Читать книгу Ich wünsche mir ... einen Prinzen - Rachel Hauck, Rachel Hauck - Страница 8

Kapitel eins

Оглавление

St. Simons Island, Georgia

November, Gegenwart

Wenn sie ihre Augen schloss, konnte sie so tun, als hätte sich im Rib Shack nichts verändert, seit Daddy gestorben war.

Nicht das Klirren und Klackern des Geschirrs, das Summen der Spülmaschine, das Brutzeln der Fritteuse, Bristol, die Kommandos durch die Durchreiche brüllte, und Catfish, der „Nobody Knows the Trouble I’ve Seen“ sang, während Mama, die Königin des Shacks, ihn ermahnte, aufzuhören, sonst würde er eine ganz andere Art „trouble“ zu spüren bekommen.

Catfish neigte einfach den Kopf und sang ein bisschen lauter.

Avery lachte über den Schlagabtausch und war sich dennoch der Leere sehr bewusst, die sich in ihrer Brust breitgemacht hatte, seitdem ihr Held diese Erde viel zu früh verlassen hatte.

Daddy war gerade sechzig gewesen, als sein Herz sagte, es hätte genug. Ohne ihn war nichts mehr wie vorher. Das Shack nicht, Zuhause nicht, Mama nicht und auch nicht das Leben. Für Avery waren es mehr als nur Worte, wenn sie sagte, sie vermisse ihn.

Sie vermisste ihn, wie er an der Fritteuse stand und Mama sagte, sie solle ihn in Ruhe lassen. Vermisste ihn an der Anrichte, wo er seine berühmte Grillsoße machte. Vermisste seine weisen Antworten auf ihre ängstlichen Fragen.

Schlimmer als die Tatsache, dass nichts mehr dasselbe war, war, dass alles sich verändert hatte. Selbst sie hatte sich verändert. Sie war sich ihrer selbst, ihrer Zukunft, nicht einmal mehr ihrer Gedanken sicher.

Mama hatte sich am allermeisten verändert. Das Feuer hatte ihre Seele verlassen. Tag um Tag versickerte ihr mutiges Selbstbewusstsein mehr. Sie bewegte sich langsamer, redete langsamer, kümmerte sich weniger.

„Avery?“ Mama blieb bei ihr stehen, die mehlbepuderten Hände auf den beschürzten Hüften. „Du hast noch gar nicht erzählt, wie dein Arzttermin war.“

„Gut.“ Ohne groß darüber nachzudenken, berührte Avery ihre Schulter. „Der Arzt sagt, es verheilt alles gut.“

„Aber deine Zeit als Spielerin ist vorbei?“ Mama warf einen Blick auf die neue Kellnerin. „LuEllen, stell das Geschirr einfach in die Spülmaschine. Ich lass die gleich durchlaufen. Geh du zurück in den Gastraum.“

„Ich kann die Spülmaschine beladen, Mama.“ Avery wollte um den Vorbereitungstisch herumgehen, doch Mama hielt sie sanft am Arm fest.

„Beantworte meine Frage.“

Sie erwiderte Mamas Blick, und Tränen stiegen ihr in die Augen. „Ja, meine Zeit als Spielerin ist vorbei. Jedenfalls die als aktive, professionelle Spielerin.“

„Also keine Chance, was Beachvolleyball angeht?“

Alleine dass sie Mama die Worte sagen hörte, die sie sich selbst weigerte, laut auszusprechen, brachte noch mehr Tränen hervor. Kopfschüttelnd duckte sich Avery an Mama vorbei.

Als Spielerin des Jahres der Big Ten Conference hatte ihr die Zukunft zu Füßen gelegen. Als starke Außenangreiferin mit 1,80 m Größe hatte eine Profikarriere auf sie gewartet.

Sie hatte einen Agenten gehabt. Ein Weilchen. Und das Interesse der Olympiasiegerin Ella Watson.

Aber die Rotatorenmanschette, die sie sich während ihrer Zeit als Jugendspielerin verletzt hatte, verfolgte sie noch in ihrem Abschlussjahr bei den Collegemeisterschaften. Es folgten eine Operation und die strenge Erklärung des Arztes: „Sie sind fertig.“

„Wie geht es dir damit?“ Mama hatte überhaupt keine Skrupel, sich in anderer Leute Angelegenheiten einzumischen, baute selbst aber hohe Backsteinmauern auf, wenn man es wagte, sich bei ihr nach persönlichen Dingen zu erkundigen.

„Ich weiß es nicht.“ Avery stellte sich an die Spülmaschine und begann sie zu bestücken. Dabei schluckte sie einen ganzen Klumpen Emotionen hinunter, der aber wahrscheinlich mehr mit Daddy als mit dem Ende ihrer Volleyballkarriere zu tun hatte. „Gruselig irgendwie, nehme ich an. Volleyball war dreizehn Jahre lang mein Leben. Was jetzt?“

Zwei Sommer in Folge war sie mit einer Auswahl von Collegeathleten durch Europa getourt, mit Zwischenstopps im Königreich Brighton, wo sie ihre Schwester, Ihre Königliche Hoheit Prinzessin Susanna von Brighton, verheiratet mit König Nathaniel II., besucht hatte. Das war bei ihren staunenden Teamkolleginnen ganz gut angekommen.

„Du siehst zu, dass du mit deinem Leben weitermachst, so sieht’s aus.“ Mama zog ein Geschirrtuch durch die Hände. Ein nervöser Tick, den sie sich nach Daddys Tod angewöhnt hatte. „Ich könnte dich öfter hier gebrauchen, jetzt, wo Daddy weg ist.“ Sie sagte das so nüchtern. So endgültig. Wo Daddy weg ist.

„Das Shack, Mama? Ehrlich?“ Sie würde einen jungen, tragischen Tod sterben, wenn sie für den Rest ihres Daseins an das Rib Shack gefesselt wäre.

Das Restaurant der Familie war zweifellos ihr zweites Zuhause. Sie war in den Schatten der Anrichte und der Fritteuse aufgewachsen und hatte dabei viel Freude gehabt. Ihre Kindheitserinnerungen waren ihr großer Schatz.

Aber sie hatte Träume. Wollte das Leben mit beiden Händen ergreifen. Wollte einen Unterschied machen auf der Welt. Volleyball war ihr vorgezeichneter Weg gewesen. Aber jetzt, wo diese Tür verschlossen war, fielen ihre Zukunftshoffnungen in sich zusammen.

Und dann war noch nicht mal Daddy da, um ihr den Weg zu zeigen.

Avery lächelte LuEllen an, die ein weiteres Tablett mit Geschirr für die Spülmaschine brachte, und wandte sich dann an Mama. „Sie scheint sich ganz gut zu machen.“

Mama sah über ihre Schulter. „LuEllen? Ja, sie ist eine tüchtige Mitarbeiterin. Avery, Liebes, sei vorsichtig mit den Tellern. Die sind ganz schön robust, aber trotzdem aus Ton.“

Ja, aus Ton. Wie Mama. Wie Avery.

„Ich habe über das Trainieren nachgedacht.“ Avery stellte den letzten Teller in die Maschine und knipste sie an.

Mama seufzte. „Na, gut wärst du schon. Daddy hat immer gesagt, du könntest alles tun, was du dir in den Kopf setzt. Aber ich würde dich hier doch ziemlich vermissen.“

„Ja, aber ich habe eben nie vorgehabt, mein ganzes Leben hier zu verbringen.“ Avery schaute zu Mama hinüber. Die stand am Vorbereitungstisch und machte Kekse. Auf ihren Schultern lastete ein Mantel aus Traurigkeit. Der hatte sich an dem Tag auf sie gelegt, als sie mit Avery und Susanna Daddys Asche über dem Atlantik verstreut hatte.

„Tja, nun, Liebes, das Leben hat es nun einmal so an sich, dass sich der Wind gelegentlich dreht.“

„Ich sage dir was“, sagte Avery und schob Mama beiseite. „Warum gehst du nicht nach Hause? Du bist seit dem Morgengrauen hier. Nimm den restlichen Nachmittag frei. Ruh dich aus. Ich glaube, seit Saisonbeginn hast du noch keinen einzigen freien Tag gehabt.“

„Ich würde lieber arbeiten.“ Mama rührte sich nicht. Avery verstand sie. Ihr ging es genauso. Die Arbeit lenkte sie ab, hielt sie vom Selbstmitleid ab. Hielt sie fern von einem Zuhause, dem Daddys Licht fehlte.

„Du könntest allerdings nach Hause gehen“, sagte Mama. „Schone deine Schulter. Schau mal nach, ob die neuen Jalousien fertig sind, für die ich Bill Springer bezahlt habe. Es gibt keine Ausrede für schlampige Arbeit, sage ich immer.“

Aber Avery wollte auch noch nicht nach Hause gehen. Dort war es dunkel und einsam, ein leeres Überbleibsel dessen, was es einst gewesen war – ein Heim voller Leben und Lachen, Daddys und Mamas freundlichen Kabbeleien, Susannas Kommen und Gehen. Bis sie einen König geheiratet hatte.

„Ich glaube, ich würde auch lieber arbeiten.“

Mama nahm einen langsamen, tiefen Atemzug. „Du warst mir in den letzten Monaten ein Fels in der Brandung, Aves. Hast dein Leben hintenangestellt, um mir zu helfen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich musste mich daran gewöhnen, dass Susanna weg war, erst auf dem College, dann viertausend Meilen weiter in Brigthon, als Prinzessin und alles. Dann habe ich dich aufs College geschickt, auch noch auf ein Yankeecollege zu allem Überfluss, wo du ein Volleyballstar geworden bist. Jetzt muss ich mich daran gewöhnen, dass …“ Ihre Stimme brach, ein leiser Schluchzer entwich ihren zusammengepressten Lippen.

„Ich vermisse ihn auch.“ Avery legte die Arme um Mama, die mit geballten Fäusten steif über den Vorbereitungstisch gebeugt blieb.

„Es ist nur …“ Mama schlug mit der Faust auf den Tisch. „Ich kann mich nur einfach nicht daran gewöhnen.“ Sie hob ihren Kopf und wischte sich mit dem Handrücken über die Wangen. „Aber, ach, was war dein Daddy nicht stolz auf dich.“ Mama wandte sich wieder dem Keksteig zu. „Der wäre bald aus den Bändern seiner Schürze geplatzt, wenn er von dir erzählte. Ich kann dir gar nicht sagen, wie oft ich ihn mit Boss, Duke und den Jungs in der Altherrenecke drüben gefunden habe, wo er erzählt hat, dass du wieder Spielerin der Woche warst oder Spielerin des Jahres oder was es nun gleich war …“ Ihre Stimme verlor sich. „Aber ich nehme an, das habe ich dir alles schon einmal erzählt.“

„Ich höre das gerne noch einmal.“ Avery versuchte, Mamas Gesicht zu sehen, aber die hielt eine Schulter hochgezogen, sodass man es schlecht erkennen konnte. Also schlenderte sie zur Spüle, um einen sauberen, feuchten Lappen zu holen und die Arbeitsfläche abzuwischen. Die Geschichten über Daddy füllten die Löcher in ihrem Herzen. Sie wusste ja, dass er stolz auf sie gewesen war, aber seine Gedanken hatte er doch meist für sich behalten.

Komisch irgendwie, dass das Letzte, was er ihr je gesagt hatte, etwas über die Liebe war, über Prinz Colin. Sie seufzte. Es hatte keinen Sinn, diese sehr endgültige Sackgasse entlangzugehen.

„Wir werden es gut haben, Avery, uns wird es gut gehen.“ Mamas Erklärung klang etwas wackelig. „Der gute Herr vergisst die Seinen nicht, nicht wahr?“

„Nein, das tut Er nicht.“ Das war jedenfalls Averys Überzeugung, wenn auch nicht ihre Erfahrung. Obwohl, konnte sie wirklich eine Zeit ausmachen, in der Gott sie vergessen hätte?

„Glo?“

Mama sah Catfish an, Chefkoch und Flaschenwäscher, wie sie ihn gerne nannte. Er war lang und schlank mit einem dünnen, zotteligen Schnurrbart. Wie ein Catfish eben, ein Wels.

„Telefon. Es ist Susanna.“

„Du liebe Güte, ich habe es nicht einmal klingeln gehört.“ Mama schnappte sich Averys feuchten Lappen und wischte sich die Hände ab, während sie im Büro verschwand, wo sie mit schriller Stimme überschwänglich ihre älteste Tochter begrüßte. „Susanna, was in aller Welt … Wie geht es dir?“

„Catfish“, sagte Avery, „ich komme gleich wieder. Ich mach mal fünf Minuten Pause.“

Er winkte ihr zur Antwort, den Kopf schon wieder über der Fritteuse. Draußen auf der hinteren Terrasse setzte sich Avery an einen der Picknicktische, fischte ihr Telefon aus der Hosentasche und schaute nach ihren E-Mails.

Mama hatte sie noch nichts davon gesagt, aber sie hatte sich für ein paar Trainerposten in der Nähe beworben. Valdosta State, Jacksonville State und Appalachian State.

Wenn sie schon nicht selbst spielen konnte, wollte sie andere trainieren.

Dann hatte ihr heute Morgen ein Freund eine Ausschreibung für eine Trainerstelle der Herrenmannschaft an der UCLA geschickt. Warum nicht? Männer trainierten schließlich schon seit Ewigkeiten Frauenmannschaften. Also hatte sie sich beworben. Kalifornien, hier komme ich. Der goldene Staat war weit weg von zu Hause, aber sie brauchte Veränderung, musste ihre Trauerkleidung ablegen, musste Leben und Abenteuer atmen.

Durch Palmettopalmen und Pinien hindurch starrte Avery auf den Pfad zum Strand hinunter, wo der Atlantik seine Wellen auf den Sand warf. Sie hatte hier schon eine Million Mal gesessen, aber heute fühlte sie sich wie ein Gast, eine Fremde in ihrem eigenen Leben.

Das erinnerte sie alles so sehr an die Zeit vor vier Jahren, als sie am gleichen Tisch gesessen und schmerzerfüllt versucht hatte, ihr gebrochenes Herz wieder zusammenzusetzen.

Sie hatte bereits ein Stipendium für die Ohio State angenommen, also gab es einen Weg, dem sie folgen konnte, sie hatte etwas zu tun. Aber nichts fühlte sich richtig an. Sie weinte sich in den Schlaf. Weinte sich wieder wach.

Die kühle, salzige Brise strich über die Terrasse, und Avery atmete ein, während die Erinnerungen mit den dazugehörigen Gefühlen an die Oberfläche stiegen.

Sie war genau hier gewesen, nur wenige Wochen vor ihrem 18. Geburtstag, ihrem Abschlussball und dem Schulabschluss überhaupt. Nur wenige Monate hatten sie von der Universität getrennt. Wenn sie denn überhaupt hingehen würde.

Denn im vorherigen Winter und Frühling hatte sie sich verliebt. Nein, nicht verliebt, sie hatte die Liebe gefunden. Tiefe, das Herz raubende Liebe. Träume, die sie vorher nie geträumt hatte, waren plötzlich wahr geworden.

Aber an jenem Abend … Avery zitterte und rieb sich den Arm. An jenem Abend war ihr eine frische Brise über die Wange gestrichen, während sie wartend an einer großen Cola light genippt hatte. Auf seinen Anruf wartend. Den Anruf dessen, der ihr Herz mit nur einem Blick erobert hatte.

Als das Telefon in ihrer Hand endlich gesummt hatte, war es kein Anruf, sondern eine Textnachricht gewesen.

Colin: Ich kann nicht kommen.

Avery: Warum? Ist alles in Ordnung?

Colin: Ich kann einfach nicht. Verpflichtungen und so.

Avery: Ich komme zu dir. Ich muss nicht zum Abschlussball. Ich wäre lieber mit dir zusammen.

Colin: Nein. Geh du mal. Du gehörst dahin. Ich bin mit Lernen und Prüfungen beschäftigt und bereite mich auf den Militärdienst vor.

„Aves“, die Fliegengittertür klapperte im Hintergrund zu Mamas Stimme. „Pack deine Taschen. Wir fliegen über Weihnachten nach Brighton.“ Mama setzte sich auf den Picknicktisch neben Avery und strich sich das wilde, krause Haar aus dem Gesicht.

„Was?“ Avery steckte überrascht ihr Handy weg. Der fröhliche Ton in Mamas Stimme gefiel ihr. „Das Rib Shack über die Feiertage sich selbst überlassen?“

Mama verließ das Restaurant nie, am wenigsten in der Weihnachtszeit. Na gut, ein einziges Mal. Als Susanna vom College zu Hause gewesen war und Daddy sie mit Tickets nach Vermont überrascht hatte. Mama hatte noch nie im Leben Schnee gesehen. Also hatte Daddy Susanna und Avery die Verantwortung übergeben und Mama ins romantische Stow verschleppt, wo sie eine unfassbar gute Zeit verbracht hatten.

„Deine Schwester ist wieder schwanger.“ Mama klopfte ihr aufs Knie.

„Wirklich?“ Susanna versuchte jetzt seit drei Jahren, einen Erben für den Thron von Brighton hervorzubringen. Avery konnte sich den Druck gar nicht vorstellen.

„Beinahe dreizehn Wochen. Sie ist sehr hoffnungsvoll. Glaubt, dass sie dieses nicht verlieren wird.“ Susanna hatte in drei Jahren fünf Babys verloren und ihnen allen damit jedes Mal das Herz gebrochen. „Würde dein Daddy diese Nachricht nicht bis in den Himmel rufen?“ Mama schlug ihr noch einmal aufs Knie. „Also, was meinst du? Ab ins Königreich Brighton zu Weihnachten?“ Sie sagte alles in einem Atemzug. Als müsste sie es sagen, bevor sie es sich anders überlegte.

„Dir ist schon klar, dass Susanna das Baby nicht nächsten Monat bekommen wird, oder?“

„Jetzt komm du mir nicht so naseweis, Avery Mae. Das ist die erste gute Nachricht seit einem halben Jahr. Also, warum nicht über Weihnachten nach Brighton fahren? Es fuchst mich, dass Daddy immer hinwollte und ich mich geweigert habe, weil das Shack uns über die Feiertage brauchte.“ Mama hob ihr linkes Bein und zog die Hose hoch. Ihre Beinschmerzen waren eine Folge der langen Zeit, die sie auf ihnen verbracht hatte. Jahrzehnte. „Seit dreißig Jahren schufte ich in diesem Schuppen vor mich hin, und wie werde ich belohnt? Mit Krampfadern und schlimmen Füßen.“

„Du hast wirklich vor, zu fahren? Willst Catfish und Bristol das Ruder überlassen, während du und ich nach Brighton rüberfliegen?“ Avery hatte ihre Zweifel. „Das glaube ich dir nicht.“

Mama schlug die Hände zusammen und hüpfte vom Picknicktisch. „Glaube mir, mein Kind, wir fliegen nach Brighton. Ich werde Weihnachten in einem Palast verbringen und für das Baby im Bauch meiner Tochter beten. Stell dir nur vor, mein Enkelkind ist ein Prinz oder eine Prinzessin. Das ist schon was, oder? Außerdem ist mir der Gedanke gekommen, dass wir von allen Weihnachtsfesten vor allem dieses als Familie gemeinsam verbringen sollten. Gib hätte es so gewollt.“

Avery stand auf und machte sich auf den Weg zurück in die Küche. „Du wirst dir die ganze Zeit über wegen des Shacks Sorgen machen.“

„Nein, da hab ich mich schon dagegen entschieden. Ich werde mir keine Sorgen machen.“ Mama folgte Avery durch die Küchentür, räumte nebenbei beim Gehen auf, stellte ein benutztes Backblech in die Spülmaschine, alles eine automatische Bewegung, weil das Shack so sehr Teil ihrer Natur war. „Wir werden nach Thanksgiving fahren, weil meine sture Schwester darauf besteht, dass die ganze Familie zum Abendessen hierherkommt. Aber wir werden gerade rechtzeitig zu dem Budenzauber in Cathedral City ankommen, den sie dort jeden Herbst haben.“ Mama schnippte mit den Fingern und drehte sich zu Avery. „Wie nennen die das noch mal?“

„Das Erntefest.“

„Das war’s. Wird das nicht spaßig? Das Ende der Erntezeit und der Beginn der Weihnachtszeit. Tschüss, Landwirtschaft und hallo, Jesu Geburt.“

Avery grinste. Keiner konnte uralte europäische Traditionen so auf Felder bestellen und Gebären herunterbrechen wie eine Frau aus Georgia.

Mama legte ihr den Arm um die Schultern. „Was sagst du, Kleine? Du und ich, ab nach Brighton. Dir wird ein Tapetenwechsel auch ganz guttun, würde ich sagen. Komm aus der Deckung, Aves. Schau dir an, wie der Rest der Welt so lebt. Mal eine neue Perspektive auf alles bekommen.“

Avery betrachtete ihre Mutter. Sie würde es ihr nicht abschlagen, nicht nach dem Jahr, das hinter ihr lag. Außerdem liebte sie die Weihnachtszeit in Brighton. Es war ungefähr der bezauberndste Ort der Welt – uralte Tradition, eine historische Architektur, die sich mit sterilen modernen Bauten mischte, schneebedeckte Hügel, über denen sich in mondlosen Nächten Sternenlicht und Meeresleuchten zu einem ätherischen Glanz um die grüne Nordseeinsel vereinten, die man als das Königreich Brighton kannte.

Aber da war immer noch die Angelegenheit mit ihm. Prinz Colin. Sie wollte nicht, dass das überhaupt noch eine Angelegenheit war, nicht nach viereinhalb Jahren, aber dem Ziehen in ihrem Herzen nach zu schließen, das sich jedes Mal einstellte, wenn nur jemand Brighton erwähnte, war es ganz eindeutig eine Angelegenheit.

Vor drei Jahren war Avery an Weihnachten in Brighton gewesen, aber Colin war mit der Marine auf See gewesen, also waren sie sich nicht begegnet.

„Na ja, ich gehe besser zurück an meine Kekse.“ Mama ging mit einer gewissen Leichtigkeit in ihrem Gang zurück zum Vorbereitungstisch und hielt dann inne. „Schau mich nur mal an.“ Sie hielt ihr die Hand hin. „Ich zittere. Ich bin noch nie ohne deinen Daddy verreist.“ Die Kommandeurin der USS Rib Shack zeigte Schwäche. Eine, die sie hinter der Liebe zu ihrem Ehemann versteckte, mit dem sie 34 Jahre lang verheiratet gewesen war.

Avery hatte schon immer vermutet, dass Glo Truitt es hasste, alleine zu sein.

„Ich werde bei dir sein, Mama“, sagte sie. „Mach dir keine Sorgen.“

„Natürlich, natürlich. Wer macht sich denn Sorgen?“ Aber ihr Blick sagte: Danke. „Catfish, Bristol, wir machen eine Lagebesprechung, wenn wir abgeschlossen haben.“ Mama wandte sich in Richtung ihres Büros. „Pass auf, Avery, mach du die Kekse. Ich muss mal telefonieren gehen.“

Jetzt stand Mama unter Strom. Aber auf eine gute Art. Eine Reise nach Brighton, Susanna besuchen, Cathedral City während der Feiertage erleben, all das ließ in Avery eine Kerze entflammen, die hell im Fenster ihrer Seele leuchtete.

Brighton, das bedeutete mehr als der dumme alte Prinz Colin. Genauer gesagt bedeutete der wunderbare Ort den Truitts sogar eine ganze Menge. Familie. Liebe. Das Unerwartete. Oh, besonders das Unerwartete.

Zuerst war da ihre Schwester, die sich in einen Prinzen verliebt hatte, der König wurde. Zeugin davon zu werden, wie sie inmitten von Glanz und Gloria den Mittelgang durchschritt, um den Mann zu heiraten, den sie liebte … Avery wusste, dass das Unmögliche nur von Zweifeln und Angst aufgehalten wurde.

Aber das wahrhaft Unerwartete in jenem Jahr war Prinz Colin gewesen, wie er sie für sich eingenommen, sie auf eine Art mitgerissen hatte, die sie nie für möglich gehalten hätte. Mit ihren siebzehn Jahren war sie Hals über Kopf verliebt gewesen, so richtig. Hätte er sie gefragt, sie hätte ihn geheiratet.

Am Vorbereitungstresen rollte Avery mehr Teig aus und griff nach dem Ausstecher, um die dicken, runden rohen Kekse dann lässig auf das Backblech zu werfen, eine vertraute, tröstliche Routine.

Brighton stand auch für unerwarteten Herzschmerz. Die Liebe, die sie für Colin empfunden hatte, hatte sich nicht wie Susannas Liebe für Nathaniel entwickelt.

Diese Weihnachten war es fünf Jahre her, dass sie ihn kennengelernt hatte, ihren Prinzen, den Cousin des Königs, als sie und Susanna zu Nathaniels Krönung in Brighton gewesen waren.

Dann waren sie fünf Monate lang junge Liebende gewesen. Nicht einmal die fünftausend Meilen zwischen ihnen hatten ihre Zuneigung mindern können. Über Nacht war er ihr bester Freund geworden.

An ihn zu denken weckte einen dumpfen Schmerz, und es irritierte sie, dass er nach all dieser Zeit immer noch etwas Macht über sie besaß. Aber sie musste über ihre Gefühle bestimmen.

Colin war seinen Lebensweg sicher weiter munter vorangeschritten. Sicher wusste sie das nicht, weil sie die Klatschblätter im Supermarkt mied und Susanna nie nach ihm fragte, aber er war ein zu guter Fang, um lange alleine zu bleiben.

Sie hatte gedacht, sie wäre ebenfalls weiter. Dennoch brachte der Gedanke, einen Monat – einen ganzen Monat – in Brighton zu verbringen, alles zurück.

Herr, bitte mach, dass die Marine ihn wieder zur See schickt.

Avery trug das Keksblech zum Backofen, stellte den Wecker und schob dann die Fliegengittertür auf. „Ich komme gleich wieder!“ Sie verließ die Terrasse und schlug den Pfad durch Pinien und Palmettopalmen zum Strand ein.

Das Mondlicht spiegelte sich auf dem ruhigen Ozean, neckte sie, lud sie ein, auf dem Wasser zu gehen. Wenn sie ihre Augen zusammenkniff, schien es ihr, als könnte sie dem weißen Weg nach Nordosten folgen, ganz bis nach Brighton.

Avery näherte sich dem Wasser, wo die Wellen ihre Füße umspielten, den Sand darunter wegspülten. Es wäre besser, sie würde ihr Herz in den Griff bekommen, ihre Gedanken, bevor sie fuhr. Sonst würde sie ganz schnell als ein einziges Häuflein Elend enden.

Aber für den Moment atmete sie aus und erlaubte ihren rohen, wahren Gefühlen, sich die Wahrheit einzugestehen. Die eine Sache, die sich nicht verändert hatte, seit Daddy gestorben war.

Sie war immer noch sehr in Prinz Colin aus dem Königreich Brighton verliebt.

Ich wünsche mir ... einen Prinzen

Подняться наверх