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Oh Heiland, reiß die Himmel auf

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Wie schnell der erste Advent doch vorbei gewesen war.

An Jason hatte ich keinen weiteren Gedanken verschwendet. Ich hatte alles bezüglich seiner Person verdrängt, bis Frederick mit kindlicher Begeisterung von ihm geschwärmt hatte. Obwohl es mir unweigerlich das Herz eingeschnürt hatte, hatte ich gelächelt.

„Wollen Sie kein Mittag machen, Delilah?“ Bingham Senior sah mich fragend an. Jetzt hatte ich also trotzdem an Jason gedacht und deswegen beinah meine Mittagspause vergessen. Schön blöd. „Doch. Ich möchte nur die eine Abrechnung fertig machen.“ Er schmunzelte, als wisse er genau, was mich aufgehalten beziehungsweise abgelenkt hatte. Gut möglich, dass er es tatsächlich wusste. Er war schließlich ein Vampir.

„Eine Frage, Delilah. Wissen Sie von der Wohltätigkeitsveranstaltung Ihrer Eltern?“ Ich seufzte. Noch so eine Sache, an die ich nicht denken wollte. „Ich nehme das als Ja. Sind Sie eingeladen?“ Tief ausatmend bejahte ich. „Sie auch?“

„Leider ja. Und mir fällt nichts Gescheites ein, womit ich mich davor drücken könnte.“

„Spuken Sie doch einmal kurz durch die Köpfe meiner Eltern. Vielleicht können Sie denen sogar ein Gewissen und sowas wie Gefühle einhauchen.“

„Sie überschätzten mich – was Letzteres betrifft. Es wäre nicht von Dauer, wenn es keinen Ansatz gibt. Und, nehmen Sie es mir nicht übel, Ihre Eltern scheinen weit davon entfernt zu sein, irgendwelche lieblichen Gefühle zu besitzen. Da ist selbst ein Stein emotionaler.“

„Sie haben Recht, Steward. Dann täuschen Sie einen Anfall von Blutrausch vor. Oder Blutarmut. Oder einen Mix aus beidem.“ Bingham Senior unterdrückte ein Lächeln.

Oh Gott!

Hatte ich das laut ausgesprochen? Am liebsten wäre ich rückwärts aus dem Fenster gehüpft. Parterre… Ich wäre in einer Hecke gelandet und hätte mir dabei vermutlich ein Auge ausgestochen. Mehr wäre nicht passiert.

„Wenn mir gar nichts einfällt, würden Sie mich begleiten?“ Ich zuckte getroffen zusammen. „Eigentlich habe ich die perfekte Ausrede! Mein Sohn ist vier. Abends gehe ich mit ihm nirgendwo mehr hin.“

„Es gibt Babysitter, Delilah.“

„Das weiß ich. Ich lasse Frederick aber nicht mit fremden Personen allein.“ Klar hatte ich vertrauenswürdige Babysitter, aber das musste ich niemandem auf die Nase binden.

So, wie Steward vor mir stand, sah er aus wie Anfang 30. Selbst neben seinem Sohn war kein großer Altersunterschied zu erkennen. Ich wusste, dass er weit über 200 oder sogar 300 war. Trotzdem hatte dieses Grinsen etwas an sich, das ich mich wie eine sehr sexy Frau fühlte. „Gehen Sie nie aus, Delilah?“ Jetzt wurde es persönlich. Na gut.

Ich konnte das auch.

„Sehe ich für Sie aus, als hätte ich in letzter Zeit ein Date gehabt? Oder gar Sex?“ Er lachte leise. Ein klingendes, vibrierendes, stimulierendes Lachen, das mit durch Haut und Knochen ging. Dann beugte er sich nah zu mir. „Das war eine rein rhetorische Frage, Delilah. Ich würde wissen, wenn dem so wäre.“ Willkommen, Schnappatmung! „Ich frage besser nicht, warum Sie das wüssten.“ Er trat einen Schritt zurück. „Weil Sie die Antwort kennen.“

Nachdem mein Chef das Büro verlassen hatte, machte ich die angefangene Abrechnung fertig und ging dann zum Mittag. Während des Essens schweiften meine Gedanken zu der Unterhaltung mit Steward. Ich wusste, dass er in mir keine mögliche Geliebte sah. Mehr eine Tochter. Soweit es mir bekannt war, war Steward Bingham Witwer. Schon seit Jahrzehnten. Oder gar länger. Bisher hatte ich ihn nie in Begleitung einer Frau gesehen, obwohl es mit Sicherheit Anwärterinnen für den Posten als seine Ehefrau gab. Steward musste seine Frau sehr geliebt haben. Wie war sie gestorben? Klar war ich neugierig. Aber solch eine Frage war pietätlos. Ich würde sie niemals stellen.

Nach dem Mittag vergingen die Stunden bis zum Feierabend recht schnell. Im Anschluss fuhr ich in den Kindergarten und holte Frederick ab. Der war völlig aufgelöst, wollte mir aber partout nicht erzählen, was vorgefallen war. Vielleicht sprach er sich seine Trauer von der Seele, wenn wir noch ein wenig auf den Spielplatz gingen?

Daheim angekommen, entledigte ich mich der Pumps und der Büroklamotten und schlüpfte in Jeans und Sneaker. Frederick stand derweil immer noch wie ein kleines Trauerklößchen im Flur. „Möchtest du auf den Spielplatz?“ Beinah teilnahmslos zuckte er mit den Achseln. „Weiß nicht.“

„Hast du keine Lust?“ Frederick sah auf seine Schuhspitzen. „Weiß nicht.“ Oh, ein ganz schwerer Anfall von Traurigkeit. Was war nur los? „Hast du dich im Kindergarten mit jemandem gestritten?“ Sein Schluchzen begann fast lautlos. Ich nahm ihn fest in die Arme. Während ich ihn wiegte und ihm langsam über den Rücken strich, weinte Frederick, wie schon sehr lange nicht mehr.

Jemand hatte sein kleines Herz gebrochen.

Melina?

Ich hoffte, dass ich mit meiner Befürchtung falsch lag. „Können w-wir … trotzdem auf den Sp-spielplatz gehen?“, fragte er nach einer Weile; immer noch hicksend. „Klar können wir. Wer soll uns denn aufhalten?“

„W-weiß nicht.“

Wenig später auf dem Spielplatz hörte ich meine Befürchtungen von Frederick bestätigt. Allerdings bezweifelte ich, dass Melinas Worte ihrem eigenen Wortschatz oder Gedankengut entsprungen waren. Mit etwas Glück hatte sie es bis morgen vergessen und erinnerte sich daran, wie gern sie Freddy hatte.

Als wir den Spielplatz wieder verließen, war es schon dunkel. Kein Kunststück im Dezember. Die Wolken, die sich tagsüber hartnäckig gehalten hatten, hatten sich allesamt verzogen und ließen den Blick auf einen Himmel zu, der über und über mit Sternen geschmückt war. Weiße, blinkende, glitzernde Tupfen, die der Dunkelheit die Schwermut nahmen.

Bevor ich Freddy sehr viel später eine Gute Nacht wünschte, versicherte ich ihm, dass er und Melina sich schon bald wieder vertragen würden. Ich erinnerte ihn an seinen Streit mit einem anderen Freund.

-

Zu meinem Leidwesen musste ich innerhalb der verstreichenden Woche feststellen, dass Frederick nicht glücklich war. Er freute sich morgens nicht darauf, in den Kindergarten zu gehen. Seine Augen strahlten nicht, wenn ich ihn abholte. „Ist Melina immer noch böse auf dich?“, hatte ich ihn am Mittwoch gefragt. „Melli redet gar nicht mehr mit mir.“, war seine unglückliche Antwort gewesen. Am liebsten hätte ich Melinas Vater sofort zur Rede gestellt. Doch morgens war sie noch nicht da und wenn ich Freddy abholte, war Melina schon wieder abgeholt.

Soviel dazu, diesem Trottel von einem Vater die Meinung zu geigen.

Was brachte er seiner Tochter eigentlich bei? Wie sie andere wegen einer voreingenommen Einstellung hasste? Wie sie intolerant wurde? Nun, heute war Freitag. Wäre Freddy heute Nachmittag immer noch am Boden zerstört, würde ich mit seiner Betreuerin sprechen. So konnte es auf keinen Fall weitergehen.

Aber vorher mussten noch einige Abrechnungen fertig werden. Meine Sorgen beiseite wischend, konzentrierte ich mich auf die Arbeit. Fehler konnte ich mir nicht leisten. Denn eine falsche Buchung und schon wäre die gesamte Abrechnung falsch.

Homo sapiens movere ~ geschenkt

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