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Ende September 2115

Super, das war einfach gewesen. Klar, ich war auch gut vorbereitet. Und hatte mehr zu bieten als eine sehr durchschnittliche Figur. Oder einen knackigen Hintern; plus umwerfend grüne Augen. Meine langen, lockigen, braunen Haare waren Vergangenheit. Geopfert für eine trendige Kurzhaarfrisur. Eine Haarsträhne von mir an einem meiner Arbeitsorte finden? Das Risiko war mir zu groß. Ich schloss die Augen. Atmete tief durch. Leise, aber dennoch zügig lief ich durch den Vorgarten des gepflegten Anwesens. Die Kameras konnten mich nicht entdecken.

Nie!

Eine meiner Spezialitäten.

Lautlos zu sein war für mich ebenfalls eine Leichtigkeit. Kein Geräusch von Stoff war zu vernehmen. Dafür sorgten die eng anliegenden, schwarzen Klamotten. Leichtfüßig nahm ich Anlauf und sprang in einem Satz über den drei Meter hohen Zaun.

Noch eine Eigentümlichkeit, die nicht alltäglich war. Aber zu mir gehörte sie ebenso wie das Atmen. Ich war eine genetische Anomalie. Eine movere. Gut – eigentlich war ich keine Anomalie. Die Fachleute nannten es Evolution. Und ich war bei weitem nicht die einzige movere. Trotzdem war ich äußerlich recht durchschnittlich. Niemand würde mich für eine Diebin halten. Oder für etwas anderes. Denn kleine Diebstahlaufträge nahm ich häufiger an als die anderen Jobs. Solche, bei denen meine Moral viel zu oft überwog und die ich deswegen so gut wie möglich vermied.

Bei überdurchschnittlicher Bezahlung konnte meine Moral jedoch hin und wieder drüber wegsehen. Zum Beispiel, um die Erinnerung aufzufrischen: Manche Leute wollten das Gesetz der Straße ignorieren. Idioten! Da half nur ein kleiner Schubs in die richtige Richtung; von Leuten wie mir.

Und einem netten, dezenten, kleinen Feuerchen…

Das hier jedoch war kein Auftrag.

Weder von der einen noch von der anderen Sorte.

Schließlich war ich selbstständig. Also musste ich hin und wieder Dinge besorgen, die gefragt waren – bevor ein Auftrag dazu vergeben wurde. Später bot ich die gestohlenen Kostbarkeiten anonym übers Internet an. Dem Meistbietenden übergab ich sie. Nachdem das Geld sicher transferiert auf einem meiner getarnten Kontos zinsträchtig auf mich wartete.

Abermals schloss ich die Augen. Konzentrierte mich auf fremde Bewegungen. Auf Geräusche. Doch ich war allein. Immer noch unentdeckt und deswegen auch relativ sicher. Relativ! Denn in das Anwesen eines Gestaltwandlers einzubrechen war gewagt. Manche würden sagen dämlich. Es wieder zu verlassen – womit ich eben beschäftigt war – ebenso. Die waren nämlich etwas schneller als ich. Außerdem hatte ich weder deren Stärke noch deren Instinkte oder Geruchsvermögen. Von einer vertrauenswürdigen Quelle hatte ich deshalb ein Parfum bekommen. Zur Sicherheit.

Hoffentlich funktionierte das auch!

Mit den Schatten verschmelzend lief ich gemächlich zu dem Parkplatz meines geliebten Motorrads – einer brachialen Italienerin mit knappen 170 PS. Eine sehr alte Lady.

Natürlich könnte ich mir eins der neuen Modelle kaufen, aber das wäre nicht dasselbe: Kein Dröhnen des Motors. Keine Vibrationen. Kein berauschendes Fahrgefühl. Außerdem mit allerhand Schnickschnack, den ich zum Fahren nicht brauchte.

Nicht auf einem Motorrad!

Ich nahm den Helm vom Sitz, stülpte ihn über den Kopf und tastete nach der Gürteltasche, in der mein momentan wertvollster Besitz lag; eine kleine Statue. Dann schwang ich mich auf meine Maschine, drückte den Startknopf, vernahm das Röhren der startenden Zündung und fuhr los. Weg von dem Ort, den ich nie wieder betreten würde.

Das war eine eiserne Regel von mir: Brich nie zweimal in das gleiche Gebäude ein. An die hielt ich mich.

Immer!

Warum mir der Gedanke, zweimal den gleichen Ort auszurauben, dermaßen zuwider war? Ganz einfach: Man fühlte sich zu sicher. Daraus resultierten Fehler. Da half es im Nachhinein nicht, sich Vorwürfe zu machen. Solche wie: Oh, das letzte Mal war dort noch kein Alarm. Oder: Beim letzten Mal stand hier kein Wachmann. Nein, das wäre dämlich.

Dann lieber lehnte ich einen Auftrag ab, als irgendwann im Knast zu enden. Wobei das noch die beste Art wäre geschnappt zu werden. Denn von dort wäre ich im Null-Komma-hast-du-nicht-gesehen wieder verschwunden. Verschlossene Türen konnten mich nicht aufhalten. Selbst dann nicht, wenn sie durch modernste Elektronik oder Magie gesichert waren.

Ah, schon war ich da.

Der Rückweg erschien einem immer kürzer, oder?

Das Rolltor zu meiner Garage schloss sich schnurrend hinter mir, noch bevor das Motorengeräusch verstummt war. Ich setzte den Helm ab, stieg ab, legte den Helm auf den Sitz und fuhr mir mit beiden Händen durch die Haare. Nach einem kurzen Dehnen und Strecken lief ich zur Tür, tippte den Code auf dem Tastenfeld ein und trat aus der Garage direkt in mein Arbeitszimmer. Hinter mir schloss sich die Tür mit einem zischenden Geräusch.

Erst jetzt zog ich meine dünnen, ledernen Handschuhe aus, schmiss sie auf den Tisch, schnallte die Gürteltasche ab und legte diese in den direkt neben der kleinen Couch in die Wand eingelassenen Safe. Jetzt brauchte ich noch eine Dusche. Nach dieser war ich jedoch definitiv reif für mein Bett. Während ich ins Bad tapste, schaute ich an die Uhr.

Man war ich gut! Ich hatte nicht mal zwei Stunden gebraucht.

Schnell schlüpfte ich aus meinen Klamotten; warf sie in die Waschmaschine. Dann hüpfte ich unter die Dusche und ließ das warme Wasser über meinen Körper prasseln. Ich seifte mich mindestens zehnmal gründlich ein, damit auch die letzte Spur des Duftstoffs von meinem Körper verschwand. Denn dass sich morgen alle Köter an meinem Bein rieben, nur weil ich nach läufiger Hundedame roch, wollte ich unbedingt vermeiden. Ich selbst konnte den Duft nicht wahrnehmen. Für die Gestaltwandler – die ich heute besucht hatte – war er sehr irritierend. Hatte mir meine Quelle versichert.

Mit mir selbst zufrieden, stieg ich nach einer halben Stunde aus der Dusche, rubbelte meine Haare einigermaßen trocken, schlüpfte in meinen flauschigen, lavendelfarbenen Bademantel, tapste barfuß in mein Schlafzimmer, ließ den Bademantel fallen und fiel mit dem Gesicht voran in mein Bett. Schwerfällig drehte ich mich auf den Rücken. Gott, war ich müde. Mit den Beinen strampelte ich solange, bis ich die Decke zu fassen bekam. Ich zog sie mir bis ans Kinn und glitt in einen wohligen Tiefschlaf.

Ich hätte schwören können, dass ich eben erst eingeschlafen war. Jedenfalls wurde ich recht unsanft geweckt. Nur gut, dass ich – so aus dem Tiefschlaf gerissen – die Reflexe eines Teppichbodens besaß. Ansonsten wäre ich wohl katapultartig aus dem Bett gehupft und meiner Mitbewohnerin mitten ins Gesicht.

Verschlafen blinzelte ich meine Freundin Laura an, mit der ich mir seit etwa vier Jahren das Haus teilte. Dass sie tatsächlich einmal daheim war und nicht auf der Arbeit fand ich – milde ausgedrückt – seltsam.

Obwohl ich mich natürlich freute, sie zu sehen. Ein paar Stunden später hätte ich mich möglicherweise noch ein bisschen mehr gefreut. Aber sie war da. Das allein verdiente schon mindestens vier dicke, fette Kreuze in meinem Kalender.

Seitdem sie vor einem halben Jahr bei einer renommierten Versicherungsgesellschaft angefangen hatte, lebte Laura nämlich für ihren Job.

24 Stunden am Tag.

Sieben Tage die Woche. Wie ein Roboter.

Selbst wenn sie ab und an die Zeit fand, mit mir zu telefonieren. Sie wusste nicht, womit ich meine Brötchen verdiente. Sie nahm an, dass ich online Waren verkaufte, die je nach Angebot und Nachfrage im Preis tendierten. Es lag nah an der Wahrheit; und doch knapp daneben. Dieses Geheimnis war das einzige, was zwischen uns stand. Darum wusste sie auch nicht, dass ich letzte Nacht gearbeitet hatte.

„Bist du jetzt wach?“, fragte sie aufgeregt, wobei sie mir ungeduldig die Bettdecke vom Körper zerrte und mir einen Klaps auf meinen nackten Hintern gab. „Gleich nach dem Duschen ins Bett gefallen, hm? Deinen Schlaf möchte ich haben. Los, zieh dich an. Ich habe ein Attentat auf dich vor.“ Entgeistert sah ich sie an, nachdem sie mir fröhlich mitteilte, dass es bereits acht sei.

Acht Uhr morgens? Ich hatte vier Stunden geschlafen!

Morgenmuffel meats Businesswoman.

Keine gute Idee.

Aber das Wort mit A ließ mich schlagartig munter werden. Das konnte alles Mögliche bedeuten. „Ein Attentat? Du? Auf einer Scala von eins bis zehn, wie wenig wird mir das gefallen?“ Laura schaute verlegen auf den Boden. „Ähm… zwölf?“ Autsch. Und das nach vier Stunden Schlaf. Trotzdem schälte ich mich aus dem Bett. Ich zuckte leicht zusammen, als meine Füße auf den kalten Fußboden trafen.

Das erinnerte mich daran, dass ich einen neuen Teppich brauchte. Den alten hatte ich vor zwei Tagen bei einer gewagten, halsbrecherischen, ehrenhaften Aktion übel zugerichtet. Mir war nichts anderes übrig geblieben, als ihn zu entsorgen. „Wolltest du dir nicht einen neuen Teppich kaufen?“ Ich brummte zustimmend, aber Laura musste noch eins draufsetzen. „Siehst du, ich habe dir gesagt, es ist keine gute Idee mit Chris ein Wetttrinken zu veranstalten. Ich wusste, dass du dir die Seele aus dem Leib kotzen würdest.“ Ja, ja. Gewonnen hatte ich trotzdem. Außerdem hatte mein Magen nur rebelliert, weil… keine Ahnung. Betrunken war ich jedenfalls nicht gewesen. Seufzend stopfte ich meine Beine in eine Jogginghose, schlängelte mich in ein Shirt und folgte Laura in die Küche. Dass sie schon Kaffee angesetzt und den Tisch gedeckt hatte, bedeutete nicht zwangsläufig, dass sie ein häuslicher Mensch war. Eher, dass die Bedenklichkeitsskala ihres Attentats gerade auf die zwanzig schnellte.

Sie rückte mir den Stuhl zurecht und goss mir Kaffee ein.

Nicht gut.

Vielleicht wäre die zwanzig gar nicht so übel…

Laura setzte sich, fragte mich, ob sie mir ein Brötchen aufschneiden sollte und war nervöser als ein Hund, der genau wusste, dass er zum Tierarzt musste. Ich verneinte dankend, lehnte mich im Stuhl zurück und verschränkte die Arme. „Na los, spuck’s aus. Dann überleg ich mir, ob ich dich vor oder erst nach dem Frühstück erwürge.“ Natürlich würde mir das im Traum nicht einfallen. Sie wusste das. Laura holte tief Luft, hielt sie kurz an, atmete sie länger als nötig wieder aus, schaute aus dem Fenster, zwirbelte ihre langen, blonden Locken und sah mich niedergeschmettert mit ihren blauen, wunderschönen Augen an. „Ich habe ein Date.“ Aha. Darum war sie deprimiert? „Ein Blind Date.“ Sehr schön. Immer wirf der guten, alten Sam nur ein paar Brocken hin. „Sammylein?“ Ups, das war schlimmer, als ich vermutet hatte. Sie verfiel in den Bettelmodus. Wenn sie etwas wollte, wozu nur ich prädestiniert war, hätte sie mich Samantha genannt. So aber klopfte sie auf die Freundschaftssache. Das war übel.

Richtig übel!

„Was auch immer, rede endlich. Soll ich ihn vergraulen? Unter die Lupe nehmen? Auskitzeln? Hast du keine Zeit? Einen anderen?“ Laura schnappte bei der letzten Frage nach Luft, wobei sie ausgiebig ihre Fingernägel betrachtete und nickte. „Dann sag ab.“ Wo war das Problem? Und seit wann, um Gottes Willen, hatte sie denn einen Freund?

„Du hast einen Freund?“

Ich weiß, ich klang ungläubig. Nicht, weil Laura keine Schönheit war, sondern weil ich annahm, dass sie mit ihrer Arbeit liiert sei. Oder dass ich als erste davon erfuhr. Gleich nachdem sie ihn das erste Mal gesehen hatte. Wieder nickte sie, wobei sie nervös auf ihrer Unterlippe kaute. „Ok Liebes, jetzt rede doch bitte mal Klartext. Du willst etwas von mir, dann hör auf dir alles aus der Nase ziehen zu lassen.“ Ich war eigentlich ein geduldiger Mensch. Nun ja, Geduld ist relativ.

Aber verdammt! Das dauerte schon mindestens zehn Minuten. Als sie ihren Kopf senkte, fielen ihre von der Morgensonne beleuchteten Haare wie reines Gold in ihr Gesicht. Unter diesem Vorhang heraus sah sie mich verzweifelt an. „Du musst dich mit ihm treffen. Bitte, ich kann ihm nicht absagen.“ Es dauerte eine Weile, bis ich wieder genug Spucke im Mund hatte. „Warum?“ Ich würde mich nicht mit einem wildfremden Mann treffen, wenn sie keinen guten Grund hatte. Waren das etwa Tränen in ihren Augen? „Es muss ein Treffen geben, ansonsten verlangt die Agentur eine Entschädigung. Eine sehr hohe Entschädigung. So viel Geld habe ich nicht!“ Wie bitte? „Hast du etwa irgendeinen dämlichen Vertrag unterschrieben?“ Ihr Nicken war kaum zu bemerken. „Bei wem?“ Laura unterdrückte ein Schluchzen. „Bingham.“ Auch das noch! Das war katastrophal. Oberkatastrophal! Außerdem eine weitere Sache, von der ich keine Ahnung hatte. Dabei dachte ich, wir erzählten uns alles. Oder zumindest fast alles. „Warum? Es gibt doch genug Männer, die du kennen lernen kannst, ohne einen dieser Blutsauger!“ Der Blutsauger war in diesem Satz wörtlich zu nehmen. Und nein, ich meinte weder eine Mücke noch das Finanzamt.

So blöd konnte man eigentlich gar nicht sein.

Nicht Laura.

Besonders nicht Laura.

„Sam, bitte. Ich weiß selbst, dass das dämlich war. Aber ich wollte auch mal wieder jemanden haben, der für mich da ist. An den ich mich anlehnen kann. Mit dem ich kuscheln kann. Du bist meine beste Freundin, aber du bist nun mal kein Mann. Es gibt Dinge, die…“ Ich winkte ab. Wusste, was sie sagen wollte. Hey, ich war immerhin selbst seit zwei Jahren auf Entzug. Obwohl – ich liebte mein Singledasein. Meistens.

Mit der Hand wedelnd bedeutete ich, dass sie weiterreden und dabei bitte beim eigentlichen Thema bleiben sollte. „Angemeldet habe ich mich vor drei Monaten. Ich dachte schon, es käme gar kein Angebot. Irgendwie war ich darüber auch froh, denn ich habe vor fünf Wochen jemanden getroffen, mit dem es wirklich klappen könnte. Tut mir leid, dass ich dir bis jetzt nichts davon gesagt habe. Aber da war es schon zu spät, den Vertrag rückgängig zu machen.“ Ich war leicht getroffen. Sie hatte vor fünf Wochen jemanden kennen gelernt. Und ich erfuhr es erst jetzt?

Trotzdem nickte ich. Die Agenturen hatten binnen sechs Monaten ein Treffen zu vermitteln.

Dabei spielten die Auswahlkriterien eine entscheidende Rolle.

Bei Laura war ich mir ziemlich sicher, wie die aussahen: Ein Mann, der ihre Arbeit und ihr einnehmendes, wenn auch ab und an etwas kindliches Wesen akzeptierte; ohne sie für unreif zu halten. Groß. Dunkelhaarig. Intelligent. Pünktlich. Ehrlich. Treu. Mit Interesse an Kindern, aber wenn möglich nicht sofort. Einer, der ihr ihren Freiraum ließ, ihr aber dennoch hin und wieder das ein oder andere Geschenk mitbrachte oder sie überraschte. Ein Mann mit Geschmack an langen Spaziergängen, romantischen Abenden, dem kulturellen Angebot einer Großstadt. Einer mit geregeltem Einkommen. Vor allem jedoch ein Mensch. „Gut, ich treffe mich mit ihm.“ Ich würde für sie lieber eine Bank ausrauben … davon hatte ich Ahnung. Von Blind Dates – noch dazu unechten – weniger. Laura schlang erleichtert ihre Arme um mich und wisperte ein leises Dankeschön. „Meinst du nicht, dass es auffällt, wenn ich statt deiner hübschen Erscheinung auftauche? Wir sind vollkommen verschieden.“

„Möglich. Aber ihr müsst ja kein Paar werden.“, gluckste sie vergnügt. Irgendwie kam mir das eigenartig vor. Aber allein die Tatsache, dass meine bodenständige, arbeitsvernarrte Freundin einen Freund hatte – von dem ich bis eben nichts gewusst hatte – und die das erste Mal seit Wochen an einem Wochenende daheim war, schenkte ich diesem Bauchgefühl keine Beachtung.

Pah, selbst wenn: Meine Laura würde nie versuchen mich zu verkuppeln!

Kurz vor elf stand ich an dem verabredeten Treffpunkt. Als Erkennungszeichen hatte ich meine pinkfarbene Handtasche dabei. Ich wusste, dass Laura keine besaß. Doch wenn sie solch ein Erkennungszeichen ausmachte, musste sie sich zumindest erinnert haben, dass sich eine in meinem Schrank befand. Was mich vor Jahren dazu veranlasst hatte, eine solche Geschmacksverirrung zu kaufen – und sogar in Erwägung zu ziehen, damit gesehen zu werden – war für mich nicht mehr nachvollziehbar. Meine Zielperson würde als markanten Fingerzeig einen Hut tragen. Ich mochte Hüte. Besonders auf Köpfen von Männern. Handtaschen dagegen mochte ich nicht, auch wenn ich welche besaß. Ich hatte die Tendenz die Dinger liegen zu lassen. Rucksäcke und Gürteltaschen waren viel praktischer.

Besonders auf dem Motorrad.

Nur aus diesem Grund war ich heute in die Stadt gelaufen. Wollte das pinkfarbene Ungetüm nirgends liegen lassen.

Das Wetter war angenehm. Ein typischer Altweibersommer. Nicht ganz passend zu meiner Stimmung; aber besser als Regen. Zum wiederholten Mal zupfte ich meinen kurzen, dünnen Mantel zurecht und strich mir ein paar Flusen von meinen sehr nach Business aussehenden Hosen. Überraschenderweise waren sie jedoch äußerst bequem. Fast wie die Jeans, die ich normalerweise trug. Es war mir entfallen, dass ich noch derartige Hosen besaß. Laura hatte sie in meinem Schrank auf der Suche nach der perfekten Bekleidung gefunden. Die musste ich mir demzufolge vor Jahren gekauft haben, als ich noch einem echten Job als ernsthafte Sekretärin in einem Büro nachging. Das war zwar eine Weile her, aber sie passten immer noch wie angegossen. Laura hatte mich sogar dazu gedrängt, schicke Unterwäsche zu tragen. Dabei würde ich mich weiß Gott nicht vor dem Mann entblättern! Was dachte Laura bloß von mir?

Erneut schaute ich auf die Uhr. Der junge Herr bekäme von Laura jedenfalls Punkteabzug. Mir war das egal. Noch besser wäre nämlich, wenn er das Treffen vergaß. Dann wäre Laura aus dem Schneider. Und ich auch. Zumindest so lange, bis ein nächstes Treffen arrangiert würde, dass sie eventuell verschieben, aber nicht absagen könnte. Ihr Vertrag lief noch drei Monate. Ich hoffte wirklich, dass heute mein einziger Einsatz war.

Oder dass Laura keine weiteren Vorschläge bekam.

„Hallo, ich glaube, wir haben ein Date.“ Eine Stimme wie Rauch, Honig und Samt. Sowas gehörte verboten! Zumindest, wenn es sich um kein richtiges Date handelte. „Das glaube ich auch. Hallo.“, erwiderte ich und schüttelte die mir dargebotene Hand. Ich musste meinen Kopf weit in den Nacken legen, damit ich sein Gesicht sah. Der Kerl war gut und gerne zwei Meter groß. Allerdings war ich von seinem Gesicht und seinen Augen, die mich unter der Hutkrempe heraus fixierten, regelrecht erstarrt und tat nur so, als wäre ich ungerührt. Innerlich kreischte ich wie ein Groupie. Ein Mensch? Haha, dass ich nicht lachte. Jeder wusste, dass Alan Garu alles andere war als das. Shit! War das wirklich Lauras Date? Ein weltbekanntes Topmodel, stinkreicher Playboy und Gestaltwandler? Ich konnte nur hoffen, dass er meinen beschleunigten Herzschlag, den ich momentan nicht beruhigen konnte, nur als meine Freude mich mit ihm zu treffen interpretierte.

Wozu brauchte er ein Erkennungszeichen? Der Typ fiel auch ohne Hut, blinkenden Pfeil und Posaunengeschmetter auf wie ein Pfau im Hühnerstall. „Komm mit!“ Ohne auf meine Zustimmung zu warten, packte er mich am Handgelenk und zog mich neben sich her. „Wohin gehen wir?“, keuchte ich neben ihm. Natürlich war ich nicht halb so außer Atem, wie ich vorgab zu sein. Man, der lief nicht, er rannte! Vor ihm wollte ich lieber nicht davonlaufen müssen. „Da rein.“, wies er mich an und schob mich in dem Moment bereits in eine Parfümerie. Stimmte was nicht mit meinem Parfum? Mist!, schoss es mir in den Kopf. Konnte er womöglich noch den Geruch riechen, mit dem ich eingebrochen war? Ach was, bestimmt nicht. „Du riechst wie ein läufiger Köter.“, beantwortete er meinen entsetzten Gesichtsausdruck. Ich schluckte eine Bemerkung hinunter, sah aber sehr wohl seine gerunzelte Stirn. Nein, ihm eine Geschichte aufzutischen, sollte ich mir tunlichst verkneifen. Darum sagte ich gar nichts.

Hilflos sah ich mich vor den vielen Regalen mit Schächtelchen, Flakons, Fläschchen und diversen anderen Artikeln um. Ich hatte keine Ahnung, welches davon helfen könnte. „Nimm das.“ Mit einer Geste, die keinen Widerspruch duldete, drückte er mir einen Flakon in die Hand, der aussah wie ein Apfel. Anstelle des Stiels trug der jedoch eine Krone.

Das Ding war pink.

Passend zu meiner Handtasche. Wie ... niedlich.

Ich schluckte meinen Zorn hinunter, als ich den Preis sah. War das sein Ernst? „Schau mal, wir haben uns getroffen und anscheinend passt es nicht. Also können wir beide wieder getrennter Wege gehen.“ Nie im Leben würde ich so viel für so was Winziges bezahlen. Obwohl ich mir das durchaus leisten konnte. Aber das musste er nicht wissen. Mir ging es lediglich gegen den Strich, dass ich es für ein Date kaufen sollte, das kein echtes war; und für einen Mann, den ich kein zweites Mal träfe. „Falsch. Du wirst dieses Parfum tragen. Es ist ein Date, schon vergessen? Ich kann mich nicht mit dir unterhalten, wenn ich von einem Gestank abgelenkt bin, den ich nicht ausstehen kann.“ Oho, er war angepisst. Wieso zum Geier konnte er, selbst ein Gestaltwandler, diesen Duft nicht ausstehen? Sollten die dadurch nicht verwirrt werden?

Ich grinste innerlich bei der Vorstellung, dass er mit heraushängender Zunge neben mir stehen und sabbern würde. Genau das, hatte Wiesel – meine Quelle – mir versichert, taten Gestaltwandler nämlich. Zu schade, dass dieser hier nicht mal ansatzweise verwirrt oder abgelenkt schien.

Ich biss also die Zähne zusammen, ignorierte seine auf mein Kreuz gelegte Hand, die mich zur Kasse schob und reichte der ehrfürchtig strahlenden Verkäuferin meine Kreditkarte. Wäre er ein Gentleman und an mir interessiert, würde er bezahlen. „Benutz es auch!“, zischte er mir ins Ohr, nachdem ich den kleinen Beutel mit dem winzigen Fläschchen in Empfang genommen hatte. An seiner Seite schlenderte ich aus dem Laden. Verkrampfter und wütender, als mir anzumerken war. Das Wort bitte existierte in seinem Wortschatz offenbar nicht. Auf keinen Fall würde meine Laura dieses Verhalten tolerieren. Zugegeben, sie wäre schon bei seinem Anblick zurückgewichen und auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Er war nun mal kein Mensch. Es nervte mich nicht zu wissen, wie sie es überhaupt in die Agentur geschafft hatte. Arbeiteten bei Bingham Menschen? Vermutlich.

Trotz meiner sich im Kreis drehenden Gedanken machte ich gute Miene zum bösen Spiel. Ich sprühte mich sogar mit dem Parfum ein, was – für meine Sinne – überdies ausgesprochen gut roch. Mein Kopf jedoch war weiterhin schwer beschäftigt. Wie kam es, dass ein Topmodel wie er die Dienste einer Agentur in Anspruch nahm? Wenn er sich seine Zukünftige unter dem einfachen Volk suchen wollte, musste er lediglich ins nächste Kaufhaus gehen – Restaurant, Straße, wo auch immer – und einfach nur dastehen. Völlig gratis würden sich ihm hunderte willige Frauen an den Hals werfen. Ich würde ihm sogar ein Schleifchen um den Bauch binden.

Er war gutaussehend. War nicht zu leugnen.

Nicht attraktiv. Vampire waren attraktiv. Gestaltwandler, deren Art zur Gattung der Were gehörte, waren im besten Falle schön. Allerdings gepaart mit einer höllisch animalischen Anziehungskraft.

Bei Alan Garu war die außerhalb jeder beschreibbaren Reichweite. Ein wirklich schöner Mann. Auf eine raue Weise schön, was wohl ein Grund war, warum er eines der bestbezahltesten Models der Welt war. Der Traum zahlloser Frauen, der animalische Begierde und den Hauch von Gefahr erahnen ließ.

Und obendrein charismatischer als es gut für mich war. Diese Augen, meine Güte: hypnotisierender Bernstein. Kein Wunder, dass sich ihm die Frauen zu Füßen warfen. Und dieser Mund. Was er damit alles anstellen könnte. Oder ich ... - äh, nein! Andere Körperregionen waren auch interessant. Zum Beispiel seine Gesäßmuskeln. Damit konnte er doch sicher Nüsse knacken.

Sein Körper war insgesamt sehr wohl definiert, als hätte er vor Urzeiten beim Entwurf des Mannes Model gestanden. Selbst seine Klamotten konnten das nicht verbergen. Vermutlich würde er auch in Plastiktüten noch hinreißend aussehen. Allerdings wurde das Bild des perfekten Mannes durch seine Arroganz jäh zerstört.

Schon klar.

Er war das angesehene Model.

Ich nur eine durchschnittliche Stadtgöre, die seine Aufmerksamkeit überhaupt nicht verdiente.

Blödmann, dämlicher! Als ob ich seine Aufmerksamkeit wollte! Verdammt, ich hasste es, wenn Männer – oder überhaupt irgendjemand – mich herum kommandierten und außerdem der Meinung waren, sie seien der Mittelpunkt des Universums.

Die Hände in seinen Hosentaschen vergraben, lief er neben mir. Sein Tempo zügelte er kein bisschen. Laufschritt Marsch! Herr im Himmel. Das war doch das Mindeste, was der Anstand gebot.

Es sei denn, er war ebenso wenig scharf auf das Date wie ich.

Warum hatte er dann in der Parfümerie mein Angebot ausgeschlagen?

Ohne ein einziges Wort dirigierte er mich in ein Café, das etwas abseits lag, von wenigen Gästen frequentiert wurde und einige schwach beleuchtete, nicht einsehbare Nischen bot. Die Luft roch abgestanden; nach diversen Gerüchen, wobei der Kaffeeduft die anderen nur kläglich überdecken konnte. Ein sehr altmodisches Café. Eins, in dem es noch echte Kellnerinnen gab.

Aber es war sauber.

Die Wände waren sicher erst vor kurzem frisch gestrichen. Die untere Hälfte war mit frischem Holz vertäfelt, die Fenster frei von Staub und Schmutz, die Raffgardinen an den Seiten strahlend weiß. Der Boden glänzte spiegelnd, was auf gute und regelmäßige Pflege hindeutete. Das Tischtuch war frei von Flecken, die Kerze wurde von der älteren Kellnerin mit einem freundlichen Lächeln angezündet, die Chrysantheme in der Vase war frisch und die Speisekarte – woah, eine echte Speisekarte; mit Papierseiten! – aus weichem, sauberen Leder. Genau wie die Bezüge der Stühle und Eckbänke. Im Großen und Ganzen eine gemütliche Spelunke mit genügend Privatsphäre, aber schlechter Belüftung. Er bestellte zwei Kaffee, wobei er mich gar nicht erst fragte, lehnte sich dann in seinem Stuhl zurück und betrachtete mich argwöhnisch. Ich fühlte mich wie ein Insekt unter einem Mikroskop.

Tja, was er konnte, konnte ich schon lange.

Alan sah umwerfend aus – hatte ich schon erwähnt.

Selbst in den alltäglichen Klamotten konnte er sich nicht verstecken. Der Inbegriff von Mann und Sex für den Großteil der Frauen. Breite Schultern, kräftige Arme, lange Beine, flacher Bauch, knackiger Hintern – hey, ich bin auch nur eine Frau, die hin und wieder genauer hinsieht, wenn sich ein Typ halbnackt in einem Bett räkelt, um für irgendetwas zu werben. Selbst wenn ich mich nicht mehr erinnern konnte, für was. Dafür war ich zu abgelenkt gewesen.

Und dieses Gesicht: die reinste Einladung an sündige Dinge zu denken.

Er wusste das.

Sein eisiges Grinsen bestätigte mir diese Vermutung.

Trotzdem konnte ich mich kaum von seinen perfekten Lippen abwenden.

Oder den hohen Wangenknochen.

Dem starken Kiefer.

Dem kräftigen Kinn.

Und diesen Augen.

Gott! Die konnten einen schwach werden lassen. Sogar mich.

„Zufrieden?“, knurrte er, eindeutig missgelaunt. „Geht so. Und selbst?“ Ich bedankte mich für den Kaffee, den die Kellnerin vor mir abstellte. An Widerworte war dieser Mann eindeutig nicht gewohnt. Er bestellte das Tagesmenü; ohne nachzufragen. Weder bei mir, ob ich das wollte noch bei der Kellnerin, worum es sich dabei handelte. Entweder, er kam öfter hier her oder es war ihm schlichtweg egal. Meine Frage überging er. „Gaff mich nie wieder so an! Ich dachte schon, ich muss dir eine Serviette reichen.“, blaffte er zornig, ein wenig aber auch belustigt. „Gut, dann schau du mich nicht so an, als würdest du liebend gern die Einrichtung kaputt schlagen. Außerdem brauche ich keine Serviette.“ Er grinste anmaßend. „Meinst du? Ich dachte, du fängst jeden Moment an, deinen Speichel auf dem Boden zu verteilen. Das tun übrigens die meisten Frauen, wenn sie mich sehen.“ Ich lächelte schwach. Dieser Typ war sowas von überheblich. „Sei doch froh. Wenn die Frauen aufhören zu sabbern, musst du dich nämlich nach einem anderen Job umsehen.“ Ich verdrehte die Augen, ignorierte seinen undefinierbar glitzernden Blick und trank einen Schluck des wohl köstlichsten Kaffees, der mir je untergekommen war. Ein zufriedenes Seufzen konnte ich dabei nicht unterdrücken. „Der ist gut, nicht wahr?“ Ich nickte und genoss einen weiteren Schluck. „Ich bin übrigens Alan. Aber das weißt du schon. Und du bist…“ Oh, allerhand: Nicht interessiert, wütend, von dem Kaffee fasziniert und auch nicht dein richtiges Date. Dass er den letzten Teil meiner stummen Aufzählung laut aussprach, ließ mich erstarren. „Du anscheinend auch nicht. Ich bin Samantha Bricks, kurz Sam.“, erwiderte ich. Mir fiel sowieso nichts Plausibles ein, um mich herauszureden. Außerdem wusste ich, dass ich Recht hatte. Laura würde sich nie mit jemandem wie ihn einlassen. Er lachte leise, aber es klang mehr nach einem drohenden Knurren. „Fast richtig. Nur leider bin ich das richtige Date. Allerdings mit ein paar falschen Angaben. Und da kommen wir zu dem Punkt, warum dieses Treffen trotz allem stattfindet.“

Das Tagesmenü – Gulasch mit Knödeln und Rotkraut – wurde uns an den Tisch gebracht. Zusammen mit jeweils einem Glas Apfelschorle und der Bitte, es uns schmecken zu lassen. Bei dem köstlichen Duft lief mir das Wasser im Mund zusammen. Seinen Vorschlag, erst zu essen, dann zu reden, fand ich sehr überzeugend. Auch wenn dieser nach einem Befehl klang. Bei deftiger Hausmannskost konnte man sonst was von mir verlangen. Sogar einen Tabledance.

Halbnackt.

Im Hilton.

Nach einer halben Stunde war mein Teller genauso leer und sauber abgeputzt wie seiner. „Du hast aufgegessen.“, stellte er fest. Hatte ich. „Du bist eine Frau.“ Das wusste ich auch. Er erkannte es daran, dass ich aufaß? Faszinierend! Oh, mir fiel ein, dass er sonst fast ausnahmslos von magersüchtigen Frauen umgeben war. Für die stellte es schon eine Herausforderung dar, sich ein Salatblatt zwischen die Kiemen zu stecken. Ohne sich übergeben zu müssen.

„Ich esse immer auf.“, antwortete ich höchst selbstbewusst. „Das sieht man.“ Sein anmaßendes Grinsen und der übertrieben betonte Satz machten mir klar, dass er damit nicht den Teller meinte. Ich zuckte unangenehm zusammen. Ich war verdammt nochmal nicht dick! Ich hatte lediglich mehr zu bieten als Haut und Knochen. Normalsterbliche nannten das Muskeln. Die unterstrichen meinen sportlichen Typ. Wenn ihm das nicht passte, von mir aus. Lächelnd setzte ich eins obendrauf. „Ein Eisbecher wäre jetzt genau richtig.“, trällerte ich zuckersüß. „Mit viel Schlagsahne.“, fügte ich Zunge schnalzend hinzu und grinste ihn herausfordernd an. „Ist das dein Ernst?“ Ich nickte. „Sicher doch. Ich nehme an, du schaffst keinen mehr? Ach nein, du musst bestimmt auf deine Linie achten. Armer Kerl.“ Seine Augen blitzten gefährlich auf. „Das habe ich im Vergleich zu anderen Personen nicht nötig!“ Wenn er meint… „Dann also zwei Eisbecher, hm? Gut, dass wir beide es nicht nötig haben auf unsere Figur zu achten.“ Er schnaubte abwertend, was ich mit Genugtuung ignorierte. Dann wies ich ihn darauf hinwies, dass er mit mir etwas besprechen wollte.

Er begann zu erzählen.

Zwischendurch räumte die Kellnerin unsere Teller ab, erkundigte sich freundlich, ob es uns geschmeckt hätte und strahlte, als er die zwei Eisbecher bestellte. Die brachte sie uns nur kurze Zeit später an den Tisch.

„Was sagst du zu dem Vorschlag?“ Genüsslich leckte ich meinen Löffel ab und dachte angestrengt nach. Sein Vorschlag war ideal. Für Laura, und für ihn. Nicht für mich. Dafür würde mir Laura mehr als nur einen Gefallen schulden. „Komm schon.“, lockte er, „Wie viele Frauen, abgesehen von den Reichen und Schönen, können schon behaupten, mit mir zusammen gewesen zu sein?“ Selbstgefälliges Arschloch! Mir fielen schon ein paar ein. Nur eben allesamt keine Otto-Normalbürger. Würde er mich eigentlich verklagen, wenn ich ihn schlug? Ah, vermutlich. Obendrein wäre es ein gefundenes Fressen für die Presse. Abgesägter Fan prügelt Topmodel halb zu Tode! Das wäre eine wunderbare Schlagzeile. Selbst wenn der erste Teil gelogen wäre und der zweite Teil nie stattfinden würde. Ich traute mich nicht.

Er war immerhin ein Gestaltwandler; aus der Gattung der Werwesen. Gleichbedeutend mit: Vorsicht bissig. Außerdem waren die stark. Sehr viel stärker als der durchschnittliche menschliche Mann. Und ich war nur eine Frau.

Mit knirschenden Zähnen stimmte ich zu. Nicht, weil ich seinem nicht vorhandenen Charme verfallen war. Ich wollte lediglich Laura aus der Patsche helfen. War ich nicht eine gute Freundin? Gott, ich war hochgradig dämlich!

Sich drei Monate lang mit ihm zu treffen und zu tun, als wären wir ein glückliches, frisch verliebtes, turtelndes Pärchen war in etwa so erfrischend wie die Aussicht auf einen Aufenthalt in einer Nervenheilanstalt. Sofern ich ihm nicht schon vorher aus Versehen an die Gurgel ging, könnten wir beide es möglicherweise unbeschadet überstehen. Zumindest körperlich. Ob meine Nerven das jedoch aushielten, wagte ich arg zu bezweifeln.

„Gib mir deine Telefonnummer.“ Jawohl, mein Herr und Meister. Wie ihr wünscht. „Langsamer.“, meinte er barsch, nachdem er sich abmühte, erst meinen Namen in sein Handy zu tippen. „Gib her. Du bist ja langsamer als meine Oma.“, grinste ich und griff nach dem Handy. Er hielt es sofort außerhalb meiner Reichweite. „Lass das!“, zischte er angewidert, als könnte ich es durch meine bloße Anwesenheit mit bösen Bakterien und Viren terminieren. Dabei hatte er gar nicht so Unrecht. Wenn ich wollte, könnte ich es einfach lahmlegen. Ohne es zu berühren!

Aber im Normalfall zerstörte ich nichts aus Versehen.

Nicht mehr.

Ergebend hob ich meine Hände und schüttelte den Kopf. Das konnte wirklich heiter werden. Drei Monate. Also zwölf Wochen. Neunzig Tage. Wie viele Stunden waren das? Und wie viele davon musste ich ihm zur Verfügung stehen? Innerlich kochte ich, als er die Kellnerin um getrennte Rechnungen bat. Äußerlich blieb ich völlig relaxt. „Sie besteht darauf. Und ich möchte sie nicht unglücklich sehen, nur weil ich den Alpha heraushängen lasse.“, lächelte er gequält und um Verständnis haschend. Bekam er umgehend. Er hatte die Kellnerin eingewickelt. Es gab fast nichts, was ich erwidern könnte, ohne mich lächerlich zu machen. Souverän lächelte ich ihn an. „Danke dir, mein Schatz. Für mich bist du kein Alpha, das weißt du doch.“ Ein direkter Seitenhieb, den ich so zuckersüß dahin zwitscherte, dass nur er ihn verstand. Ich konnte es an seinen Augen sehen. Die Kellnerin nicht. Sie stellte uns die Rechnungen aus, die wir getrennt voneinander beglichen.

Alan half mir in den Mantel, damit es tatsächlich so aussah, als wären wir ein Paar. Aber sowie wir wieder draußen waren, bekam ich meine Retour. „Ich bin für dich kein Alpha, hm? Perfekt, denn du passt überhaupt nicht in mein Rudel.“ Das wäre auch noch schöner. „Allerdings, meine Süße…“, oh, oh, meine Nackenhaare richteten sich auf, „…die nächsten drei Monate bin ich dein Alpha. Komm mir also nicht auf dumme Ideen!“, zischte er mir ins Ohr, was alles andere als vertrauenserweckend war. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich meine Freundin derart gern habe. Vielleicht ist es besser, wenn sie den Vertragsbruch zugibt und zahlt.“, dachte ich laut, was mir eine schmerzhafte Umklammerung meines Oberarms einbrachte. „Denk nicht mal dran!“, fauchte er. „Die Zahlung an Bingham wird ein Klacks sein im Vergleich zu dem, was ich dir und deiner Freundin antun könnte.“ Das war ein einleuchtendes Argument. Denn ein stinksaurer Gestaltwandler war beinah schlimmer als ein Vampir – zu denen Bingham zählte. Nein, darauf legte ich keinen großen Wert. Ich liebte mein Leben, auch wenn es ab und zu ein wenig gefährlich war. Ich war schließlich nicht der Typ, der den Kopf wegen ein paar Schwierigkeiten in den Sand steckte. „Ich tue auch dir einen Gefallen, Mr. Großkotz!“, zischte ich ebenso zornig wie er. „Wenn du den Alpha markieren willst, bitteschön. Aber denke nicht, dass ich nach deiner Pfeife tanze. Ich lasse mich nicht bevormunden. Und bevor du nochmal behauptest, ich müsste mich glücklich schätzen, mit dir offiziell verbandelt zu sein, ich bin es nicht. Ich kann dich nicht ausstehen!“ Er nickte langsam. „Wenigstens darin sind wir uns einig. Zu keinem ein Wort, dass das ein Schwindel ist. Du willst doch nicht, dass wir in Schwierigkeiten geraten, oder? Und geh besser ans Telefon, wenn ich dich anrufe.“

„Falls ich nicht beschäftigt bin. Zur Not kann ich zurückrufen.“ Mit ein oder zwei Tagen Verspätung.„Dafür, mein Schatz, müsstest du meine Nummer kennen. Und die wirst du auf dem Display nicht sehen.“, raunte er mir genüsslich ins Ohr. Für vorbeilaufende Passanten musste es aussehen, als würde er mir eine Liebeserklärung zuflüstern. „Wenn du denkst, ich stehe dir 24 Stunden am Tag zur Verfügung, irrst du dich.“, schnurrte ich ihm ebenso vertraulich aussehend ins Ohr. „Ich habe ein Leben. Ohne dich. Stell dir das vor!“ Er lachte leise, wobei sein Brustkorb gegen meine Brust vibrierte. So nah zog er mich an sich heran. Seine Hand auf meinem Rücken hinderte mich daran, diese Nähe aufzulösen. „Nicht in den nächsten drei Monaten. Wenn du dir Sorgen um deine Arbeit machst, falls du eine hast, ich kann dich bezahlen. Aber dann gehörst du mir. Absolut und ohne Ausreden.“ Noch einen blöderen Vorschlag hatte er wohl nicht? „Vergiss es. Ganz sicher nicht.“ Seine Hand wanderte allmählich zu meinem Hintern, was mich mit den Zähnen knirschen ließ. „Hör au,f mich zu betatschen!“, knurrte ich, obwohl seine forschende Hand durchaus ein jähes Kribbeln durch meinen Körper jagte. „Glaub nicht einen Moment, dass ich das tue, weil ich es will. Da drüben an der Ecke steht ein Fotograf. Was meinst du, hinter wem er her ist, hm? Spiel mit, das kann für dich doch nicht so schwer sein.“ Ich versuchte, meinen Zorn zu unterdrücken. So, wie er sich ausdrückte, meinte er wohl, für mich war es einfacher als für ihn.

In seinen Augen war ich nur ein durchschnittlicher Niemand. Ach was, ich reichte dem Durchschnitt noch nicht mal bis zu den Knöcheln. Er senkte seinen Mund nah an meinen Hals, berührte ihn aber nicht. Da er wieder seinen Hut trug, war das für den Fotografen nicht zu erkennen. „Wo steht dein Auto?“ Es war eine drängende Frage. Er konnte es wohl kaum erwarten mich loszuwerden. Perfekt! „Ich bin zu Fuß.“ Zischend stieß er seinen Atem aus. „Dann komm mit. Mit ein wenig Glück können wir ihn abhängen.“

Tja, wenn ich zu diesem Zeitpunkt schon gewusst hätte, dass er das jederzeit tun konnte, hätte ich ihm einen ganz bestimmten Finger gezeigt. Aber ich wusste es eben noch nicht.

Er packte mein Handgelenk und zog mich hinter sich her in eine Seitengasse. Von dort durch ein Geschäft in die nächste Gasse, bis wir fast wieder bei unserem Treffpunkt angelangt waren. Doch kurz vorher bog er zu einem gläsernen Aufzug ab, der in die Tiefgarage führte. Die wenigen Oberlichter erhellten die Parkebene nur spärlich. Doch dank meiner hervorragenden Nachtsicht – über die jeder movere verfügte – war es kein Problem, ihm ohne Stolpern zu folgen. „Steig ein.“, befahl er barsch, nachdem ein kurzes Piepen des sauteuren, roten Flitzers bestätigte, dass die Türen entriegelt waren.

Wahnsinn!

Ein echter Ferrari, und ich saß drin. Das war es doch beinah wert, sich drei Monate lang mit diesem Gefühlskrüppel herumschlagen zu müssen. „Wohin?“ Ich nannte ihm meine Adresse. „Sag mir einfach, wo ich lang fahren muss.“, blaffte er und trat, sowie wir die Tiefgarage verließen, ordentlich aufs Gas.

Keine zehn Minuten später stieg ich mit einem breiten Lächeln aus. Es galt nicht ihm. Wenigstens erinnerte ich mich daran, mich von ihm zu verabschieden. Ein echter Ferrari. Ein Wahnsinnsauto! Da durfte man gern die Anwesenheit des missgelaunten Fahrers ignorieren und Grinsen wie ein Honigkuchenpferd. Noch besser war nur die Vorstellung, selbst am Steuer zu sitzen.

Dass ein Polizeiauto vor unserem Haus parkte, bemerkte ich in meiner Euphorie nicht. Prompt lief ich dem netten, jungen Polizisten in die Arme, als ich ins Haus stürmen und er dieses verlassen wollte. „Oh, Entschuldigung!“, stammelte ich. Meine Glückshormone verkrümelten sich abrupt. Habe ich eine Kamera übersehen? „Frau Bricks?“ Ich nickte langsam, jeden Moment zur Flucht bereit. „Sammy, da bist du ja.“, schluchzte Laura, die in dem Augenblick auf mich zukam und mich umarmte. „Was ist denn los?“, fragte ich ratlos, da es offensichtlich nicht um meinen nächtlichen Ausflug ging. Glück gehabt. „Bei uns ist eingebrochen worden. Als ich unter der Dusche war! Kannst du dir das vorstellen? Ich habe ein Geräusch gehört, als ich das Wasser abstellte und nur noch gesehen, wie jemand raus gerannt ist. Sammy, er hat dein Schlaf- und dein Arbeitszimmer verwüstet.“ Ach du Heimatland!

Ich versuchte, meine Gefühle unter Kontrolle zu halten, indem ich sprachlos schluckte.

„Frau Knittel hat uns sofort angerufen, aber wir haben keine Spur von ihm. So wie es aussieht, hat er wahllos Schränke und Schubladen durchwühlt und alles durcheinandergebracht. Was immer er auch gesucht hat.“ Die Stimme des Polizisten sagte mir, dass er nicht glaubte, dass bei mir etwas anderes zu holen war als das Offensichtliche. Gut so.

Das Haus schrie nicht unbedingt nach Moderne. Ein wenig wirkte es wie eins der vielen Einfamilienhäuschen vor 150 Jahren. Keine Wärmewände, keine Stimmaktivierung fürs Licht, keine sich automatisch verdunkelnden oder blickdicht werdenden Fenster. „Vielleicht hat Laura ihn nur unterbrochen?“ Der junge Uniformierte nickte. „Das denken wir auch. Wie ihre Mitbewohnerin sagte, hat sie ihn nicht genau gesehen. Aber wir hoffen, dass wir Fingerabdrücke finden oder andere verwertbare Spuren. Sehen sie einfach in Ruhe nach und geben sie uns Bescheid, wenn etwas Wertvolles fehlt.“ Er schien nicht zu glauben, dass ich etwas Derartiges besaß. Abgesehen von meinem Laptop, der immer noch intakt auf dem Schreibtisch stand. Und der gehörte zu den etwas älteren Modellen. Die kostspielige Anlage in der Wohnstube und den riesigen Flachbildschirm hatte der Täter ignoriert. Der gute Polizist schien sie noch nicht entdeckt zu haben. Ich nickte brav, zog Laura an mich und unterschrieb den Bericht, den der Mann mir hinhielt. Sowie er und seine Kollegen weg waren, schaute ich in meinen Safe.

Verflixte Verdammnis!

Ich fluchte leise, während Laura wie erschlagen im Türrahmen stand und von meinen Flüchen nichts mitbekam. Wer wusste, dass ich im Besitz der Statue gewesen war? Eine gute Frage. Und wie hatte der Dieb meinen Safe aufbekommen, ohne ihn zu beschädigen? Das musste ein Profi gewesen sein. Man, wo kamen wir denn hin, wenn sich Diebe schon untereinander bestahlen?

„Hilfst du mir?“, fragte ich zerknirscht; wütend, weil obendrein mein Zimmer völlig ramponiert war. „Klar.“ Hand in Hand räumten wir auf. Meinen Kleiderschrank allerdings konnte ich vergessen. Mir blieb nichts anderes übrig, als einen neuen zu kaufen. Bis dahin müsste ich meine Wäsche auf dem Boden stapeln. Kam ja gar nicht in Frage. „Ich fahre einkaufen.“, murmelte ich bedrückt. Dass Laura mich nicht nach dem Date fragte, verwunderte mich gar nicht. Wir waren beide geschockt, und ich war nicht in der Stimmung mit ihr über diesen selbstverliebten Kerl zu sprechen.

Homo sapiens movere ~ gebunden

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