin nehmen.

Der Vater nahm die bereits gepackte Tasche in die linke Hand und schnappte mit der anderen seine Frau am Handgelenk, um sie sanft, aber bestimmt mit sich zu ziehen. Die Sache wurde ihm zu unheimlich und zu gefährlich. Er wollte, dass sich endlich ein Arzt seiner Frau annahm und sicherstellte, dass alles in Ordnung kam. Egal, ob das nun Wehen oder andere Schmerzen waren. Es musste dringend etwas unternommen werden, um Klarheit zu schaffen.

Ein Auto besaß das junge Paar zu der Zeit noch nicht. So ging er mit seiner Frau im Schlepptau, mehr schlecht als recht, zu Fuß in die etwa 15 Minuten entfernte Entbindungsklinik. Der Weg dorthin verlängerte sich allerdings erheblich, weil sie gezwungener Maßen des öfters eine Rast einlegen mussten. Immer wenn die Mutter wegen der Krämpfe nicht weiter gehen konnte, stützte sie sich zwischen ihrem Mann und den Hausmauern ab, um zu warten, bis der Schmerz vorüber war und sie ihren Weg fortsetzen konnten.

Die Entbindungsklinik war ein kleiner Familienbetrieb in dem Vorort, in dem sie wohnten. Es handelte sich ursprünglich um ein gewöhnliches Wohnhaus, das von der alteingesessenen Hebammenfamilie zur Geburtsklinik umgebaut worden war. Auf die Mütter warteten schöne, gemütliche Krankenzimmer zur Erholung nach der Geburt.

Der Umgang miteinander war dort verhältnismäßig leger und damit angenehmer, als in einem der großen Stadtkrankenhäuser mit ihrer Anonymität und den geschäftsmäßigen Entbindungen. Das lag vor allem auch daran, dass die werdenden Mütter meist selbst schon in diesem Hause zur Welt gekommen waren und man sich in dem Ort ohnehin kannte. Die jüngeren Mütter unter ihnen wurden also teilweise von der Hebamme entbunden, die schon ihre eigene Geburt mit begleitete. Der Satz „Kindchen, mir ist, als war es erst gestern, als ich dich auf die Welt holte und nun wirst du selbst Mama“, wurde daher oft ausgesprochen. Damit besaß der gesamte Ablauf der Geburt und die Betreuung der Mütter hinterher bis zur Entlassung, etwas Familiäres.

Man kannte sie mit Vornamen, mit ihren Eigenarten, ihrem familiären Hintergrund und mit all ihren Ängsten. Das Verhältnis zwischen der allzeit zur Verfügung stehenden Hebamme, den Schwestern und den Müttern war ähnlich wie bei Freundinnen. Frau fühlte sich dort geborgen, ehrlich und liebevoll umsorgt, somit wohl und absolut behütet.

Die Väter wiederum konnten ihre Frauen und Babys jederzeit besuchen. Wann sie wollten und Zeit hatten, stand die Klinik für sie offen. Wenn ein Mann mitten in der Nacht, nach seiner Schicht etwa, das Bedürfnis hatte, seine Frau zu sehen, konnte er das ohne Einschränkung tun. Die einzige aber sinnvolle und selbstverständliche Bedingung war, dass der Besucher sich leise verhielt, um andere Mütter oder gar die Babys, die das Wichtigste dort waren und absolut an erster Stelle standen, in ihrer Ruhe nicht zu stören.

Nicht selten kam es natürlich vor, dass ein Mann nach der gebührenden Feier der Vaterschaft spät nachts ziemlich besäuselt erschien, um seine Frau zu besuchen, was durch den dementsprechenden Zustand des Vaters selten geräuschlos ablief. Solche Situationen hatte das Personal sehr gut unter Kontrolle. Notfalls, wenn der Mann sich zu starrsinnig gebärdete, wurde die Chefin geholt, um den Vater davon zu überzeugen, dass es besser wäre, nach Hause zu gehen. Das sah der betreffende natürlich anfangs nie ein, aber die Hebamme war in diesen Situationen sehr resolut und setzte mit Geduld und Beharrlichkeit immer ihren Willen durch. Und wenn sanfte Gewalt nötig war, konnte sie den störenden Vater auch ebenso gut couragiert und mit körperlichem Einsatz aus der Klinik begleiten.

Die Hebamme und Inhaberin der Klinik war in Art und Aussehen genau so, wie man sie sich vorstellte. Sie strahlte schon alleine durch ihre Erscheinung eine gewisse Ruhe aus, war äußerst gutmütig und stand zu jeder Tages- und Nachtzeit den jungen Müttern zur Verfügung. Ihr Beruf war tatsächlich ihre Berufung. Aus diesem Grund, weil sie eben immer in der Nähe sein wollte, wenn sie gebraucht wurde, befand sich ihre Wohnung praktischer Weise auch in dem Klinikgebäude. Sie hätte es niemals zugelassen, entfernt und unerreichbar für die werdenden Mütter zu sein und eine Wegstrecke zwischen sich und ihnen stehen zu haben.

Sie war mit Leib und Seele Hebamme. Sie lebte für die Geburten, die Babys und die Mütter und deren anschließenden Pflege nach der Entbindung. Jedem Wunsch der Frauen versuchte sie nachzukommen und zu erfüllen. Die Zufriedenheit der Mütter und ihre glückstrahlenden Augen, wenn sie das erste Mal ihr Baby in den Armen hielten, waren ihr Lohn genug für ihre aufopfernde Arbeit. Für dieses Engagement war sie bekannt, genoss großen Respekt in der kleinen Gemeinde, war dafür hoch angesehen und beliebt.

Nur wer in dieser Klinik das Licht der Welt erblickte, war ein echter Einwohner des Stadtteils, so hieß es scherzhaft. Selbst die ältesten des Vorortes konnten sich an keine Zeit erinnern, in der es die Klinik beziehungsweise die Hebammenfamilie und ihr Wirken nicht gegeben haben sollte. Die Familientradition Geburtshilfe begann ganz früher mit Hausgeburten bis die Klinik entstand und so wurde also auch diese kleine Klinik in der Familie immer weiter vererbt und fortgeführt. Auch seine Eltern kamen dort zur Welt.

Nach etlichen Mühen und Strapazen nun endlich in dieser Klinik angekommen, waren die Abstände der Wehen auf sechs bis sieben Minuten gesunken. Die Hebamme kam sofort herbei und erkannte gleich den Ernst der Lage. Sie strich der werdenden Mutter zur Beruhigung mit den Worten: „Ganz ruhig Kindchen, du machst das toll“, zärtlich über den Kopf.

Ohne weitere Verzögerungen liefen gleichzeitig die Vorbereitungen für die Geburt an, ohne dass jedoch die Mutter von der betriebsamen Hektik in ihrem Umfeld etwas merkte, um sie nicht damit anzustecken. Seine Mutter wurde behutsam, aber mit möglichst wenig Zeitverlust in ein Bett gebracht und in den Kreißsaal gefahren. Eine weitere Helferin war inzwischen schon unterwegs, um den Arzt über die anstehende Geburt zu verständigen.

Doch dann geschah das Unfassbare: Die Wehen setzten aus! Sie hörten einfach auf und waren komplett verschwunden. Die Hebamme und der bald eintreffende Arzt kannten dieses Phänomen selbstverständlich. Was sie aber nicht glauben wollten war, dass die Hochschwangere sich sehr gut fühlte und wirklich nichts mehr auf die beginnende Geburt hinwies. Aber es war so. Seine Mutter spürte tatsächlich gar nichts mehr, machte einen fitten Eindruck und auch der Wehenschreiber zeichnete keine Daten mehr auf. Alle Anzeichen, dass das Kind nun in Welt drängte, waren spurlos verschwunden, als ob es sie nie gab.

Der zukünftige Vater lief unterdessen noch verwirrter als zuvor den Gang in der Klinik auf und ab, in der Erwartung jeden Augenblick Papa zu werden. Hätte ihm irgendwer für die zurückgelegte Strecke Kilometergeld bezahlt, wäre die Summe ausreichend gewesen, um seinem Kind eine respektable Aussteuer anzulegen, behauptete er hinterher immer lachend.

Die Aufregung war allerdings für alle beteiligten schlagartig umsonst gewesen. Es geschah vorerst nichts mehr. Seine Mutter saß fortan vergnügt und entspannt und ein wenig aufgedreht im Bett. Der Arzt schaute ebenso ungläubig auf sie nieder wie die Hebamme. Er war etwas ratlos und wusste nicht so recht, was er mit der Situation anfangen sollte. Also untersuchte er die Mutter gründlich, konnte aber dabei keine Anzeichen diagnostizieren, die auf eine in Kürze bevorstehende Geburt hinweisen würden.

Der Arzt empfahl dann, dass sie einfach alle abwarten sollten, bevor sie irgendwelche weiteren Schritte unternahmen. Da es sich zu diesem Zeitpunkt offiziell um eine Frühgeburt handelte, war es natürlich aus medizinischer Sicht sowieso das Beste, wenn die Geburt noch aufgeschoben würde. Das war vom Wissensstand des Arztes her viel besser, als dass das Baby jetzt schon zur Welt kam. Denn Abwarten konnte unter diesen Umständen nur zum Vorteil des Kindes sein und unmöglich schaden.

Nur seine Mutter und der Vater wussten schließlich, dass die Zeit in Wirklichkeit reif gewesen wäre, um das Kind zur Welt zu bringen. Aus diesem Wissen heraus und der Sorge, es könnte dem Baby etwas geschehen, steigerte sich die Nervosität des Vaters bis in die Nähe eines Kreislaufkollaps. Er saß scheinbar ruhig auf dem Bett seiner Frau, die aus dem Kreissaal heraus auf ein normales Zimmer gebracht worden war. Innerlich jedoch brodelte es in ihm wie in einer Dampfmaschine. Er hätte den Arzt am liebsten über die wahren Umstände aufgeklärt und die kleine Notlüge gebeichtet, um ein Risiko für sein Kind zu vermeiden. Seine Frau hielt ihn jedoch entschieden davon ab.

Also verbrachte das Paar die gesamte Nacht gemeinsam in der Klinik. Noch einmal nach Hause zu gehen, stand vollkommen außer Diskussion. Der Vater saß auf einem Holzstuhl vor dem Bett seiner Frau und hielt ihre Hand fest. Es befand sich zwar noch ein zweites Bett in dem Zimmer, aber er wollte seiner Frau so nahe wie möglich sein. Und Ehebetten gab es in einer Klinik natürlich nicht. Da begnügte er sich dann lieber mit dem unbequemen Stuhl.

Der Mann fand keinen erholsamen Schlaf. Gelegentlich nickte er zwar kurz ein, aber beim geringsten Geräusch oder der minimalsten Bewegung seiner Frau schreckte er sofort aus dem leichten Schlaf hoch. Die werdende Mutter hingegen schlief selig und zufrieden die Nacht hindurch. Sonst geschah nichts. Ihr Kind hatte sich anders entschieden und wollte vorerst nicht mehr den wohligen Bauch der Mutter verlassen.

Am Morgen kam dann der Doktor, um sich nach dem Befinden der werdenden Mutter zu erkundigen. Ihr ging es soweit gut und sie war ausgeruht. Nur der Vater hatte durch die Haltung auf dem Stuhl ein steifes Genick bekommen und der fehlende Schlaf sah man ihm deutlich an. Was jedoch nur eine nebensächliche Tatsache war. Hätte es der Sache gedient, wäre er sofort bereit gewesen, jede Menge Genickschmerzen auf sich zu nehmen, wenn dafür endlich alles zum Ende käme und er wüsste, dass es seinem Kind wirklich gut ging.

Die Mutter fragte den Doktor, ob sie nicht nach Hause gehen könnte, weil ja offensichtlich keine Veränderung der Situation zu erwarten sei. Sie erklärte ihm, dass sie doch keinen weiten Weg hatten und bot ihm an, dass sie sofort wieder kommen könnten, wenn sich die Anzeichen für die Geburt erneut zeigten. Der Arzt war von dieser Idee natürlich nicht begeistert und wollte sie lieber in der Klinik behalten. Er hielt es für besser, sie weiter unter Kontrolle zu haben, um bei Bedarf sofort eingreifen zu können.

Nach längerem Flehen und in Absprache mit der Hebamme gab der Doktor ihrem Drängen aber doch nach. Die Mutter versprach ihm hoch und heilig, sich zu schonen und nichts Unvernünftiges zu tun. So entließ er sie mit der Ermahnung, dieses auch wirklich umzusetzen. Den Vater wies er zudem eindringlich an, er solle darauf achten, dass seine Frau keine unnötigen Anstrengungen unternahm. Dieser Hinweis an den Vater war angesichts dessen gesteigerter Fürsorge eigentlich unnötig gewesen.

Mit gemischten Gefühlen machte sich der Vater dann mit seiner hochschwangeren Frau auf den Heimweg. Die Tasche mit der Wäsche und den Toiletteartikeln ließen sie vernünftiger Weise gleich in der Klinik. Die mussten sie ja nicht unnötig hin und her tragen, weil klar abzusehen war, dass die Mutter bald zurückkehren würde.

Dann waren sie keine zwei Stunden zu Hause, da zeigte ihr Kind wieder, obwohl noch nicht einmal geboren, dass es kein Verständnis für normale Abläufe aufbrachte. Es setzten tatsächlich die Wehen erneut ein. Den Startschuss legte ein ganz kurzes Ziehen im Rücken wie am Morgen des vorherigen Tages, nur ein wenig heftiger. Die Mutter versuchte aber wieder, wie auch am Vortag sich zu beherrschen und sich vor ihrem Mann nichts davon anmerken zu lassen. Bei dem nächsten heftigeren Krampf bemerkte der dann jedoch, dass es losging, weil sie diesen nicht verheimlichen konnte. Der Schmerz war so stark, dass sie sich deswegen beugte, was ihm natürlich bei seiner ständigen, überempfindlichen Aufmerksamkeit nicht verborgen blieb. Sofort war er auf den Beinen und wollte zurück in die Klinik. Die Mutter dagegen sagte, sie wolle nicht schon wieder unnötig den beschwerlichen Weg in die Klinik zurücklegen und noch abwarten wolle.

Das führte zunächst einmal zu einer längeren und heftigen Diskussion, womit die Mutter ihr Ziel noch zu warten doch erreichte. Sie verhandelte mit ihrem Mann immer weiter und zögerte den Aufbruch in die Klinik mit allerlei Beschwichtigungen immer weiter hinaus. Dazwischen wurde sie in regelmäßigen Abständen von Wehen erfasst. Mit ihrer unvernünftigen Taktik gewann sie trotzdem Minute um Minute. Der werdende und ängstliche Vater verstand das Problem nicht. Was war da los? Warum wehrte seine Frau sich derart dagegen in die Klinik zu gehen?

Der Vater, der arme Kerl, saß so unruhig wie auf heißen Kohlen vor ihr und versuchte sie zu überreden loszugehen. Aber er hatte keine Chance seinen Willen, der auf Vernunft und Vorsicht baute, durchzusetzen. Er konnte sie ja schlecht über die Schulter legen und tragen. Bei jedem Krampf, den er ihr ansah, sprang er auf und rief aus: „Jetzt gehen wir aber!“ Seine Frau bagatellisierte die Sache dann jedes Mal, beruhigte ihn damit, indem sie sagte „gleich“ und erinnerte ihn an den gestrigen, unnötigen Versuch in die Klinik zu gehen. Diesen ersten, zwecklosen Anlauf konnte er nicht wegdiskutieren, den gab es unbestritten. So schlug seine Frau immer mehr Zeit heraus und brachte ihn schier um den Verstand vor Sorge um sie und ihr ungeborenes Kind.

Darauf hatte der ungeborene Sohn gewartet und schlug überraschend konsequent zu. Urplötzlich verringerten sich die Abstände zwischen den Wehen rapide. Ganz anders als beim ersten Schub am Vortag wurden die Zeiträume zwischen den Krämpfen schlagartig kürzer. Im Nu waren sie auf unter fünf Minuten gesunken. Die Häufung der Wehen nahm weiter zu und die Krämpfe verlängerten sich deutlich. Seine Frau befand sich bald nur noch unter diesen krampfartigen Schmerzen und hätte unmöglich einen Schritt gehen können. Der Vater brachte seine Frau mühevoll ins Bett, wobei er sie mehr trug, als dass sie selbst ging. Nun spitzte sich die Lage schnell ernsthaft zu und der Vater drehte angesichts der neuen Situation, vor der er hilflos stand, fast durch. Sein Sprachzentrum schien gelähmt wogegen seine Bewegungen Überaktivität zeigten. Als Nervenbündel stotterte er nur wild mit den Armen rudernd herum und hüpfte dabei von einem auf das andere Bein vor dem Bett umher.

Es war höchste Eile geboten, denn der werdenden Mutter lief mittlerweile auch schon das Fruchtwasser davon. Der Vater bekam die pure Panik, als er das sah. Für ihn war das überhaupt nicht gesund und sah bedrohlich aus. Er befürchtete, dass das Komplikationen ankündigen würde. Vom Verlauf einer Geburt hatte er schließlich nicht die geringste Ahnung.

Nachdem er seine stöhnende Frau ins Bett gelegt hatte, ihr unruhig zappelnd zusah ohne zu wissen, was er denn tun sollte, um ihr zu helfen, verstrich die Zeit weiter. Erst als sie zwischen zwei starken Wehen keuchte: „Hol´ den Arzt“, kehrte sein Verstand zurück. Seine Starre löste sich. Die unkontrollierten Bewegungen wurden koordinierter, er wurde wieder klar im Kopf und hastete hektisch los. Polternd stürmte er die Treppen hinunter auf die Straße hinaus und rannte in seiner Aufregung zuerst einmal ein paar Meter in die falsche Richtung.

Seine Mutter erzählte dann weiter den Teil der Geschichte, den sie selbst auch nur von den Erzählungen der Hebamme kannte. Am Tag nach der Geburt, als die Aufregung sich endlich gelegt hatte und durch die Freude über die Geburt des Kindes abgelöst war, schilderte ihr die Hebamme eindrucksvoll und sehr bildlich das Eintreffen ihres Mannes in der Klinik.

Der Mann, so schilderte die Hebamme, traf aufgeregt und völlig außer Atem in der Klinik ein. Er hüpfte wie das Rumpelstilzchen vor ihr umher, sagte sie lachend und stammelte kurzatmig unverständliches Zeug. Aus den Worten, die er von sich gab, hätte sie niemals schließen können, was er ihr mitteilen wollte. Nur weil sie ihn ja kannte und wusste, dass seine Frau hochschwanger war, erfasste sie sofort, um was es ging. Das zu erraten fiel ihr bei seinem Verhalten nicht schwer. Die Hebamme erfuhr in ihrem Beruf schließlich ständig die Kuriosität werdender Väter.

Weiter ergriff dann seine Oma das Wort. Sie war damals gerade auf dem Weg zu ihrer Tochter gewesen und traf zusammen mit der Hebamme und ihrem Schwiegersohn vor dem Haus ein. Sie lachte zunächst bei der Erinnerung an das Bild, das sich ihr da bot, bevor sie es beschreiben konnte.

Um die Wegzeit zu verkürzen, hatten sich die Hebamme und der Vater ein Fahrrad genommen. Auf dem Gepäckträger war der Notfallkoffer der Hebamme festgeschnallt, sie selbst saß schwankend auf der Querstange und sein Vater trat in die Pedale, als ob er ein Radrennen gewinnen wollte.

„Kinder bekommen ist anstrengender als zu machen“, warf der Vater bei den Darstellungen der Oma lachend ein.

Beim Bremsen vor dem Haus dann schrie die Hebamme erschrocken und laut auf. Denn wegen der beachtlichen Geschwindigkeit, die der Vater inzwischen erreichte, konnte er kaum rechtzeitig anhalten. Er zog alle Bremsen und presste gleichzeitig die Füße auf den Boden, sodass sie dabei fast stürzten. Mit akrobatischem Geschick und etwas Glück fing er jedoch den drohenden Unfall gerade noch ab.

Im ersten Moment erschrak sich die Oma, weil sie dachte, es sei etwas Schlimmes passiert. Doch dann wurde ihr schnell bewusst, was wirklich los war und womit diese Hektik zusammen hing. Gemeinsam mit ihrem Schwiegersohn und der Hebamme rannte sie nach oben in die Wohnung. Der Vater stürmte ohne auf die beiden Frauen zu warten mit großen Schritten voraus, wobei er zwischen den kurzen Atemstößen immer wieder rief: „Ich komme!“. Bei ihrem Eintreffen im Schlafzimmer bog sich die Mutter auf dem Rücken liegend schon unter Presswehen nach oben. Bereits im Treppenhaus hörten die drei wie die Mutter dabei ihre Schmerzen herausschrie.

Die Hebamme nahm sofort routiniert ihre Arbeit auf. Bei dem Zustand bedurfte es keiner Fragen mehr und es gab keine Zeit zu verschenken. Auch die Oma krempelte ohne zu überlegen oder zu zögern die Ärmel hoch, um die Hebamme zu unterstützen. Zu ihrer Zeit wurden die meisten Kinder noch selbstverständlich zu Hause geboren und so wusste sie einigermaßen Bescheid, worauf es ankam. Die Hebamme brauchte ihr nur gelegentlich kurze Anweisungen zu geben. Ansonsten arbeiteten sie prima Hand in Hand.

Nur der Vater rannte wie ein kopfloser Hahn im Zimmer umher. Er war so gar keine Hilfe, sondern behinderte sie eher. Bis die Hebamme ihn dann aus dem Raum verwies, weil sie einen nervösen Vater neben oder hinter sich nicht gebrauchen konnte. Egal wo er stand, der werdende Vater war einfach nur im Wege und seine Aufregung übertrug sich natürlich auf die Frauen und störte den Ablauf.

Bis endlich der Arzt eintraf, den die Hebamme, noch bevor sie zum Vater auf das Fahrrad stieg, verständigen ließ, brachte sie mit der Oma den Jungen mit vereinten Kräften auf die Welt. Wegen ihrer unzähligen Geburten war die Hebamme perfekt und erfahren, sodass eine unkomplizierte Geburt kein Problem für sie darstellte. Es war eine Bilderbuchgeburt und deswegen gab es keine Komplikationen, mit denen die Hebamme hätte fertig werden müssen. Der Junge kam nach den ganzen Unruhen, die er veranstaltet hatte, kräftig und gesund zur Welt.

Dem Doktor blieben nur die abschließenden Untersuchungen und Nachbehandlungen zu machen. Auch nach seiner medizinischen Sicht kam er zu dem Schluss, dass alles bestens war. Er gratulierte den jungen Eltern und wünschte ihnen und ihrem Sohn alles Gute. Bei der Hebamme bedankte er sich für die hervorragende Arbeit und dann machte er sich auf den Weg zurück.

Die Mutter hielt während dessen mit Tränen in den Augen ihren Sohn im Arm. Der Vater kniete ebenso gerührt vor dem Bett auf dem Boden und drückte die Hand seiner Frau. Die Anspannung war endlich von ihm abgefallen und er war unsagbar erleichtert und glücklich. Keiner konnte sagen, wen er in diesem Moment mehr anhimmelte. Seine Frau, die solche Qualen so tapfer ertragen hatte, oder seinen kleinen, frisch geborenen Sohn, der so verletzlich und zart in der Obhut seiner Mutter den Stress seiner Geburt verarbeitete.

Dieses Bild, das die Hebamme schon so oft gesehen hatte, beeindruckte und rührte sie immer wieder aufs Neue. Das war das größte Geschenk für ihre Arbeit, das sie sich überhaupt vorstellen konnte. Solch eine Harmonie hatte etwas ganz wunderbares für sie. Mehr Zufriedenheit, Glück und Liebe zwischen einem Pärchen als in diesen Minuten nach der Geburt, gab es wohl nie mehr in deren Leben. Genau daran sollten sich dann alle wieder erinnern, wenn sie sich wegen irgendwelchen Kleinigkeiten in den Haaren lagen. Das würde sicherlich helfen, die Streitereien zwischen Paaren, die meist die bösen Worte, die dann fallen, nicht wert sind, sehr einzuschränken, sagte sie immer.

Diese gütige Frau, die nur für andere gelebt und sich für die Babys aufopferte, lebte leider selbst schon lange nicht mehr, als ihm der Tag seiner Geburt geschildert wurde. Aber seine Mutter und sein Vater ebenso wie hunderte andere Paare, denen sie ihre Kinder zur Welt brachte, würden sie niemals vergessen können. An diesem Geburtstag, nachdem die ganze Geschichte erzählt war, stießen sie alle zusammen zur Ehre und zum Gedenken auf die Hebamme an. Allen voran die Oma, die ihre Kinder auch mit der Hilfe dieser besonderen und gutherzigen Frau geboren hatte.

Vom Mauerblümchen zum Loverboy

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