Читать книгу Vom Mauerblümchen zum Loverboy - R. J. Simon - Страница 5

2.

Оглавление

Der nächste große und bedeutende Schritt in seinem Leben war dann die Taufe. Wie es zu erwarten war und in den bisherigen, kurzen Lebenslauf passte, verhielt er sich auch dabei nicht wie gewöhnliche Babys. Der Gottesdienst in der Kirche lief bis zur Taufe normal ab. Beim verabredeten Zeichen schritten dann die Eltern mit den Paten und dem zu taufenden Kind vor zum Altar.

Bis dahin gab es keine Auffälligkeiten. Sogar das Baby verhielt sich erstaunlich still während der Andacht. Es herrschte eine angemessene, feierliche Stimmung in dem Gotteshaus. Doch als das Baby mit seinen noch unkontrollierten Augen den Herr Pfarrer erblickte, war die Ruhe gleich zu Ende. Es begann herzerbärmlich zu schreien, dass es in den Kirchenwänden hallte. Als ob es genau wüsste, dass jetzt etwas ganz unangenehmes folgen würde und dieser Mensch mit dem seltsamen Gewand ihm Wasser über den Kopf gießen wollte.

Darüber empörte sich natürlich niemand, denn es war ja bekannt, dass die meisten Babys bei der Taufe weinten, weil sie diese Prozedur als unbehaglich empfanden. Im Gegenteil zeigten einige Kirchenbesucher ein verständnisvolles, gut gemeintes Lächeln.

Und da trat wieder sein Gebaren gegen die Normalität hervor. In seinem chaotischen Charakter tat er genau das Gegenteil von dem, was gewöhnliche Täuflinge tun. Im Kontrast zu anderen Babys schrie und klagte er, als nichts passierte und zeigte ein breites Grinsen und quiekte, als der Pfarrer begann, das heilige Wasser über seinen kleinen Kopf laufen zu lassen.

Jedes Mal, wenn der Pfarrer andächtig sprach und kein Weihwasser über sein Köpfchen floss, schrie er jämmerlich. Sobald sein Kopf jedoch mit dem geweihten Wasser benetzt wurde, lachte er vergnügt. So nahm der Pfarrer, als er dieses Verhalten erkannte, wesentlich mehr Wasser in Anspruch als gewöhnlich. Denn er ließ fast ununterbrochen einige Tropfen davon über die Stirn des Säuglings laufen, um ihn zu beruhigen. Und damit gelang es wunderbar, dass der Säugling still lachte und der Pfarrer seine Worte ungestört predigen konnte.

Er beendete seine Taufe und die damit verbundene Predigt mit diesem kleinen Trick meisterhaft und ohne weiteres Babyweinen. Und während alle Beteiligten, die nahe genug dabei waren, ihr Lachen unterdrückten, wurde der Junge auf den Namen Heiko Arbel getauft. Eine solche Taufzeremonie erlebte der Pfarrer bis dahin noch nie, gab er hinterher amüsiert zu.

Seine Patentante, die eine jüngere Schwester seiner Mutter war, erzählte ihm diese Geschichte einige Male. Mit ihr verstand Heiko sich sehr gut. Sie war auch gerade mal sechzehn Jahre älter als er selbst, wodurch schon eine gewisse Verbundenheit entstand.

Vorerst war seinem Drang, Unordnung und Verwirrung in seiner Umgebung zu stiften, genüge getan. Zumindest besaß Heiko keine dementsprechenden Erinnerungen an seine Säuglings- und frühe Kinderzeit, die etwas anderes sagten. Das konnte aber auch daran liegen, dass er diese Phase genau genommen verschlafen hatte. Seine Mutter erzählte immer, dass, wenn es ihm langweilig wurde, oder er im Kindesalter auf etwas für ihn wichtiges wartete, er sich einfach zum schlafen legte, weil dann die Zeit schneller verging.

Dieses Verhalten war natürlich auch vollkommen anders als bei anderen, gewöhnlichen Kindern. Wenn sein Vater und seine Mutter mit ihm irgendwo zu Besuch waren, mussten sie nie befürchten, dass Heiko quengeln würde, wenn es ihm zu lang ging. Er legte sich einfach auf die Couch oder auch gerne unter den Tisch, wenn da ein flauschiger Teppich lag, und verschlief die Zeit, bis es endlich nach Hause ging.

Natürlich funktionierte das ebenso an Weihnachten. Wenn ein Durchschnittskind seine Eltern nervte, weil die Bescherung noch so lange auf sich warten ließ, legte Heiko sich in sein Bett und verschlief die quälende Wartezeit bis zum Abend.

Davon abgesehen war Heiko ein Baby, wie jedes andere auch. Er schrie die Nacht hindurch, um am Tage dann friedlich zu schlafen, hatte seine kleinen Hände immer genau da, wo sie nicht sein sollten und tapste mit den ersten, unsicheren Schritten oft in gefährliche Situationen. Heiko weinte wie jedes andere Kind beim Zahnen und machte die üblichen Qualen bei den Kinderkrankheiten durch. Weitere, extrem abnormale Eigenarten waren ihm über sich nicht erzählt worden. Als Kleinkind schien er noch ein einigermaßen typisches Verhalten gezeigt zu haben.

Heiko wuchs in einer gut funktionierenden und harmonischen Familie auf, war wohl behütet und hatte eine glückliche Kindheit. Er entwickelte sich, wurde älter, kam in den Kindergarten und anschließend in die Schule. Also bis dahin ein ganz normaler Lebensverlauf. Erst ab der Kindergartenphase und vor allem aus der Schulzeit waren in ihm konkrete Erinnerungen vorhanden, die seine Ungewöhnlichkeit ausmachten und unterstrichen.

So war ein Erlebnis recht deutlich in seinem Kopf, weil ihm das damals große Angst bereitete. Vielleicht war es auch gerade deswegen noch so gegenwärtig. Im Nachhinein reihte es sich allerdings als eher lustige Begebenheit in seine Kindergeschichte mit ein.

Mit seiner Mutter war er damals an einem sonnigen Tag unterwegs zum nahe gelegenen Kinderspielplatz. Auf dem Weg dorthin gab es eine Straßenbaustelle, wo ein großer Erdaushub gemacht wurde. Neben dem Loch im Boden lagerten Betonröhren, die dort in der Grube verlegt werden sollten. Heiko fiel natürlich nichts Besseres ein, als durch eine dieser Röhren hindurch zu krabbeln. Sie boten sich ja regelrecht als Tunnel zum durchkriechen und als Abenteuerspielplatz an.

Seine Mutter rief noch, er solle das sein lassen, und versuchte es zu verbieten, aber weil er etwas voraus gelaufen war, konnte sie ihn nicht mehr halten. Mit lautem Lachen, das in der Röhre herrlich hallte, was ihn zusätzlich anspornte, kroch Heiko in eine der Betonkanäle. Seine Mutter lief gleich zum anderen Ende, um ihn dort in Empfang zu nehmen.

Heiko strahlte und lachte, als er seine Mutter an seinem Ziel sah und versuchte sein Tempo zu erhöhen. Seine kleinen Hände platschten auf den Beton, die Beinchen schrammten mit den Knien und sein Rücken oben die Röhre entlang. Die Mutter dachte noch: „Die Hosen sind durchgescheuert, bis er da durch ist.“ Aber das war für sie nichts Ungewöhnliches mehr. Zerrissene Hosen und Pullover oder auch aufgeschlagene Knie und Schrammen am Körper waren bei ihrem Sohn keine Seltenheit. Er gewöhnte sie während seines Heranwachsens an diese Begleiterscheinungen.

Kurz vor dem Ende der Röhre stockte Heiko abrupt und sah seine Mutter dann mit großen Augen an. „Na komm weiter, komm zu Mami“, versuchte sie ihn zu locken. Aber Heiko bewegte sich keinen Millimeter mehr. Und als er zu weinen begann und fast in Panik schrie, wurde ihr mit Schrecken klar, dass er fest steckte. Sie musste handeln! Sofort beugte sie sich so weit es ging in die Röhre und versuchte ihn frei zu ziehen.

Heiko war fast ganz durch die Röhre gekommen und steckte knapp vor dem Ausgang fest. Aber er klemmte noch zu weit drinnen, als dass seine Mutter ihn richtig zu fassen bekommen hätte. Sie konnte ihn gerade so mit den Fingerspitzen unter den Armen berühren. Das reichte aber nicht, um ihn heraus zu ziehen. Heiko weinte vor Angst und vielleicht auch vor Schmerzen, das konnte seine Mutter nicht genau feststellen. Jedenfalls schluchzte er jämmerlich und das tat ihr weh.

„Bleibe ganz ruhig, nicht mehr weinen. Mami holt Hilfe mein Liebling“, versuchte sie ihr Kind zu beruhigen. Es gelang und er wimmerte nur noch ein wenig. Seine Mutter lächelte ihm noch einmal ermutigend zu, bevor sie aus seinem Blickfeld verschwand, obwohl sie wusste, dass es in der Situation schlecht war, ihn zu verlassen, aber sie musste schließlich Hilfe holen. Heiko wartete tapfer ab, ohne zu weinen und ohne Angst zu zeigen, obwohl seine Mutter verschwand, was geschehen würde. Anscheinend erfasste er die Lage richtig und verstand ihr Handeln.

Seine Mutter, völlig aufgelöst, lief auf die Strasse, um Hilfe für ihren festsitzenden Sohn zu finden, immer im Hinterkopf, dass er alleine in der Betonröhre steckte. Ein paar Häuser weiter stand ein Mann in seinem Garten und goss die Gemüsebeete. Auf ihn rannte sie zielstrebig los und rief ihm schon von weitem entgegen, dass sie Hilfe brauchte. „Mein Sohn klemmt in einer der Röhren dort, können sie bitte Hilfe rufen?“

Der Mann erkannte sofort die Tragödie, warf seine Gieskanne weg und lief ihr hilfsbereit entgegen. „Ich habe kein Telefon, aber die Grünwalds haben eines. Ich laufe zu ihnen und verständige die Feuerwehr!“

Das war doch schon ein Lichtblick, der sie erleichterte. Sogleich lief sie wieder zu den Röhren hin, um ihrem Sohn wieder beizustehen und ihn zu beruhigen. Ob sie sich bei dem gefälligen Mann überhaupt bedankte, wusste sie nicht mehr. Ihre Gedanken galten einzig ihrem Sohn. Trotz verweintem Gesicht lachte Heiko, als er seine Mutter wieder zu sehen bekam. Sie sprach beruhigend auf ihn ein und versuchte ihn so gut es ging zu streicheln, damit seine Angst sich legte. Heiko schien mittlerweile ruhiger zu sein als sie selbst, was andererseits auch ihr etwas die Anspannung nahm. Nun musste nur endlich die herbeigerufene Feuerwehr kommen. In solchen Situationen ist, wie man weiß, jede vergehende Sekunde eine endlose Qual.

Als erstes traf der Mann ein, den die Mutter um Hilfe gebeten hatte und bestätigte, dass die Feuerwehr auf dem Weg sei. Auch er versuchte dann erst einmal, Heiko aus der Röhre zu ziehen. Aber auch bei ihm gab es keinen Erfolg. Der Mann wollte natürlich auch nicht zu fest an ihm zerren, um ihm nicht weh zu tun. Der Junge saß unverändert fest.

Dann hörten sie mit Erleichterung die anrückende Feuerwehr. Das Martinshorn kündigte schon von weitem die Hilfe an, die Heiko benötigte. Die Sirenen kamen sehr schnell näher und wurden naturgemäß stetig lauter. Als die Einsatzwagen auf die Straße einbogen, in der sich die Betonröhren befanden, war der Lärm schier nicht zu ertragen. Obwohl das Gedröhn bedeutete, dass nun endlich die dringend benötigte Hilfe eintraf, schmerzte es beinahe in den Ohren.

Um das Betonrohr versammelten sich inzwischen weitere Passanten und an den Fenstern saßen durch den Alarm aufgeschreckt auch einige Leute, um zu sehen, was denn dort vor sich ging. Einer der hinzu gestoßenen Männern versuchte ebenfalls, den Jungen aus seiner misslichen Lage zu befreien, was ihm aber ebenso wenig gelang. Aber die Rettung näherte sich bereits im Eiltempo.

Der hilfsbereite Mann, der den Notruf abgesetzt hatte, winkte den Rettungskräften entgegen, um auf sich aufmerksam zu machen, was selbstverständlich nicht nötig gewesen wäre. Seine Mutter schaute erleichtert zu, wie die Wagen nun langsamer und ohne Martinshorn auf sie zu rollten. Wenige Meter von ihnen entfernt blieben sie stehen und aus dem Wagen sprangen sofort eifrig und dienstbeflissen zwei Feuerwehrleute auf die Straße.

Der Einsatzleiter kam direkt auf Heikos Mutter zu und fragte, um was es ging. Sie erklärte ihm: „Mein Sohn steckt hier in dem......“ und weiter kam sie nicht. Beim Umdrehen, um auf das entsprechende Rohr zu zeigen, sah sie, wie ihr Söhnchen aus eben diesem gekrochen kam. Er richtete sich auf und zeigte mit leuchtenden Augen und breitem Grinsen auf die großen, roten Autos und sagte: „uuuiii Feuerwehr!“

Unter Lachen sagte der Feuerwehrmann nur, „steckte“, und kniete sich zu Heiko hinunter. „Na kleiner Mann, tut dir was weh?“

„Nein“, war die knappe Antwort, ohne den Blick von dem imposanten, feuerroten LKW zu nehmen.

„Unsere Autos gefallen dir, was?“

„Ja“, kam sofort die Antwort mit begeistertem Blick im freudigen Gesicht. Der Schreck war da bereits vergessen.

„Willst du auch mal Feuerwehrmann werden, wenn du groß bist“, fragte der Einsatzleiter den kleinen Heiko. Bei dieser typischen Kinderbefragung musste seine Mutter schon im Voraus lachen, weil sie genau wusste, was nun kommen und wie Heiko den Mann verblüffen würde. Auch ihre Anspannung verflog sofort und sie freute sich, dass Heiko nichts weiter geschehen war und so konnte sie gelöst lachen.

Heiko sah dem Kommandanten dann direkt ins Gesicht und antwortete mit sichtlicher Begeisterung wortgewandt: „Ich werde mal Paläontologe.“

Hilfe suchend blickte der verdutzte Feuerwehrmann die Mutter an, weil ihm dieser Beruf rein gar nichts sagte. Den hätte er, wie die meisten Menschen nicht einmal auf Anhieb fehlerfrei aussprechen können. Die Mutter erklärte dem Feuerwehrmann, dass das ein Dinosaurierforscher sei. Ihr Sohn schwärmte von diesem Beruf, seit er einen Bericht über Ausgrabungen dieser Urechsen gesehen hatte. Dabei muss er diese Berufsbezeichnung aufgeschnappt haben und versetzt seit dem jeden damit in Erstaunen, der ihn nach seinem Berufswunsch fragte. Bis jetzt war noch niemand unter den Fragenden, der gewusst hätte, um wen oder was es dabei ging. Auch seiner Mutter hatte Heiko das erst erklären müssen. Im Vorschulalter! Und nachdem sie im Duden nachgeschlagen hatte, ob das stimmte, was ihr Sohn da in seinem kleinen Kopf verfestigte, war sie wieder einmal mehr beeindruckt von ihm. Das geschah des Öfteren, dass Heiko auf wundersame Weise ungewöhnliches Wissen an den Tag legte.

„Toll“, sagte der Feuerwehrmann dann nur noch kurz, strich Heiko lieb über den Kopf und verabschiedete sich von seiner Mutter und dem Mann, der sie verständigte. Den Einsatz musste Heikos Mutter nicht bezahlen, denn zum Glück gab es Zeugen, die bestätigten, dass der Junge wirklich fest steckte und es sich nicht um blinden Alarm oder gar mutwillige Irreführung handelte.

Heikos Wissensdurst war auch in dieser Zeit schon sehr konkret ausgeprägt. Sein ausgefallener Berufswunsch kam nicht nur daher, weil ihm vielleicht der besondere Name gefiel, oder weil er bemerkt hatte, wie er damit die Leute in Erstaunen versetzen konnte, sondern weil er einfach gerne den Dingen auf den Grund ging. Und da war der Beruf eines Forschers noch dazu in Verbindung mit Dinosauriern die geniale Lösung.

Seine Neugier und Lernbereitschaft begann schon als Kleinkind. Später versäumte er möglichst keine Beiträge aus der Tier- und Pflanzenwelt oder auch wissenschaftliche Sendungen im Fernsehen. Somit prägte sich seine Allgemeinbildung schon im Kindesalter immer mehr und besser als bei Gleichaltrigen aus. Dementsprechend bewegte er sich später bei den Themen Flora und Fauna ebenso sicher, wie bei Gesprächen über das Universum oder auch die Psychologie der Menschheit. Seinen Eltern machte er mit seinem Verhalten und den oftmals erstaunlichen Aussagen für ein Kind, die eben auf sein weit fortgeschrittenes Wissen beruhten, gelegentlich fast schon Angst. Sie taumelten in ihren verzweifelten Versuchen ihn zu begreifen zwischen „unser Sohn ist ein Genie“ und „unser Sohn ist uns unheimlich“.

Mit seinen Ausführungen und Schlussfolgerungen, die weit über den Verstand seines jeweiligen Alters hinausgingen, verblüffte er seine Eltern unzählige Male. Das war vornehmlich für seine Mutter nicht einfach zu verstehen und zu deuten. Der Vater erlebte diese Situationen freilich seltener life mit, weil er tagsüber bei der Arbeit war und diese Begebenheiten nur abends von seiner Frau geschildert bekam.

Einmal schockte und verblüffte Heiko seine Mutter mit einer raffiniert eingefädelten Pointe. Damals war er gerade in der 2. Klasse. In einem Alter in dem andere Kinder überwiegend nachplappern was sie aufschnappen, machte sich Heiko bereits übergreifende Gedanken und wendete diese frech an. Es war ein herrlicher Tag und seine Mutter musste ihn zu den Schularbeiten zwingen. "Musste Opa auch immer lernen und Schularbeiten machen?"

"Ja natürlich!"

"Siehst du: Und heute ist er tot!"

Das saß und seine Mutter konnte nichts mehr antworten. Heiko grinste sie still an, sagte aber nichts mehr weiter. Ihm war klar, dass ihm dieser kleine Seitenhieb nicht davor bewahrte seine Schulaufgaben zu erledigen. Aber er hatte zumindest für einen kurzen Augenblick seinen Spaß.

Natürlich besaß er als Junge und als junger Mann diverse Hobbys, die ihm ebenfalls ein breit gefächertes Wissen vermittelten. Auch diese zogen sich durch absolut unterschiedliche Bereiche, die selten etwas miteinander gemein hatten. Selbstverständlich führte er diese Steckenpferde nacheinander im Laufe der Zeit aus. Mehrere gleichzeitig auszuüben wäre schon aus dem Grunde schier unmöglich gewesen, weil, wenn er sich für etwas interessierte, er alle Aufmerksamkeit und Freizeit dafür einsetzte. Wenn Heiko also ein Gebiet fesselte, erforschte er dieses ausführlich und von Grund auf. Dazu verschlang er unzählige und jede zu bekommende Lektüre und für die praktischen Abschnitte des Hobbys opferte er gerne den Rest seiner freien Zeit. Seine autodidaktischen Fähigkeiten, die Heiko zudem eigen waren, brachten ihn dabei schnell weiter und er erklärte sich Zusammenhänge selbstständig absolut korrekt und schlussfolgerte logisch gültige Grundsätze.

So zeigte sich dann auch in der Schule, dass sein Allgemeinbildungsniveau über dem seiner Mitschüler lag. Sein Charakter war glücklicher Weise so ausgeprägt, dass Heiko sich weder für etwas Besseres hielt, noch seine geistigen Vorteile übertrieben nach außen kehrte. Heiko hielt sich lieber zurück, beobachtete die anderen Menschen und freute sich über seinen Wissensvorsprung insgeheim, weil er die Antworten kannte, über die andere oft rätselten. Wenn es eine Situation gab, bei der er sich deutlich überlegen sah, so genoss er dieses Gefühl im Stillen ohne sein Wissen angeberisch hervor zu kehren und sich als Besserwisser zu outen.

Heiko stellte schon in jungen Jahren verschiedene Tier- beziehungsweise Insektenbeobachtungen und Versuche an. Klar, jedes Tier, das Heiko sah, beobachtete er genauestens. Ob das auf der Straße die Hunde und Katzen waren, der auffallende Flug der Schwalben am Himmel oder die Artenvielfalt der Insekten. Es interessierte Heiko einfach alles, was mit Pflanzen und Tieren zu tun hatte. Um seine Neugier auf diesem Gebiet dann zu stillen, ließ er sich einiges einfallen.

Selbstverständlich gab es bei Heiko auch die Chemiekasten- und Mikroskopphase, beides Dinge, die zum befriedigen seiner Neugierde genau die richtigen Instrumente darstellten. Seine Eltern und auch die Patentante wussten das genau und beschenkten ihn mit solchen Geräten und Utensilien, mit denen er neue Dinge erfahren konnte. Heiko nahm in seinem Forschungsdrang auch gerne mal die Schmerzen in Kauf, die ein Nadelstich mit sich brachte, wenn er sich selbst ein paar Tropfen Blut abzapfte, um es unter dem Mikroskop zu betrachten. Die dünnen Häutchen zwischen den Zwiebelschichten und selbst gezüchtete Pantoffeltierchen gingen dem natürlich längst voraus.

Mit 10 Jahren kannte Heiko unser Sonnensystem auswendig. Alle Planeten konnte er in der richtigen Reihenfolge, in der sie um die Sonne kreisen, mit ihrer Größe und der Entfernung aufzählen. Ihm imponierte ein Vergleich, den er zufällig irgendwo las, nach dem das Verhältnis von Sonne zur Erde, wie das zwischen einem Wasserball und einer Erbse war. Das weckte sein Interesse und er beschäftigte sich damit wie bei allem sehr intensiv. Heikos wichtigstes Utensil bildete in der Zeit sein Teleskop, das er sich aufs sehnlichste wünschte und das ihm dann auch als Geburtstagsgeschenk eine große Freude bereitete. Mit unglaublicher Ausdauer beobachtete Heiko fortan den Nachthimmel, bis seine Mutter ihn ins Bett schickte, weil die Zeit dafür längst überschritten war.

Heiko fing auch Kaulquappen und beobachtete an ihnen die allmähliche Verwandlung zum Frosch. Dabei ging er allerdings nicht, wie die meisten Jungs mit einem gewöhnlichen Glas an die Sache heran. Heiko organisierte sich statt dessen eine Kiste mit Sand, in die er ein kleines Wasserbecken mit Steinen eingrub, damit die Kaulquappen schwimmen und nach der Umwandlung als Frosch an Land klettern konnten. Die winzigen, kleinen schwarzen Frösche setzte er danach wieder gesund an den Tümpeln im Wald aus, wo er die Kaulquappen her holte.

Dort an diesen Altrheinarmen, wo er einen großen Teil seiner Kindheit verbrachte, las Heiko ebenso auch Krebse, Molche, Stichlinge und sonstiges Getier für seine Beobachtungen auf. Er war kein Lauser. Alles was Heiko auf diesem Gebiet anstellte, diente der Sättigung seines Wissenshungers und er quälte kein einziges Tier. Heiko blies niemals Kröten bis zum Platzen auf, wie das andere Jungs traditionell gerne taten.

Auch mit Pflanzen stellte er seine Untersuchungen an. Heiko brachte alle möglichen Samen mit nach Hause, um sie keimen zu lassen und deren Wachstum zu beobachten. Besonders Spaß machte ihm da die Zaunwinde, eigentlich ein Unkraut. Deren getrocknete Samenkapseln sammelte Heiko, öffnete sie und fummelte sich die Samen heraus, um sie einzutopfen. Diese Rankenpflanze legte ein erstaunlich schnelles Wachstum an den Tag. Wenn die Saat aufging und sich aus der Erde der junge Trieb erhob, schaffte sie es täglich, ein neues Blatt zu bilden. Heiko freute sich über diese Geschwindigkeit und noch mehr darüber, als es ihm gelang, einige davon in der Wohnung zur Blüte zu pflegen.

Seine Mutter überraschte auf diesem Gebiet bald nichts mehr. Denn zu ihrem Leidwesen schleppte Heiko ständig irgendwelches Krabbelzeug an. Wenn sie ihren Ekel über eines der Kriechtiere äußerte, erklärte der Sohn ihr meistens mit schlauem Wissen erstaunliche Eigenarten der Forschungsobjekte, um diese zu verniedlichen. Heiko verblüffte seine Mutter dann schon einmal mit Unterweisungen, dass der Panzer eines Insektes sich doch nur aus harmlosem Chitin, einem erstaunlichem Baustoff zusammensetzte, oder andere wirbellose Krabbler überwiegend nur aus Protein und Eiweiß bestanden.

Heiko machte vor nichts Halt. Er fing sich Mücken, Schnecken, Käfer und auch einmal einen Frosch oder gar einen Flusskrebs ein, um deren Verhalten zu Hause zu analysieren. Dabei achtete Heiko im Gegensatz zu vielen anderen Jungs, die so etwas wohl auch in abgeschwächtem Umfang taten, darauf, dass diese Insekten und Tiere die Gefangenschaft auch unbeschadet überlebten. Er vergaß die Insekten nicht in ihrem Gefängnis, nachdem das erste Interesse gestillt war, oder ließ sie darin zu Grunde gehen, sondern schenkte ihnen meist nach wenigen Tagen wieder die Freiheit. Er hegte und pflegte jedes einzelne Tier und fütterte es möglichst mit Leckerbissen, über die er sich ausgiebig in Büchern erkundigte. Wenn Heiko meinte, bis dahin noch nicht alles gesehen zu haben, was es zu beobachten gab, fing er sich einfach neue Studienobjekte ein.

Unter anderem besorgte Heiko sich auch einmal ein etwas größeres Glas mit schraubbarem Blechdeckel und befüllte es mit sandiger Erde. In den Deckel schlug er mit einem Nagel ganz vorsichtig unzählige, winzige Löcher. Dann machte er sich mit seinem Gefäß auf den Weg, suchte sich ein Ameisennest und fing so viele der kleinen Krabbler ein, wie er bekommen konnte. Die abwehrenden Bisse der Ameisen nahm er gerne hin und begutachtete dabei ebenso genau, wie sie sich mit ihren Kieferklammern mutig in seine Haut verbissen, um sich zu verteidigen.

Den Rest des Tages saß Heiko dann zu Hause vor dem Glas und sah zu, wie sich die Ameisen verhielten. Zunächst beobachtete er in dem Behälter ein unübersichtliches Gewusel. Doch dann begannen sie damit, sich zu organisieren und Gänge in die Erde zu bauen. Heiko war gefesselt davon, wie diese kleinen Tierchen jedes einzelne Sandkorn mit ihren Zangen fassten und wegtrugen. Das ganze Treiben erschien mit einem Mal genau geordnet, wie abgesprochen und jede einzelne Ameise kannte ihre Aufgabe und den Bauplan. Körnchen für Körnchen trugen sie eifrig an einer Stelle an der Oberfläche des Sandes ab, um einen Gang in die Tiefe zu treiben. Das war faszinierend!

Am nächsten Tag konnte Heiko schon durch das Glas deutlich die zahlreichen Gänge sehen, die in solch mühevoller Kleinarbeit entstanden waren. Was diese Winzlinge da über Nacht geschaffen hatten, stellte sich für Heiko schon wie ein kleines Wunder dar. Die Ameisen verdienten von nun an seinen Respekt. Heiko fütterte sie mit feinen Sachen, von denen er wusste, dass sie sie liebten. Er kippte ein paar Zuckerkörner in das Glas oder legte ein kleines Stück Schokolade hinein und, weil bei seinen Erkundigungen heraus kam, dass auch Ameisen gerne Nektar ernteten, besorgte er täglich duftende Blüten von Sträuchern und Unkrautgewächsen. Am meisten bot er ihnen die Taubnessel an.

Damit sich Kondenswasser bilden konnte, träufelte Heiko alle paar Tage etwas Wasser hinein. Denn er vermutete, dass Ameisen, wie alle anderen Lebewesen, auch Wasser brauchten. In den Nachschlagewerken fand er nichts dazu und beschloss aber, dass es zumindest nicht schaden würde. Offensichtlich erging es ihnen in ihrem Gefängnis ganz gut, denn sie lebten alle weiter und Heiko musste keine Verluste beklagen. So konnte er über einen erheblichen Zeitraum die Ameisen beobachten, bevor er sie wieder im Herbst aussetzte.

Nur ein einziges Mal verlief eine seiner Beobachtung für eines der Insekten tödlich. Auf dem Weg zu Schule entdeckte Heiko morgens ein Spinnennetz. Er besah es sich ganz genau und wäre deswegen fast zu spät zur ersten Stunde gekommen. Allerdings nicht versehentlich, weil er die Zeit vergessen hätte. Heiko fand es einfach interessanter diese Spinnwebe zu betrachten, als pünktlich im Klassenzimmer einzutreffen. Dieses Risiko nahm er bewusst in Kauf. Wie toll die Fäden in der Morgensonne glänzten und wie gleichmäßig und geometrisch das Bild des Netzes war, ließ für ihn die Pünktlichkeit des Schulbeginns in den Hintergrund treten. Von der Spinne, dem Baumeister dieses erstaunlichen Gebildes, war allerdings nichts zu sehen.

Nach der Schule dann, deren Ende er redlich herbei sehnte, lief Heiko zuerst an einen Garten in der Kleingartenanlage, der in der Nähe lag, von dem er wusste, dass von den überhängenden Ästen die reifen Äpfel und Birnen auf den Gehweg fielen. Dort auf dem zerplatzen und gärenden Obst gab es jede Menge Fliegen, das war Heiko klar. Mit der bloßen Hand fing er sich davon eine der dicksten. Das war keine große Schwierigkeit und ging recht schnell, da Heiko sehr flink mit den Händen war.

Als er gleich beim zweiten Versuch glaubte, erfolgreich gewesen zu sein öffnete Heiko die Faust ein klein wenig, um der Fliege ein wenig Raum zu geben und das zu überprüfen. Als Heiko spürte, wie sie mit den Flügeln schlug, bestätigte ihm das seinen Jagderfolg und er lief los zu dem Spinnennetz. Ihm war schon klar, dass die Fliege lebend in das Netz kommen musste, weil die Spinne nur auf das Zappeln der Beute reagieren würde.

An seinem Ziel angekommen, warf er den Köder in das Netz der Spinne und wartete ab, was geschah. Zum Glück gelang Heiko der Wurf auf den ersten Versuch. Die Fliege landete im Zentrum des Gespinsts und haftete an den klebrigen Fäden. Ansonsten hätte Heiko noch einmal den Weg zurück laufen müssen, was er aber ganz sicher auf sich genommen hätte, um seine Beobachtung machen zu können.

Die klebrigen Fäden fesselten die fette Fliege und sie hing sicher darin und schlug hörbar summend mit den Flügeln, sodass das ganze Netz vibrierte. Schon nach den ersten Schwingungen kam die Spinne über die Haltefäden des Netzes aus einem kleinen Spalt in der Mauer gekrochen und hangelte sich schnurstracks auf ihr Opfer zu. Die Spinne betastete die Fliege kurz mit den Vorderbeinen, befand sie wohl für köstlich und spann sie deswegen blitzschnell ein und transportierte das Futterpaket ab.

Der Versuch verlief also erfolgreich für Heiko, wenn er auch dafür indirekt ein Insekt tötete, was er eigentlich nicht gern tat. Aber so ist die Natur, dachte er sich. Danach beeilte sich Heiko, die verlorene Zeit wieder aufzuholen, was ihm jedoch nicht ganz gelang. Seine Mutter fragte gleich: „Wo hast du dich denn wieder herum getrieben?“

Heiko erklärte ihr ausführlich, was ihn aufhielt und seine neuesten Beobachtungen. Etwas zu erfinden und zu lügen, wäre ihm nicht in den Sinn gekommen. Mit sichtlicher Begeisterung für die Details schwärmte er mit leuchtenden Augen, in denen die Freude über seine praktische Übung zu lesen war, von seinem Feldversuch, wobei seine Mutter die Einzelheiten seiner Forschung eigentlich nicht so ausführlich wissen wollte.

„So etwas dachte ich mir schon“, erwiderte seine Mutter schließlich mit ein wenig Ekel. Sie kannte ihren Sohn und seine Eigenarten zur Genüge. Solche Dinge waren ihr natürlich trotzdem lieber als ein völlig anderes Erlebnis, das sie einmal mit Heiko erlebte. Auch da hatte er etwas ausprobiert jedoch auf einem gänzlich anderen Gebiet als die Erforschung von Tieren. Seine Mutter erschrak dabei ähnlich wie damals, als er in dem Betonrohr stecken blieb.

Heiko mag so neun oder zehn Jahre alt gewesen sein. Ein Cousin von ihm, der Sohn ihrer Schwester, war übers Wochenende zu Besuch. Heiko und Jens waren mit wenigen Monaten Abstand im gleichen Alter und verstanden sich hervorragend. Sie mochten sich sehr und verbrachten viel Zeit miteinander. Die beiden stellten zusammen nicht mehr an als andere Jungs. Sie waren also gemeinsam gut zu ertragen.

Nur dieses eine Mal kosteten sie seine Mutter einige Nerven. Die beiden spielten scheinbar brav und ruhig in Heikos Kinderzimmer miteinander, während die Erwachsenen sich im Wohnzimmer aufhielten. Als es dann Zeit wurde, die Kinder ins Bett zu bringen, kam seine Mutter ins Zimmer. Es war schon später als normal, denn wenn Besuch da war, durften die Jungs schon etwas länger auf bleiben.

Als die Mutter das Zimmer betrat stutze sie sogleich. Heiko und auch Jens standen irgendwie seltsam, mit verschobener Figur und schräg da. Wie auf ein Kommando drehten sich die Jungs langsam zu ihr um und sahen sie merkwürdig an, ohne auch nur einen Ton von sich zu geben. Der nächste Blick von Heikos Mutter fiel auf dessen Schreibtisch, auf dem sich eine kleine Pfütze aus dunkelroter Flüssigkeit befand, die aussah wie Blut. In diesem Moment stolperte Heiko und schlug der Länge nach auf den Boden, um dort regungslos liegen zu bleiben. Jens schaute ihm nur teilnahmslos zu.

„Herbert“, schrie die Mutter mit einem Anflug von Hysterie nach ihrem Mann, weil sie nicht wusste, was da los war. Sie befürchtete das schlimmste, ohne zu wissen, was das denn sein könnte. „Was ist das? Was habt ihr gemacht?“ Die Frage hatte sie noch nicht ausgesprochen, da kniete sie schon neben Heiko und streichelte sein Gesicht in ihrer ängstlichen Ungewissheit. Jens hielt sie gleichzeitig im Arm.

Die Jungs sahen sie mit leicht verdrehten Augen an, ohne zu antworten. Der Vater war sofort zur Stelle, denn er wusste, dass seine Frau nicht so leicht aus der Fassung zu bringen war. Wenn sie ihn derart rief, musste schon etwas Schlimmeres geschehen sein. Gleich nach ihm folgten Jens` Eltern.

Als der Vater jedoch die beiden sah, lachte er laut hinaus, was die anderen zunächst nicht verstanden. „Die sind betrunken“, erkannte der Vater amüsiert gleich die Situation.

„Wir haben Kirschsaft getrunken“, beantwortete Heiko lallend endlich mit kindlicher Unschuld die Frage der Mutter mit Verzögerung und grinste die Erwachsenen dabei breit und etwas unnatürlich an.

Obwohl der Zustand der Jungs in einer gewissen Art sehr ernst war, mussten die Eltern doch lachen. Der Vater hatte beim ersten Blick die Kirschlikörflasche neben dem Schreibtisch entdeckt. Deswegen war ihm das Befinden der Jungs vor allen anderen klar. Die Flasche hatten die beiden Lausbuben in einem unbemerkten Augenblick wohl aus dem Barfach im Wohnzimmerschrank genommen und sich in aller Ruhe darüber hergemacht. Der spezielle Saft war schließlich süß und hatte einen herrlichen Kirschgeschmack, sodass er den Jungs vorzüglich mundete.

„Na hoffentlich wird euch beiden richtig übel“, grinste Heikos Vater in der Hoffnung, dass sich dann damit der Wunsch nach Alkohol für alle Zeit erledigt hätte.

Ob es nun im Nachhinein an diesem Erlebnis lag oder einfach an der Vernunft von Heiko, konnte er nicht sagen. Jedenfalls trank Heiko in seinem Leben, mit Ausnahme seiner ersten Hochzeit, nie mehr übermäßig Alkohol. Immer wenn er mal etwas Alkoholisches zu sich nahm, hörte er mit dem Trinken auf, sobald er eine Wirkung verspürte, und stieg auf etwas Antialkoholisches um. Es kam hinzu, dass Heiko nicht gerne die Kontrolle über sich und seine Umgebung verlor. Das war ihm sehr wichtig in seinem späteren Leben. Und betäubt durch Alkohol erfolgte der Verlust der Kontrolle natürlich zweifellos.

Auch an den sinnlosen Trinkspielen, die halbstarke Jungs gerne abhielten, beteiligte Heiko sich nie. Er suchte dafür auch keine Ausrede, sondern sagte offen, wenn sich die Situation dahin entwickelte, dass er da nicht mit machen würde. Diese klare Ansage wurde besser akzeptiert als eine fadenscheinige Ausrede, die jeder auch gleich als solche erkannt hätte. Und Heiko widersprach man nicht. Jeder, der ihn kannte, wusste, dass das keinen Zweck hatte. Wenn Heiko dann am Ende seine Freunde in erniedrigender und schändlicher Lage sehen musste, wie sie sich übergaben und völlig hilflos am Boden lagen, wurde er in seiner Entscheidung immer bestätigt. Diese Bilder gaben ihm die Kraft, auch weiterhin so zu handeln und sich nicht auf einen Gruppenzwang einzulassen.

Diese Vorfälle waren so die einschneidensten Erinnerungen aus Heikos Grundschulalter. Um allerdings eingeschult werden zu können, musste Heiko vorher noch einen Eignungstest absolvieren. Denn sein sechster Geburtstag fiel genau auf den Stichtag, der für die Einschulung maßgeblich war. Die Schulleitung war der Meinung, dass seine Eltern mit diesem Schritt lieber noch ein Jahr warten sollten oder aber Heiko einen Test machen sollte.

Seine Eltern glaubten, dass es gut sei, wenn Heiko so früh wie möglich zur Schule ging und wollten es versuchen. Zudem stärkte sie die Überzeugung, dass ihr Sohn intelligent ist und der Test für ihn bestimmt keine Schwierigkeit darstellen würde. Also beantragten sie diese Prüfung für ihren Sohn, die er dann auch ohne Probleme hervorragend hinter sich brachte. So wurde Heiko dann auch mit 6 Jahren eingeschult.

Der frühe Schulstart ging aber am Ende dann doch fast noch schief, weil Heiko scheinbar zu verspielt war. Zumindest erweckte er wegen seines Verhaltens für die Lehrerin diesen Eindruck. Seine Eltern wurden nach wenigen Wochen von Heikos Klassenlehrerin in die Schule bestellt, wo sie ihnen mitteilte, dass er kaum ruhig auf seinem Stuhl sitzen konnte. Er begann zum Beispiel einmal mitten in der Stunde mit der Lehrerin verstecken zu spielen, kletterte während des Unterrichts unter seinen Tisch, lief quer durch das Klassenzimmer spazieren oder schaute aus dem Fenster hinaus. Dass dies den Unterricht natürlich störte, war unbestritten. Wenn Heiko sich in dieser Beziehung nicht ändern würde, müsste er doch wieder die Schule verlassen und ein Jahr warten, drohte die Lehrerin. Bei seinen Leistungen allerdings gab es nichts auszusetzen. Er kam sehr gut mit dem Lehrstoff zurecht und war sogar meist vor seinen Mitschülern mit den Aufgaben fertig. Das gab ihm ja auch die übrige Zeit zum Spielen.

Genau das war der Punkt, der seine Eltern aufhorchen ließ. Wenn er seine Aufgaben beherrschte und schneller als seine Klassenkammeraden die Arbeiten erledigte, noch dazu mit guten Benotungen, fiel ihm die Schule offenbar leicht. Heiko belasteten die gestellten Aufgaben anscheinend nicht sehr und er erledigte sie spielend. Er war einfach nicht ausgelastet, folgerten seine Eltern daraus.

Sie setzten sich nach dem Gespräch und mit dieser Erkenntnis mit Heiko zusammen und erklärten ihm die Situation so, dass er als Kind diese auch begriff. Dabei vermieden sie solche Begriffe, wie „du musst lernen“. Stattdessen versuchten sie es über den Ansporn, für seinen Berufswunsch zum Ziel zu kommen und sein Verständnis zu wecken.

„Du willst doch Paläontologe werden?“

Er bejahte das mit großen Augen und heftigem Kopfnicken.

„Dann solltest du in der Schule aufpassen, fleißig sein und still auf deinem Platz sitzen bleiben. Denn wenn du keine guten Noten bekommst, kannst du kein Saurierforscher werden! Das musst du dir überlegen.“

„Aber ich kann doch alles“, kam noch ein schwacher, etwas hilfloser Einwand.

„Ja, das wissen wir, aber wenn du die anderen störst, musst du wieder von der Schule. Und es werden noch Sachen kommen, die du noch nicht weißt, dann ist es gut, wenn du aufpassen und zuhören kannst.“

„O.K., ich mache das schon“, beendete der kleine Kerl das Gespräch, als wäre er schon Profi.

Dieser Vorsatz galt dann auch tatsächlich für die gesamte Grundschulzeit. Heiko benahm sich ab sofort brav, bekam gute Noten und war kein Störenfried mehr. Natürlich wurde das in der Pubertät später etwas anders. Aber auch in diesem Zeitraum entwickelten sich Heikos Leistungen noch besser als beim großen Durchschnitt.

Weil Heiko die Grundschulzeit mit guten Noten beendete, durfte er ohne vorherigen Test direkt auf die Realschule wechseln. Die Chance ein Gymnasium zu besuchen, stand ihm auch offen, aber das wollte Heiko dann gar nicht mehr. Sein kindlicher Berufswunsch des Paläontologen war inzwischen ein wenig verblasst.

Im entsprechenden Alter begann Heiko sich wie alle Jungs auch für die Mädchen zu interessieren. Er entdeckte ihre Reize und wollte gerne eine Freundin haben. Doch er fand einfach nicht den Dreh heraus, wie das zu schaffen gewesen wäre. Heiko träumte immer nur davon, stand vielleicht auch einige Male ganz kurz vor seinem Ziel, aber versagte dann wegen seiner Schüchternheit.

Heiko war in so manche Schönheit aus seiner Klasse oder einer der Parallelklassen unsterblich verliebt gewesen. Wenn er wegen schwindender Hoffnung kapitulierte, versah Heiko sich übergangslos in die nächste. Er schwärmte nie für mehrere Mädchen gleichzeitig, aber der Wechsel zu einem neuen Schwarm fiel ihm nicht schwer.

Mit wenigen schaffte es Heiko tatsächlich sogar, sich nach der Schule zu verabreden, indem er bei einer Unterhaltung eben eine dementsprechende Bemerkung fallen ließ. Die direkte Frage nach einem Date brachte er nicht über die Lippen. Das funktionierte wenige Male. Aber auch nur deswegen, weil er die Mädchen aus seiner Schule kannte und sie keine Fremde waren, die er zur Kontaktaufnahme hätte ansprechen müssen. Auf diesem Gebiet war Heiko verklemmt und seine Psyche boykottierte die Erfüllung seiner Wunschträume permanent.

Mit der Auserwählten traf Heiko sich dann zum Spazieren gehen oder Eis essen. Aber er ging bei diesen seltenen Gelegenheiten von sich aus keinen Schritt weiter. Noch nicht einmal in den Arm versuchte er dabei eines der Mädchen zu nehmen. Und das jeweilige Mädchen ergriff ebenfalls nicht die Initiative, um ihm den Weg zu erleichtern. Dabei achtete Heiko sehr angestrengt, die Chance darauf nicht zu verpassen. Heiko hatte zu großen Respekt und Angst, durch eine ungeschickte Handlung etwas falsch und damit alles kaputt zu machen. Also wartete er auf eine günstige Gelegenheit, oder dass das Mädchen den zweiten, entscheidenden Schritt tat. Was allerdings nie eintrat und damit sein Zögern nie endete. So verstrich seine Schulzeit eben auf diesem Gebiet ungenutzt und Heiko blieben immer nur seine heißen Träume bei den Tagfantasien und seine Musik, in denen er stets erlebte, wie schön es wäre, wenn er eine Freundin sein eigen nennen könnte.

Dabei half ihm wesentlich die Musik. Jede Minute, die er zu Hause war, lief sein damaliger Radiorekorder. Immer, wenn ein langsamer, vor Sehnsucht strotzender Song gespielt wurde, wurde seine Fantasie besonders angeregt, und Heiko stellte sich vor, wie er mutig zu seiner derzeit Angebeteten ging, um sie einfach zu fragen, ob sie mit ihm gehen wolle. In den Tagträumen, in denen Heiko sich das bis ins kleinste Detail ausmalte, funktionierte das wunderbar einfach. Heiko nahm es sich dann für die nächste, passende Situation auch fest vor. Doch die Gelegenheiten konnten ihm niemals günstig genug sein. Heiko schob diesen entscheidenden Schritt immer wieder weit vor sich her. Mit gedanklichen Rechenschaften, warum dieser Anlauf in dem Moment doch nicht passen würde, bei denen er sich selbst belog, rückte das Ziel immer wieder in weite Ferne.

Dann verkroch Heiko sich wieder daheim, traurig, dass er weiterhin erfolglos auf diesem Gebiet war und schaltete die Musik an, damit er besser träumen konnte. Die Musik lief dann bis zum nächsten Morgen hindurch bis Heiko wieder aufstehen und zur Schule musste.

Während seiner Schulzeit war es auch nicht so, dass Heiko wegen seiner zurückgezogenen Art keine Freunde gehabt hätte. Im Gegenteil, er war recht beliebt und konnte viele Freunde sein eigen nennen. Er spielte mit Klassenkammeraden Fußball auf dem Bolzplatz, sie streiften im Wald durch die Büsche oder kletterten auf Bäume nach Tarzanart, oder sie trafen sich gemeinsam zum Karten spielen. Dann war in dem entsprechenden Jugendzimmer natürlich auch immer die Musik recht laut. Heiko konnte man also absolut nicht als den typischen Stubenhocker bezeichnen, der ausschließlich als Einzelgänger abseits der übrigen Schulkinder alleine zu Hause hockte.

Dennoch war er aber am liebsten zu Hause allein mit seinen Problemen, Gedanken und seiner Musik. Natürlich besaß Heiko dieselben sexuellen Wünsche und Träume wie alle anderen Jungs. Er war sexuell nicht verklemmt oder gar abartig. Auch er tat im stillen Kämmerlein das, was alle Jungs, oder junge Männer taten. Alles völlig normal, ohne dabei kranke Fantasien zu entwickeln.

Das aufregendste Erlebnis in der weiterführenden Schule, das für seinen chaotischen Charakter sprach, war für Heiko ein Aprilscherz, der auf seine Initiative hin zu Stande kam. Er besuchte die achte oder neunte Schulklasse, als er seine freche Idee umsetzte. Es war an einem wunderschönen Frühlingstag, am 1.April.

Zu Beginn der letzten beiden Schulstunden kam Heiko die Idee, den Klassenlehrer zu fragen, ob sie nicht wegen des schönen Wetters frei haben könnten. Ihr Klassenlehrer war streng, aber auch für Scherze, noch dazu intelligente, gerne zu haben. Er mochte keinen stumpfsinnigen Blödsinn. Das war Heiko ganz klar bewusst, als ihm sein Einfall kam. Er wagte also sein Vorhaben, das bereits komplett geplant in seinem Kopf entstanden und gereift war, umzusetzen. Heiko schätzte seinen Lehrer richtig ein. Sowohl was seine Reaktionen auf die gestellte Frage, wie auch den Ausgang des Spaßes betraf.

Der Lehrer lachte amüsiert und fragte zurück: „Wie kommst du denn nun darauf?“

„Na, es ist so tolles Wetter! Es ist Frühling und wir sind deswegen alle nicht mehr so konzentriert, um zwei Stunden Deutsch durchzuhalten. Unsere Gehirne können schon nichts mehr aufnehmen. Da könnten wir doch frei bekommen!“

„Das kann ich nicht entscheiden, fragt doch einfach den Schuldirektor“, lachte der Lehrer diplomatisch.

„O.K.“ erwiderte Heiko kurzerhand, übernahm das Ruder und forderte den Klassensprecher und dessen Vertreter auf, mit ihm zu kommen. Die beiden ließen sich nicht lange bitten und folgten Heiko sofort lachend, ohne genau zu wissen, was dahinter steckte. Die Grundidee fanden sie schon mal toll und, weil ja Heiko voran ging, schlossen sie sich ihm an. Den tieferen Grund der Aktion konnten sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht erkennen. Den kannte nur Heiko und er zog seinen Plan durch. Aber seine Mitschüler kannten Heiko und wussten daher, dass alles, was er anfing, einen tieferen Sinn hatte, den man nicht unbedingt sofort durchschaute.

Zu dritt überfielen sie ihren Direktor mit ihrer ungewöhnlichen Forderung in seinem Büro. Heiko natürlich auch hier vorneweg und als Wortführer, denn seine Kameraden waren nicht ganz so mutig und frech wie er. Dennoch gingen sie mit ihm und blieben an seiner Seite. Zuerst war der Schulleiter etwas erstaunt ob der Frage. Nach kurzem Überlegen, wobei er wahrscheinlich erst einmal versuchte, eine sinnvolle Verbindung zwischen Frühling und Schulfrei herzustellen, kam die klare Antwort. „Nein, wie kommt ihr denn darauf? Ihr habt noch zwei Stunden Unterricht und nur weil die Sonne scheint und ihr keine Lust mehr habt, kann ich euch doch nicht frei geben.“ Und mit einem Lachen über diese schon dreiste Frage fügte der Direktor an: „Los, ab zurück in euer Klassenzimmer.“

Im Chor riefen sie noch ein gezogenes „schade“, und machten sich auf den Rückweg zu ihrem Klassenlehrer. Nur Heiko überraschte die Antwort nicht. Die war auch eigentlich für sein Vorhaben egal. Seine Mitstreiter hatten vielleicht wirklich die Hoffnung, dass Heiko das Einverständnis des Rektors für ein vorgezogenes Unterrichtsende herbeiführen könnte und waren deswegen tatsächlich enttäuscht.

Als sie außerhalb der Hörweite des Rektors waren, klärte Heiko seine zwei Klassenkammeraden über den Hintergrund seiner Aktion auf. „He, wir haben den ersten April! Wir gehen nun hoch zum Reizinger und sagen, der Direks hat es uns erlaubt.“

„Bist du irre“, war die erste, erschrockene und ängstliche Reaktion der beiden.

„Nö“, antwortete Heiko selbstsicher. „Das ist ein Aprilscherz. Das ist doch ein guter Gag. Habt ihr Angst?“

Sie drucksten beide etwas herum, aber Heiko konnte sie davon überzeugen, dass nicht viel passieren würde und dass sie das kleine Risiko eingehen könnten. Im schlimmsten Fall mussten sie halt diese zwei Stunden nachholen. Damit waren die Beiden dann endgültig überredet und schlossen sich Heiko und dessen Plan an.

Heiko war in diesem Alter schon geschickt im Umgang mit Worten und besaß eine starke Überzeugungskraft. Mit dem Argument, dass sie höchstens diese beiden Fehlstunden nachholen mussten, ihnen diese aber zumindest dann für heute, an diesem herrlichen Tag erspart blieben, stimmten der Klassensprecher und sein Vertreter der Durchführung des Aprilscherzes zu.

„Wir dürfen gehen hat Herr Dr. Alporwitz gesagt“, stürmten sie übermütig in ihr Klassenzimmer zurück, wo ihre Klassenkameraden schon über den gestellten Aufgaben brüteten.

„Was“, fragte der Lehrer erst noch etwas skeptisch.

„Ja, wir dürfen die letzten zwei Stunden ausfallen lassen“, bestätigten sie einstimmig. „Dr. Alporwitz hat es genehmigt. Er mag uns wohl. Sie sollten aber gleich zu ihm kommen, lässt er ausrichten“, fügte Heiko clever an.

„Na gut, dann haut ab“, gab ihr Klassenlehrer ihnen offiziell frei. Alle packten schnellstens unter freudigem Gejohle ihre Taschen, um schleunigst aus der Schule zu kommen.

Heiko hatte aber noch eine Steigerung seines Aprilscherzes in der Rückhand. Ihr eigenes Klassenzimmer war im obersten Stockwerk des Schulgebäudes. Das hieß, um die Schule zu verlassen, mussten sie alle durch das ganze Schulhaus nach unten laufen. Schnell sagte er einigen seiner Mitschüler, sie sollten an allen Zimmertüren klopfen und den Lehrern sagen, es wäre in den letzten beiden Stunden Lehrerkonferenz und sie sollten sich umgehend im Lehrerzimmer einfinden.

Heiko selbst lief sogleich vorbildlich los und vollbrachte dieses Werk auf ihrem Stockwerk, in den vier verbleibenden Klassenzimmern. Seine Mitschüler sahen, dass er das selbst auch tat und bei ihrer überschwänglichen Freude über den Ausfall der letzten Stunden überlegten sie nicht lange und taten es ihm dadurch angespornt gleich. Wie eine wilde Horde rannten sie durch das Schulgebäude, klopften an jede Tür und richteten den Lehrern nach Heikos Vorbild aus, dass Lehrerkonferenz sei.

Als Heiko dann auf der Straße vor der Schule ankam, drehte er sich um und sah sich die Schar jubelnder Schulkinder an, die aus den Eingängen strömten. Der Gag war in vollem Umfang gelungen! Heiko genoss seinen kleinen Triumph sichtlich.

Am Morgen danach wurde Heiko dann doch etwas unsicher, ob sein Aprilscherz nicht etwas zu weit gegangen war. Er hatte schon ein flaues Gefühl im Magen, als er das Klassenzimmer betrat. Vielleicht verstanden die Lehrer und der Direktor doch keinen Spaß, wenn es um die Schulstunden ging. Heiko stellte sich vorsorglich jedenfalls schon einmal darauf ein, dass ihm anständig der Kopf gewaschen werden würde.

Es geschah jedoch gegen alle Befürchtungen gar nichts. Kein einziges Wort wurde über den Streich vom Vortag verloren. Ihr Klassenlehrer, bei dem sie gleich die ersten Stunden hatten, begann den Unterricht völlig normal, als wenn nichts gewesen wäre. Und auch von keiner anderen Seite hörten sie irgendeinen Kommentar zu dem Vorfall. Ebenso in keiner der Parallelklassen erwähnte einer der Lehrer den Streich.

Vergessen konnten die Lehrer das nicht haben. Wer der Urheber davon gewesen war, hätten sie sicherlich auch leicht feststellen können. Ihr eigener Klassenlehrer kannte schließlich den Beginn des Aprilscherzes und wusste somit, dass Heiko die Sache ins Rollen brachte. So schied auch aus, dass keiner gewusst hätte, wen sie dafür verantwortlich halten sollten.

Wahrscheinlicher war, dass die Lehrer diese Verarsche nicht unnötig hochspielen wollten, weil sie doch allesamt darauf hereingefallen waren. Indem sie alle so taten, als habe tatsächlich eine Konferenz statt gefunden, nahmen sie den Schülern auch einen Teil ihres Triumphes. Die Lehrer hatten sich als Folge des Gags gemeinsam im Lehrerzimmer versammelt und bekamen dadurch dann die Gelegenheit, den Fall direkt zu besprechen und dementsprechend wohl zu einem Ergebnis. Aber die zwei Stunden hatten sie zumindest gewonnen. Denn durch das verschweigen des Streichs konnten sie auch nicht von den Schülern verlangen, dass sie diese versäumte Unterrichtszeit nachholen mussten.

Anfangs dachte Heiko noch daran, dass sie gleich an diesem Tag dazu verdonnert wurden, die beiden versäumten Unterrichtsstunden nachzuholen. Denn gerade an jenem Tag hätten sie zwei Stunden früher Schulschluss gehabt. Sie durften aber doch pünktlich, so wie es der Stundenplan vorgab, nach Hause gehen.

Einen weiteren Tag später stand auf ihrem Stundenplan das Fach Gemeinschaftskunde. Zum Ende des Unterrichts erteilte Herr Reizinger seinen Schülern eine praktische Hausaufgabe. In Zweiergruppen sollten sie sich ein öffentliches Gebäude oder ein Geschäft aussuchen und eine Studie über die Leute erstellen, die dort ein- und ausgingen. Die Schüler sollten keine Umfrage machen, das betonte er ausdrücklich. Es handelte sich nur um eine Beobachtung und deren Auswertung.

Ihr Lehrer gab ihnen eine Tabelle vor, in der sie ganz genau Uhrzeit, Anzahl und Geschlecht der Leute festhalten sollten. Zur Bestimmung des Alters gab es vier Gruppen in die sie die Besucher einteilen sollten. Die Vorgaben dafür erarbeiteten sie gemeinsam und einigten sich auf Kind, jung, mittleres Alter und Rentner.

Die Beobachtungszeit sollte sich über zwei Stunden erstrecken, in der die Schüler jede Bewegung genauestens mit Uhrzeit festhalten sollten. „Diese Tabelle dient als Grundlage für unsere nächsten Unterrichtsstunden. Das heißt: Wer glaubt, er könnte sich die Arbeit schenken, wird sie unbedingt nachholen, denn diese Tabelle ist unverzichtbar. Und wer von euch glaubt, er könne irgendwas in die Tabelle eintragen, Hauptsache er hat etwas auf der Hand, wird erleben, dass das ganz schnell auffällt, wenn wir damit arbeiten. Außerdem lasse ich mir für diejenigen noch eine empfindliche Strafe einfallen, die bis zur nächsten Gemeinschaftskundestunde diese Aufgabe nicht erbracht haben. Weil dadurch der Unterricht verzögert wird“, gab ihnen Herr Reizinger noch drohend mit auf den Weg. Und sie kannten ihren Lehrer. Wenn der von einer empfindlichen Strafe sprach, gab es da nichts zu lachen.

Eine Woche später sammelte Herr Reizinger zunächst einmal alle ausgefüllten Tabellen ein. Seine Drohung hatte gefruchtet. Alle Schüler hatten die Aufgabe erledigt und sich auch durchweg große Mühe damit gemacht. Der Lehrer war außerordentlich zufrieden und gut gelaunt, fiel Heiko auf, und das kam ihm seltsam vor. Es lag nicht daran, dass sie alle so brav die gestellte Aufgabe erledigten, wie sich gleich darauf herausstellte.

„Nun zu euren Tabellen“, nahm der Lehrer das Thema auf. „Hierzulande gibt es verschiedene Traditionen, wie ihr alle wisst. Und manches Mal im Leben ist so manche Mühe umsonst. Oft verbindet man das eine nicht mit dem anderen oder erkennt nicht sofort einen Zusammenhang“, sprach er in Rätseln.

Danach ließ Herr Reizinger seine Worte durch eine kleine Pause wirken, bevor er mit breitem Grinsen fort fuhr: „So zum Beispiel die Tradition jemanden in den 1. April zu schicken.“ Beim Schlagwort 1. April ahnte Heiko, dass nun die Abrechung für den Aprilscherz folgen würde.

Ohne weitere Erläuterung warf Herr Reizinger den Stapel Blätter mit den mühevoll erstellten Tabellen demonstrativ in den Papierkorb und freute sich über seine gelungene Revanche. Aus den Reihen der Schüler kam in diesem Moment ein Aufschrei, als sie verstanden, was er mit ihnen angestellt hatte. Die Proteste waren selbstverständlich alle auch im Spaß, denn sie zeigten sich ebenso als gute Verlierer, wie es die Lehrer auch taten. Den Rest der Stunde nutzte Herr Reizinger als Anlass um mit ihnen über die Entstehung des Brauchtums, jemanden in den 1.April zu schicken, zu sprechen. So lernten die Schüler auf interessante und unvergessliche Weise wieder einmal mehr etwas dazu. Die Umstände sorgten dafür, dass keiner von ihnen jemals die Entstehung des Brauches vergessen würde.

Sie erfuhren, dass es diesen Brauch seit Anfang des 17. Jahrhunderts gab und dass dieser auch in Frankreich, Holland und England üblich ist. Der Scherz lag ursprünglich darin, jemanden etwas besorgen zu lassen, was es gar nicht gab, oder was man gar nicht brauchte. Daraus leiteten die Wissenschaftler ab, dass der Brauch aus Frankreich zu uns kam, weil Karl der IX im Jahre 1564 den Neujahrstag vom 1. April auf den 1. Januar verlegte. Wer diese Umstellung damals verpasste, traf seine Vorbereitungen zum Neujahrsfest eben umsonst. Das waren dann wiederum Daten, die Heiko bis an sein Lebensende wusste und sich daran erinnern konnte.

Ein weiterer Streich von Heiko, für den ihm seine Mitschüler dankbar sein mussten, wurde dagegen nie entdeckt. Es handelte sich um einen spontanen Einfall aus einer Notlage heraus. Die Situation kam dadurch zustande, dass Heiko mit einigen seiner Mitschüler kurz bevor die Religionsstunde begann, feststellten, dass sie vergessen hatten, den Text eines Kirchenliedes auswendig zu lernen, was ihre Hausaufgabe war.

Ihr damaliger Religionslehrer, ein Pfarrer, gab ihnen sehr oft das auswendig Lernen eines Liedes bis zur folgenden Stunde auf, was er dann zu Kontrolle abhörte. Sie sprachen anschließend über den Sinn des Textes und zum Schluss sangen sie das Lied noch gemeinsam. Es ergab sich so also meist ein identischer Ablauf der Religionsstunde.

Wenige Minuten vor dem Eintreffen des Pfarrers der fraglichen Stunde stellte die Mehrheit der Klasse fest, dass sie wieder einmal nicht den Text gelernt hatten. Kirchentexte zu pauken galt unter ihnen auch nicht als cool und so rebellierten sie durch nicht lernen dagegen an, jedoch mit schlechten Gewissen, wenn es darauf ankam. Heiko sah sofort auf die Uhr, um die noch verbleibende Zeit, bis der Herr Pfarrer kommen würde, festzustellen. Bis zum Klingeln waren es noch genau drei Minuten und mit der üblichen Verspätung des Kirchenmannes von cirka zwei Minuten blieben ihm also noch fünf. Das musste reichen!

Heiko schlug im Kirchengesangbuch die Seite auf, wo das entsprechende Lied zu finden war, und machte sich sofort daran, es an die Tafel zu schreiben. Er klappte sie dazu komplett auf, um genügend Platz für alle Strophen zur Verfügung zu haben. Die Schrift musste groß genug sein, um sie später von seinem Platz aus gut lesen zu können.

Seine Klassenkammeraden kapierten die Aktion im ersten Augenblick nicht gleich. Einige fragten sogar ganz unbedarft: „Was treibst du denn da?“

„Abwarten“, kam nur eine kurze Antwort, denn Heiko wollte sich nicht groß ablenken lassen, um rechtzeitig fertig zu werden. Und wer von seinen Kameraden nicht von selbst erkannte, was er da vorbereitete, dem konnte Heiko sowieso nicht helfen.

Der Platz an der Tafel und die Zeit, die Heiko zur Verfügung hatte, reichten wie ausgerechnet. Er war gerade an seinem Stuhl angekommen und kontrollierte, wie gut er das Geschriebene von dort aus erkennen konnte, da betrat der Pfarrer mit seinem wehenden Talar das Klassenzimmer. Trotz der Eile war die Schrift leserlich und auch die Größe der Worte genügte, um alles gut ablesen zu können.

Nach seiner üblichen Begrüßung, „Guten Morgen ihr lieben Kinder“, stieg der Herr Pfarrer gleich in den Unterricht ein. Er blickte gewöhnlich immer zur Klasse und suchte die Blicke seiner Schüler. Als Einstieg erinnerte er an das Lied, das sie hätten auswendig lernen sollen, und forderte dann ausgerechnet Heiko auf, den Text auswendig aufzusagen. Wahrscheinlich fiel seine Aufmerksamkeit und somit seine Wahl auf ihn, weil Heiko ihn besonders breit anlachte.

Mit dem überdimensionalen Spickzettel im Rücken des Pfarrers bereitete diese Aufgabe natürlich keine Probleme. Dazu kam auch noch, dass Heiko durch das Anschreiben des Liedes an die Tafel den größten Teil des Textes dann auch einigermaßen im Kopf hatte. Er brauchte das angefertigte Plakat im Hintergrund des ahnungslosen Pfarrers nur ab und zu als Unterstützung.

Um den Vortrag jedoch glaubwürdiger zu gestalten, stockte Heiko gelegentlich kurz. Da er zuerst an der Reihe war, fungierte er damit als Vorbild und die Klassenkammeraden, die nach ihm folgten, taten das ebenso, um den Schwindel nicht auffliegen zu lassen.

Bis auf Konrad, der sich wild meldete, um unbedingt dran genommen zu werden, um die Strophen dann zügig und fehlerfrei aufzusagen, als ob er vorbildlich gepaukt hätte. Das war wieder typisch für ihn! Gerade der, der normal der Faulste war und alles als letzter kapierte, stellte sich bei dieser Gelegenheit als der Superschüler dar. Zum Glück bemerkte der Gottesdiener, der von Ehrlichkeit und Tugend aus ging, den Widerspruch nicht und er wurde nicht misstrauisch.

Die Idee war einfach aber genial. So mancher Mitschüler musste sich das Lachen verkneifen, wie reibungslos es funktionierte. Heiko, und jeder weitere Schüler, der noch mit dem Aufsagen an die Reihe kam, sahen den Geistlichen dabei scheinbar an. In Wirklichkeit ging der Blick aber an ihm vorbei zur Tafel, wo der Text gut leserlich prangte.

Die Gefahr, dass der Geistliche etwas merken könnte, war sehr gering. Heiko wäre nicht eine Unterrichtsstunde bewusst, in der er die Tafel angesehen, geschweige denn benutzt hätte. Sein Blick war ausschließlich auf seine Schäfchen gerichtet. Der einzige heikle Moment kam zum Ende der Stunde, als der Pfarrer sich umdrehte um zu gehen.

Nachdem sechs bis acht Schüler gezeigt hatten, dass sie den Text beherrschen, lobte der Geistliche die Schüler, weil sie die Aufgabe so brav erledigt hatten. Normaler weise stotterten die meisten mehr, als dass sie den Text hätten vortragen können. „Ihr ward aber dieses Mal fleißige Kindlein“, würdigte er die Leistung der Klasse.

Ein Ausspruch den man sich mitten im Teenageralter nicht so gerne anhören will. Man fühlte sich ja immerhin schon erwachsen. Aber angesichts der Tatsache, den Gottesmann derart hinter das Licht geführt zu haben, überwog die gute Stimmung über verletzten Stolz der unpassenden Bezeichnung ihrer Persönlichkeiten.

Auch die kritische Phase, als der Herr Pfarrer den Unterricht beendete, sich verabschiedete, umdrehte und ging, verlief gut. Nach seinem üblichen Gruß, „Gott beschütze euch“, eilte er zur Tür und verließ das Klassenzimmer, ohne auch nur ansatzweise in Richtung der Tafel zu sehen.

Obwohl das Unterfangen so toll ablief, war und blieb es das einzige Mal, dass die Klasse diese Methode anwandte. Heiko wusste eigentlich nicht, warum das so war. Er vermutete, dass, wenn er solche Sachen nicht in die Hand nahm, es einfach kein anderer wagte.

Mit seinem Klassenlehrer erlaubte sich Heiko bei passender Gelegenheit aber auch einmal einen kleinen Scherz, der von den Mitschülern allerdings unbemerkt blieb. Heiko forderte einen kleinen Wettstreit zwischen sich und seinem Lehrer heraus. Dieser spielte sich einzig zwischen ihm und Herrn Reizinger ab, wobei Heiko seine scheinbare Überlegenheit demonstrieren wollte. Als in einer Deutschstunde der Lehrer einst überraschend ein Diktat ankündigte, fragte Heiko keck und hinterlistig „Ist das nicht diese Sache, bei der sie diktieren, was wir schreiben sollen?“

Der Lehrer lächelt milde: „Heiko, so doof bist du doch gar nicht! Oder sollte ich mich getäuscht haben? Genau das werden wir jetzt tun“, wiegelte Herr Reizinger vorsorglich ab.

Dann wandte er sich an die gesamte Klasse und spielte das Spiel mit, ohne es zu kennen: „Noch einmal langsam für alle die vielleicht in der 7. noch nicht wissen, was ein Diktat ist: Ich diktiere euch den Text und ihr schreibt den auf. Idealer Weise fehlerfrei! Deswegen auch Diktat! Und ich werde jetzt mit dir“, sprach er Heiko direkt an, „keine Diskussion darüber führen, um die Aufgabe zu verzögern“, vermutete der Lehrer den Angriff aus der falschen Richtung.

„Also haben wir jetzt eine Diktatur!“

„Ein schönes Wortspiel. Und was eine Diktatur wirklich ist werden wir ein anders Mal besprechen. Es geht los, holt eure Hefte raus.“ Der Lehrer brach das kleine Wortgefecht damit strikt ab und begann gegen den allgemeinen Willen mit dem Diktieren des Textes.

Also tat Heiko genau das, was ihm der Lehrer direkt davor auftrug. Er schrieb alles genau so, wie der Lehrer es sagte. Mit sämtlichen Zwischenbemerkungen und den Wiederholungen einzelner, schwieriger Wörter. Auch die Ermahnungen während des Diktates gegenüber einzelner Schüler schrieb Heiko frech in seinen Text mit hinein. So bestand sein Text am Ende aus unzähligen Wiederholungen verschiedener Worte und Stellen wie: Reiner, bleib auf deiner Seite, Dieter das ist das letzte Mal und so weiter.

Als Quittung dafür handelte Heiko sich eine glatte Note 6 ein, die allerdings nicht gewertet wurde. Das erfuhr Heiko aber vorerst nicht und befürchtete bis dahin, sich seinen Notenschnitt damit gründlich verdorben zu haben. Der Lehrer lachte sicherlich heimlich über Heikos Clou, worauf er voll reinfiel. Die 6 unter dem Diktat sollte nur eine Warnung und ein Tadel sein und Heiko ein wenig Angst einjagen.

Von seiner Mutter musste sich Heiko wieder einmal eine Standpauke anhören, dass es nicht lohnenswert war und schon keinen Sinn machte, sich mit dem Lehrer anzulegen. Da helfen ihm seine ganze Intelligenz und sein Humor nicht, gab sie Heiko zu bedenken. Eine bestehende Autorität konnte auch nicht durch Intelligenz außer Kraft gesetzt werden. So etwas würde immer bestraft werden, wie an der Note unter dem Text leicht zu erkennen war.

Heikos kurzes Siegesgefühl und die Genugtuung den Lehrer ausgetrickst zu haben, verflog ganz schnell und er dachte sich selbst: `Warum habe ich diesen Blödsinn nur gemacht?´ Diesen Fehler sah er betroffen ein und es war eine Lehre für sein weiteres Leben, die er ebenfalls nie vergaß. Solchen, aus Übermut produzierten Unsinn, lernte Heiko durch diese Erfahrung in den Griff zu bekommen und begann einen derartigen in seinem weiteren Lebensverlauf nie wieder.

Vom Mauerblümchen zum Loverboy

Подняться наверх