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Advent, Advent, ein Lichtlein brennt

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Der gestrige Samstag war ein wunderschöner Tag gewesen. Wir hatten die Wohnung geschmückt, den Weihnachtsbaum aufgestellt – einen aus Plastik, weil der mehrere Wochen stehen konnte, ohne Dreck zu machen – und die Plätzchen verziert. Nebenbei hatten wir Weihnachtsmusik gelauscht und am Nachmittag Märchen angeschaut. Heute würde es ganz bestimmt ein ebenso schöner Tag werden. Wir wollten auf den Weihnachtsmarkt gehen. Schließlich war der erste Advent. Auch wenn es sehr voll sein würde, wollte ich Frederick diesen Wunsch erfüllen.

Meine Stimmung fiel allerdings auf Kellerniveau, als es gegen halb 11 an der Tür klingelte. Mit Frederick im Schlepptau öffnete ich – und erstarrte. Roger, der Butler meiner Eltern, stand davor. Früher einmal hatte ich ihn geliebt. Jetzt … sagen wir so: In den letzten Jahren hatte er seinen Humor und seine Herzlichkeit gegen den sprichwörtlichen Stock im Arsch eingetauscht. „Guten Tag, Fräulein Delilah-Katarina.“ Ich hasste meinen Namen. Inbrünstig. „Hallo Roger. Was wollen Sie?“ Ich machte erst gar keinen Hehl daraus, dass er nicht willkommen war. „Eine Einladung Ihrer Eltern. Sie bestehen darauf, dass Sie sich diesen Tag für die Familie freihalten.“ Familie? Ein Witz. Die einzige Familie, die mir am Herzen lag, stand neben mir. „Der junge Master Frederick ist selbstredend ebenfalls eingeladen.“ Roger hielt mir einen Briefumschlag aus sehr schwerem, edlem Papier entgegen. Mit zusammen gebissenen Zähnen nahm ich ihn entgegen. „Noch was?“

„Ich wünsche Ihnen und dem jungen Master einen schönen Tag.“ Schön wäre er geblieben, wenn er nicht aufgetaucht wäre. „Gleichfalls.“, sagte ich und schloss die Tür. Den Brief hielt ich wie etwas Hochexplosives zwischen zwei Fingern. „Eine Party, Mama?“ So ähnlich. „Sieht so aus.“

„Au ja!“ Eifrig klatschte er in die Hände. „Mach auf, Mama.“ Ich wollte Fredericks Enthusiasmus nicht bremsen. Ich befürchtete jedoch, dass dies unweigerlich passieren würde. Manchmal war ich mir sicher, dass er für sein Alter in Hinsicht auf meine Eltern zu viel mitbekam. Dass er den Hass spürte und ihm lieber aus dem Weg ging. Manchmal hingegen kam es mir so vor, als hätte er noch Hoffnung. Als würden meine Eltern plötzlich einen Sinneswandel vollziehen und ihn lieben.

Ich wünschte mir das um nichts mehr auf der Welt. Doch ich kannte meine Eltern.

Leider.

„Na gut. Schauen wir mal nach.“ Am liebsten hätte ich laut geseufzt, als ich das förmliche Schreiben las. Als wäre ich eine Fremde. Aber bitte; was hatte ich erwartet? „Und? Was ist es? Wird es lustig?“ Es würde langweilig werden. Zudem fand ich diese Veranstaltungen irrsinnig. Alles nur Schein, um das eigene Gewissen zu beruhigen. Die Kosten, die in solch eine Party gesteckt wurden, wären an anderen Stellen viel besser aufgehoben. Aber für die gehobene Gesellschaft musste es von allem nur das Beste geben. Der beste Wein, der teuerste Champagner, ein Häppchen Schnick, ein Häufchen Schnack. „Ich würde gern sagen ja, aber ich glaube nicht. Na komm. Wir wollten doch auf den Weihnachtsmarkt.“

„Jippieh! Kann ich die rote Jacke anziehen? Bitte?“

„Natürlich.“

„Und die roten Schuhe?“

„Darfst du.“ Freddy rannte laut kreischend in sein Zimmer. Den Brief hatte er längst vergessen.

Ich aber nicht. Eine Wohltätigkeitsveranstaltung! Wie sehr ich diese geheuchelte Freigiebigkeit hasste! Jeder, der Geld hatte, konnte auch ohne großes Trara spenden. Eine Überweisung oder ein Scheck taten es schließlich auch.Ach ja: Frederick war ebenfalls eingeladen. Was für ein Hohn! Der Event begann 20 Uhr. Früher war es den Herrschaften wohl nicht zuzumuten? Auf keinen Fall würde ich dort auftauchen. Mir war schon klar, warum ich anwesend sein sollte. Wegen der Publicity. Um einen auf große, glückliche Familie machen. Ohne mich. Das war so sicher, wie die gegen Abend zunehmende Dunkelheit!

Eine Stunde später schlenderten wir gemütlich über den Weihnachtsmarkt. Noch hielt sich der Besucherandrang in Grenzen. Konnte daran liegen, dass es erst Mittag war. Oder daran, dass es recht kalt und windig war. Bloß gut, dass Frederick und ich warm eingepackt waren. Es war eine Weile her, seit der Dezember wirklich kalt gewesen war. Jetzt fehlte noch ein bisschen Schnee. Wann hatte es das letzte Mal richtig geschneit? Also mit Schneeflocken, die länger als eine halbe Stunde gefallen und liegen geblieben waren? Vor sechs Jahren? Sieben? Ich erinnerte mich nicht genau. Frederick hatte bisher keine echte weiße Winterlandschaft gesehen. Geschweige denn einen Schneemann gebaut.

„Guck mal, Mama. Ich will sowas.“

„Du möchtest Zuckerwatte. Aber erst später. Du hast eben erst eine Bratwurst gegessen.“ Freddy zog eine Schnute. „Eine halbe.“ Ich nickte. „Genau, eine halbe. Weil du satt warst.“

„Für Zuckerwatte ist noch Platz. Wirklich, Mama. Die schaff ich.“ Schon möglich, dass er sie schaffte. Vermutlich würde ihm hinterher jedoch schlecht sein.

Von jetzt auf gleich war die Frage nach der Zuckerwatte beendet.

Frederick hatte ein Mädchen aus dem Kindergarten entdeckt. „Guck mal, Mama. Da ist Melli.“ Ich mochte es nicht, wenn er auf dem Weihnachtsmarkt meine Hand los ließ. Aber es war kein allzu großer Trubel. So schnell ihn seine kleinen Beine trugen, raste er zu einem süßen, kleinen Mädchen und begrüßte sie mit einer vorsichtigen Umarmung. Die Kleine schien sich sehr zu freuen, ihn zu sehen. Notgedrungen musste ich mich fügen und folgte Frederick, der bereits in eine kichernde Unterhaltung mit der kleinen Mausgefallen war. Ich grüßte den Vater des Mädchens mit einem Kopfnicken. Bisher war er mir im Kindergarten nie aufgefallen. Vermutlich, weil seine Frau die Kleine abholte. Denn ehrlich? Dieses Bild von einem Mann hätte ich nie und nimmer übersehen können. Groß, nahezu riesig. Schlank, aber genügend muskulös. Kurze dunkle Haare. Und wow! Eine irische Wiese konnte unmöglich grüner sein als seine Augen. Er musste eine sehr, sehr glückliche Ehefrau haben, die gern mit ihm angab.

War er mit seiner Tochter allein hier?

Kriselte es in seiner Ehe?

Au man! Wo kamen nur diese hinterhältigen Gedanken her? Sicher war seine Frau nur mal eben für große Mädchen. „Unsere Kids scheinen sich gut zu verstehen.“, sagte er in diesem Moment mit einer tiefen Stimme, die bis in meine Fußsohlen prickelte. „Sieht ganz so aus, ja.“

„Papa? Wir wollen Karussell fahren. Jetzt.“ Der Mann ging vor dem Mädchen in die Hocke und richtete ihre Mütze. „Wie heißt das Zauberwort, Melina?“

„Bitte.“ Er nickte. „Karussell fahren also?“

„Ja. Bitte. Mit Frederick.“ Er richtete, immer noch in der Hocke, seinen Blick an mich. Seine grünen Augen durchfuhren mich ebenso wirkungsvoll wie seine Stimme. „Haben Sie was dagegen?“ Ich? Überhaupt nicht. „Nein.“

„Gut. Dann auf zum Karussell.“ Lachend rannten die zwei Knirpse vornweg, während wir ihnen schweigend folgten. Gern hätte ich ein Gespräch angefangen. Aber ich wusste nicht wie.

Freilich könnte ich ein wenig mit ihm flirten, wenn – ja wenn! Wenn ich diesbezüglich nicht vollkommen eingerostet wäre. Zudem war es nur eine Frage der Zeit, bis seine Frau wieder auftauchte.

„Findet Ihre Frau uns denn, wenn wir woanders hingehen?“ Er blieb kurz stehen und sah mich dabei an, als würde er abwägen, was er als nächstes sagen könnte, ohne mich zu vergraulen. „Wenn ich Ihnen sage, dass ich alleinerziehend bin, würden Sie dann wegrennen?“ Alleinerziehend? Also Single? Echt? Wow! „Nein. Sollte ich?“Er lächelte. Ein umwerfendes Lächeln, was schon wieder einige meiner Körperteile zum Prickeln brachte. Dieser Mann war gefährlich für mein nicht vorhandenes Liebesleben. Ich könnte auf gänzlich dumme Ideen kommen. „Und ihr Mann? Findet der uns?“ Amüsiert grinste ich ihn an. „Wenn ich Ihnen sage, dass ich alleinerziehend bin, rennen Sie dann weg?“ Er schmunzelte. Eine Antwort blieb er mir allerdings schuldig, da die Kinder unsere vollkommene Aufmerksamkeit forderten.

Die nächsten zwei Stunden waren schön.

Wunderschön.

Es fühlte sich ganz natürlich an mit ihm, Frederick und Melina über den Weihnachtsmarkt zu schlendern. Zu naschen, zu scherzen und die hübschen Dinge zu bewundern, die es zu kaufen gab. Wir hielten uns an Kinderpunsch; alle vier. Er trank vermutlich aus demselben Grund wie ich keinen Alkohol. Wenn ich mit Freddy unterwegs war, trank ich nie. „Jetzt sind wir schon eine ganze Weile unterwegs und ich weiß noch nicht einmal Ihren Namen. Ich bin Jason Hark.“ Er reichte mir die Hand, die ich ergriff. „Freut mich sehr, Jason Hark. Ich bin Delilah Königsbrüggen.“ Ich hatte einen Doppelnamen. Aber der machte es nicht besser. Ich hasste meinen Namen. Inbrünstig!„Königsbrüggen? WieFranz Königsbrüggen?“ Ich nickte vorsichtig. Jason richtete sich etwas gerader auf und entzog mir die Hand. Plötzlich fühlte sich seine Ausstrahlung spürbar kälter an. „Nun, es hat mich gefreut Sie kennenzulernen, Delilah. Ich werde mich jetzt verabschieden. Ich denke, wir waren lange genug unterwegs.“ Er rief seine Tochter, die mit zusammengekniffenen Lippen und verschränkten Armen auf die Worte ihres Vaters reagierte. Ich hätte mich ihr am liebsten angeschlossen. „Sag Tschüss zu Frederick, Melina. Wir gehen.“

„Aber Papa…“

„Melina!“ Schmollend verabschiedete sie sich von mir und Frederick. Ich musste Jason hoch anrechnen, dass er sich ebenfalls von Freddy verabschiedete. Sogar weitaus freundlicher als von mir. Tja, das war hin und wieder das Los meines Familiennamens. Aber wenn er so oberflächlich war, mich nach meinem Namen zu beurteilen und nicht nach der Person, die er in den letzten Stunden kennengelernt hatte, konnte ich mir die Energie und die Luft sparen, die eine Erklärung benötigt hätte.

Homo sapiens movere ~ geschenkt

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