Читать книгу Schwarz das Band des Flusses - Raghu Menon - Страница 3
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ОглавлениеDas Blut hatte einen dunklen Kreis aufs heisse Blech gezeichnet. Um ihre Schnurrhaare surrten Fliegen. Ich hatte das grüne Fenster aufgeschoben und sah das schwarze Kätzchen rücklings auf dem Fenstersims liegen. Das Tier konnte unmöglich so hoch hinaufgeklettert sein, dachte ich noch. Ich liess meinen Blick über die Umgebung schweifen. Der Wind trug fremdartige Gerüche herbei. Es war halbfünf, die Sonne stand nicht mehr am Himmel, aber es war noch hell. Ich schob das Fenster wieder zu, warf nochmals einen Blick auf die leblose Kreatur, machte kehrt und ging aus dem Zimmer. Unten an der Rezeption hatte ein dicker Hotelfachlernender Dienst. Er lächelte schläfrig, als ich ihm meinen Schlüssel reichte und erklärte: »Hat eine tote Katze, oben auf dem Fenstersims.«
»Eine Katze tot auf dem Sims? Sowas hör ich zum ersten Mal.«
Er strich sich übers pomadisierte Haar.
»Keine Angst, keine Angst, wir kümmern uns drum.«
»Ich wollt sie nur nicht in den Eimer auf dem Zimmer werfen.«
»Korrekt, korrekt. Die Viecher hier sind alle verseucht.«
»Schon möglich«, erwiderte ich.
Er zuckte mit den Schultern und kratzte sich am Kopf. Ich verliess das Gebäude und schlenderte die kurze Wegstrecke hinüber ans Meer. Vom Ufer ragte ein Wellenbrecher weit ins Wasser. Auf der geborstenen Betonkonstruktion tollten Kinder herum. Junge Pärchen standen händchenhaltend abseits beisammen, derweil Pensionäre zum gewölbten Horizont spähten. Verkäufer rösteten in Eisenpfännchen über glühenden Kohlen Erdnüsse. Fünf Tage war ich jetzt schon da. Der grosse Konzertauftritt hatte gleich am zweiten Tag stattgefunden, aber das war schon lange her. Am Himmel türmten sich Wolken zu einem luftig zarten Gebirge empor. Ich erahnte die bizarren Formen des Piz Sardona und der Tschingelhörner, wie ich sie vor sehr langer Zeit zur Dämmerung in der Ferne hatte erglühen sehen. Eine Deutsche Boxerhündin trabte bellend durchs Getümmel. Ein kleines Mädchen rannte ihr hinterher. Ich fühlte mich wie ein Kiesel im Geschiebe eines breiten Flusses. Wenn ich stürbe, verdorrte nur ein Zweiglein an einem mächtigen Baum, der voll im Saft stand. Wir waren unsterblich und Teil eines grossen Tieres, das immer weiterkroch übers Antlitz dieser Erde.
Bilder von woandersher stiegen in mir hoch, so wie es zuhause wohl den tamilischen Flüchtlingen ergangen war, drei Stockwerke über mir, wenn sie in frostigen Winternächten ihre Welt heraufbeschwörten, die ihre Vergangenheit herumschleppten wie eine Seuche, die sich in der Fremde ungehindert Bahn brach, besonders wenn Prabhakarans Emissäre wieder auf Visite gekommen waren, den Tribut für die Guerilla im Dschungel von Ceylon zu kassieren, und im Treppenhaus die blutroten Schlieren ihrer Spucke ihre Besuche markierten, wie Piktogramme von Banden die Fassaden der Häuser ihrer Gebiete codierten, dieses Haus hatte bezahlt, jenes war noch säumig, und oben ein lautes Saufgelage anhob, unterlegt von südindischen Filmschlagern, die aus einem Ghettoblaster plärrten und die Melismen der Frauenstimmen das ganze Haus mit quälender Agonie tränkten, und die Männer vom Fusel benebelt Gegenstände aus dem Fenster warfen und einer der Kerle später im Unterhemd auf dem Trottoir vor den Häusern patroullierte, in der Hand einen Zwanzigfrankenschein, mit dem er den alleinerziehenden Müttern durch die Parterrewohnungsfenster zuwedelte. Das tolle Treiben ging von einem Tag auf den anderen zu Ende. Die Männer verschwanden mit einem Mal, als hätte sie der Erdboden verschluckt. Wenige Tage zuvor war ich ihnen noch vor meiner Tür begegnet. Sie äugten wie tollkühne Mungos: »Music cleaning fire. Nice, how you play horn.«
Sie erregten den Anschein verirrter Geister. In ihren Augen flackerte Furcht vor Prabhakarans Häschern, doch sie waren auch, was sie verloren hatten. Denn diese Geister warfen Schatten nochmals ganz anderer, aufrechter und stolzer Menschen auf unsere Erde.
Die Boxerhündin sprang vor mir auf und ab und bellte scharf, doch dann erblickte sie das Mädchen, das sich hinter mir angpirscht hatte und ein langgezogenes »Zaraa'!« hervorstiess, und schnellte zur Seite.
Der Bauernhof, auf dem ich ab und zu für ein paar Franken im Stall und auf den Feldern mithalf, stand inmitten von Hügeln. Allerorten rauschten dichte Wälder. In Nähe des Hofs führte eine schmale Strasse durch einen Wald zu einer kühlen Senke hinab, wo ein Bach gurgelte. Wieder oben verlief die Wegstrecke dem Waldrand entlang, vorbei an einer einsamen Villa, die von einer hohen, weissen Mauer mit grossen Zinnen umringt war. Nur durch das eiserne Tor fiel der Blick auf den schmucklosen Bau aus den fünfziger Jahren. Immer, wenn ich hier vorbeikam, stürmten zwei Boxerhunde bellend ans Tor. Nie habe ich dort je eine Menschenseele gesehen, nur manchmal parkierte eine Limousine auf dem bekiesten Vorplatz. Allein die Köter liessen Leben hinter den dicken Mauern erahnen. Wenn ich in der Mostzeit alleine zur grossen Presse ins Nachbardorf wanderte, wo ich von unseren ankommenden Fuhren die wegkollernden Äpfel aufsammelte, kam ich hier durch. Ich atmete immer auf, wenn der Bau wieder ausser Sichtweite war. Dennoch liess mich das Haus nicht los. Ich versuchte mir immerzu vorzustellen, wie es im Innern aussah und wer darin wohnte. Auf der Bierflasche, die der Bauer abends stets öffnete, prangte auf dem Etikett der Schädel eines Boxerhundes. Lange glaubte ich, der Trank werde in der schmucklosen Villa gebraut.
Die tropische Nacht brach plötzlich herein, als wäre ein schwarzes Tuch über die Szenerie geworfen worden, so als hätte jemand eine grosse Lampe ausgeknipst. Jetzt vernahm ich den Wellenschlag des Meeres. Rauch wehte umher und die Feuerchen der Erdnussverkäufer flackerten hell auf. Ich wandte den Blick von der Dünung ab. Landeinwärts flimmerten abertausende Lichter über dieser aufgeschütteten Sumpflandschaft, die so viele Glücksuchende und Vertriebene über ihren Abgrund hinwegtrug, oder gleich ganz verschlang.
Ich ging zurück ins Hotel. Der Rezeptionist hatte seinen Kopf auf die Theke gelegt und schnarchte. Über ihm brannte eine Leuchte, sonst war keine Menschenseele in der Lobby zu sehen. Ich ging hinter die Theke, angelte meinen Schlüssel vom Brett, ging auf mein Zimmer und zog mich für den Abend um. Danach trat ich zum Fenster. Ich sah mein weiches Spiegelbild mir langsam entgegenkommen bis meine Nasenspitze die schwarze Scheibe berührte. Die Umgebung lag im Dunkeln, nur ein paar Lampen glimmten weiter entfernt in der Tiefe. Das Zimmerlicht warf einen grünen Streifen über den Sims. Das Kätzchen lag nicht mehr da. Ich trat zurück, hängte mir die Tasche mit dem Kornett um, verliess das Zimmer und tappte durch das halbdunkle Treppenhaus hinunter. Von den Wänden hallte das Trommelfeuer der Zikaden wider. Ich liess meinen Schlüssel dem schlummernden Rezeptionisten vor die Nase fallen, doch er tat kein Wank.
Darauf wanderte ich zur Dadar Station, um den Vorortszug der WESTERN RAILWAYS in die Südstadt zu erwischen. Ayyan hatte mich gestern im Taxi für verrückt erklärt, weil ich vorgeschlagen hatte, gemeinsam die letzte Bahn nachhause zu nehmen.
»Im Sommer ging in einem Zug eine Bombe hoch, es gab zweihundert Tote. Hast du's nicht mitgekriegt?«
»Das schon, aber irgendwann endet doch sowieso alles.«
Sie schüttelte den Kopf: »Deswegen würd ich dich nie heiraten.«
»Über sowas machst du dir nicht etwa Gedanken?«
Sie lachte und schüttelte abermals den Kopf. Dann wurde sie ernst: »Bahnfahren ist hier schon so kein Spass. Und seit sich Mudschaheddin aus dem Dekhan in der Stadt herumtreiben, fahre ich so wenig Zug wie möglich.«
Ich überquerte die breite doppelspurige Ghokale Road und marschierte eine belebte Hauptstrasse hinunter, die zur Station führte. Der Wind schleifte Krepppapier über die Fahrbahn. Meinen Weg säumten kleine Geschäfte, die alle geöffnet hatten. Der Bahnhof, der tags vor Menschen wimmelte, war jetzt fast leer. Ich kaufte ein Ticket und nahm die Überführung hinüber zum Gleis. Die flackernden Anzeigen kündeten die Durchfahrt eines Zugs nach Patna an, einer Stadt in der Gangesebene, fast zweitausend Kilometer weit entfernt. Ich stieg die Treppe zur Plattform hinunter. Die Lautsprecher knackten und eine Frauenstimme machte im Singsang eine Durchsage auf Marathi. Da ertönte aus der Dunkelheit schon ein Signalhorn und aus der Gleisbiegung erschienen die grossen Scheinwerfer einer Diesellok. Die Fundamente der Station begannen zu beben. Mir wehte der Geruch von erhitztem Eisen entgegen. Dann erfüllte der schwere Klang von Radachsen die Luft mit dunklen Rhythmen. Eine urtümliche Nocturne hob an, voller metallener Glissandi, herumgeisternder Obertöne und dumpfem Pochen, derweil der vollgepferchte Zug durch die Station rollte. Aus den offenen vergitterten Fenstern lugten Arme heraus, einzelne Handteller ruderten im Luftstrom. Gesichter starrten mir entgegen. Ich erhaschte rot gewandete Verkäufer, die Tee in Chromstahlbehältern auf dem Kopf durch die Abteile balancierten. Reisende bugsierten Koffer herum, andere breiteten auf ihrer Bettstatt Decken für die Nacht aus. Diese langen und schweren Züge brauchten eine Weile, um richtig Tempo zu gewinnen, und auch dann fuhren sie nie mehr als siebzig Kilometer die Stunde. Bis Patna brauchte dieser Kurs so ganze zwei Tage. Die metallene Schlange wollte nicht mehr enden, Wagen an Wagen polterte vorbei, bis sie endlich mit ihrer Myriade von Augenpaaren im Dunkel der Nacht verschwand. Ich hörte den Zug über die Weichen holpern wie ein forttreibendes Schiff, das in den Wellen rollt. Wenig später brauste mein Vorortszug heran und bremste schrill ab. Er war nur halbvoll. Nach einer halben Minute setzte er sich in Bewegung Richtung CHURCHGATE TERMINUS. Ich stand an der offen Wagenrampe und hielt mich an einer Stange fest. Neben mir lehnte ein schlaksiger Kerl im Türrahmnen. Er trug ein Jeanshemd, auf dem unzählige Stofflicken aufgenäht waren. Auf jedem war das Wort GUCCI gestickt. Ein Mantra in zig Farben und krakeligen Buchstaben. Als er bemerkte, dass ich sein Shirt musterte, setzte er eine wichtigtuerische Miene auf.
»No pirate copy!« rief ich.
Er lachte, schüttelte den Kopf und streckte ihn zur Wagentür hinaus. Draussen zogen trübe Lichter vorbei. In der Ferne krachten Böller. Lärmfetzen schwirrten umher. Hochhäuser türmten sich auf und flogen hinweg, dann wieder breiteten sich Hüttensiedlungen aus, von denen faulige Gerüche herbeiwehten. Ab und zu kamen am Bahndamm Menschengruppen in Sicht, die darauf warteten, gleich nach unserer Durchfahrt die düsteren Gleisstränge zu queren. Das Licht unserer Waggons streifte Gestalten, die neben der Trasse in der Hocke kauerten und schissen. Mir war, als sei ich auf ein Filmset geraten. Die breite Wagentür eine vibrierende Leinwand, die die Sicht hinaus in eine mysteriöse Galaxie freigab.
Mein Blick wanderte über die wenigen Passagiere in den offenen Abteilen. Das Wageninnere war von Neonleuchten in grelles Licht getaucht. Ich blickte unter die Sitze, wo einzelne Pakete oder Taschen lagen. Wenn jetzt ein Sprengsatz detonierte, hätte ich ein glückliches Leben gehabt, ein wenig bitter, aber gut. Lieber ein bitteres Glück als gar keins. Doch es waren zu wenig Passagiere im Zug. Die Ausbeute hätte den Aufwand nicht gelohnt. Nach einer Viertelstunde Fahrt rumste der Zug quer über die Gleise und fuhr mit einem gellenden Pfiff in die Halle des Endbahnhofs ein. Der Wagen kam mit einem groben Ruck zum Stehen.
Ich schrieb Ayyan ein SMS: »In CHURCHGATE angekommen, keine Bombe explodiert. Deine Mudschaheddin sind Penner.« Ich nahm am Bahnhof ein Taxi zur Südspitze der Stadt. Der Wagen röhrte dem OVAL MAIDAN entlang. Am Ende des in Düsternis liegenden Parks kamen die MITTAL TOWERS in Sicht. Und bald glitzerten zwischen hohen Häusern die Wellenkämme des Arabischen Meeres. Ich hielt meine Hand zum Fenster hinaus und liess die warme Luft zwischen meinen Fingern hindurchströmen. Schliesslich verlangsamte der Wagen sein Tempo und hielt auf eine Gruppe Betontürme zu. Er passierte ein Gittertor, das von einem Uniformierten mit Schlagstock bewacht wurde. Der Fahrer liess das Taxi die abschüssige Zufahrt zu einem Häuserkomplex hinunterrollen. Bei einem beleuchteten Eingang mit der Nummer »10a« ging er auf die Bremse.
Ich drückte die Klingel, kurz darauf surrte der Öffner. Ich betrat einen stickigen Gang und nahm den Lift in die achzehnte Etage, wie mich die Lady geheissen hatte. Als ich oben die Lifttür aufstiess, hörte ich es schon Salaam! rufen. Sie stand am Ende des kurzen Gangs, von dem eine Handvoll Wohnungen abgingen. Sie trug einen Hidschab, doch verbarg dieser kaum ihre hervorquellenden Haare. Sie war etwa fünfzig und hatte die scharf geschnittenen Gesichtszüge einer einst gefeierten Schönheit. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Ich konnte mich nicht erinnern, ihr Gesicht jemals gesehen zu haben. »Hi«, grüsste ich. »Hallo, hallo!«, rief sie leise und wedelte mit der Hand, als wären wir ein heimliches Paar. Sie hielt in der Hand ein dickes Glas mit einem bernsteinfarbenen Trank. »Komm rein, du hast sicher Durst. Ich mach dir einen Drink. Hat Whiskey im Haus, aus Japan.« »Wasser ist auch gut.« »Jaja, davon hat's auch drin.« Sie lachte. Ich folgte ihr durch die Tür in die Wohnung hinein. Am Ende eines langen Gangs öffnete sich ein grosses Wohnzimmer. Hinter der breiten Fensterfront blinkten die Positionslichter der Kräne in der Hafenbucht. In der Ecke räkelte sich ein junges Mädchen auf einem Sofa. »Meine Nichte, Aroob«, stellte sie die Lady vor. »Hallo.« »Hi! War cool, das Konzert gestern!« »Aroob lebt in Toronto,« fiel ihr die Tante ins Wort, »sie hat hier gerade auf der FASHION WEEK ihre neue Kollektion gezeigt.« Mein NOKIA fiepte. Eine SMS. »Blödmann! Ayyan« »Du hast hier schon Freunde?« Die Lady musterte mich. »Die Sängerin von gestern Abend.« »Ah«, meinte sie und tauschte mit Aroob einen Blick aus. »Sie sah nett aus«, erwiderte Aroob. Die Tante zog die Augenbrauen hoch. »Kenne sie erst seit ein paar Tagen«, entgegnete ich. Ich schob das Handy wieder in meine Hosentasche. »Wohnst du hier alleine?« Die Tante musterte mich. »Mein Mann ist lange schon tot, wir hatten keine Kinder.« »Tut mir leid.« »Hast du nicht wissen können.« Mein Blick fiel auf den breiten, silbernen Armreif an ihrem Handgelenk. Sie bemerkte es und hob mir ihren Arm entgegen: »Ein Familienerbstück, über vierhundert Jahre alt.« Er hatte Tierfiguren eingraviert und war mit Kalligrafien verziert. An den Rändern war die Gravur fast verblichen. »Aus Rajasthan, da stamme ich her. Die Frauen trugen den Schmuck auch zum Wäschewaschen. Die Muster sind vom Kontakt mit dem Brunnenrand fast blankgescheuert worden.« Sie lachte trocken. »Hier drüben ist mein Schlafzimmer«, sagte sie plötzlich und zeigte auf eine angelehnte Tür, »geh rein. Vom Fenster geht der Blick auf die andere Seite hinaus auf den Indischen Ozean. Ich gehe rüber zu Aroob, sie kleidet mich fürs Dinner an.« Ich betrat das Schlafzimmer, das im Finstern lag. Die Fensterfront war ganz aufgeschoben. Ein warmer Luftzug strich mir übers Gesicht. Die Vorhänge blähten sich wie Segel. Der Blick ging fast drei Meilen weit hinaus aufs Meer. Ich konnte das Ende von Chowpatty Beach sehen und dahinter die glitzernden Lichter von Malabar Hill. Fast zu Füssen des Gebäudes schaukelten die matten Lichter einer Hüttensiedlung. Jetzt verspürte ich Durst.
Der Klub befand sich in der Nähe, nur zehn Minuten Fahrzeit entfernt hinter der GATEWAY OF INDIA. Ich hatte neben ihr auf der Rückbank des Taxis Platz genommen. Die Lady lächelte geheimnisvoll und musterte mich aus schmalen grünen Augen. Sie trug einen scharlachroten Pandschabi. Die Borten waren mit silbernen Fraktal-Mustern bestickt.
»The Goddess Is All Maths, Aroobs Frauenlinie«, verkündete sie. »Das wird nett heute Abend.« Sie nickte und warf mir einen spöttischen Blick zu. Die Stadt flog in entgegengesetzter Richtung am Fenster vorbei. Wir fuhren auf der Bhagat Singh Road zum alten Stadtzentrum, zweigten in Colaba in die Landsdown Road ab und fuhren sie ganz hinunter. Am Ende der Strasse tauchte schliesslich ein düsterer neugotischer Bau auf. Er hatte etwa fünf Stockwerke, die Fassade prägten weisse Rundbögen. Zylindrische Türme wanden sich an den Ecken empor, dem Gebäude waren zwei hohe, quer verlaufende Giebeldächer aufgesetzt. Das Taxi hielt vor dem grossen Eingangsportal, zu dessen Seiten Gasfunzeln flackerten. Wir stiegen aus und betraten die Lobby. Ein Portier in grauer Uniform begleitete uns zu einem alten Aufzug und fuhr uns in die oberste Etage. Oben breitete sich hinter einem Durchgang die MAIN HALL aus. Prunkvolle Lüster tauchten sie in bronzenes Licht. An den Wänden hingen mächtige, dunkle Ölgemälde mit Segelschiffen. Lautes Geplauder erfüllte den Raum. Ein paar Dutzend Geladene standen herum. Zigarrenrauch qualmte träge zur Diele. Bedienstete in weissen Uniformen kurvten mit beladenen Tabletts umher und verteilten Drinks. Mir stach von weitem ein grosser Mann ins Auge, er mochte knapp sechzig sein und kam mir bekannt vor. Doch das hiess nicht viel. In diesem Land sind mir Fremde oft schon wie alte Bekannte vorgekommen. Er hatte graue, krause Haare und stand leicht schief. Als er meinen Blick bemerkte, nickte er, als kenne er mich, dann musterte er kurz die Lady und ein spöttisches Lächeln umspielte seine Lippen. »Welcome to the club!« raunte sie mir zu, »fast alle sind hier.« »Sieht so aus.« »O Gott, mein Nachbar zwei Stöcke unter mir ist auch da«, meinte sie genervt. »Der grosse Kerl mit dem Turban, der bequatscht mich bei jeder Gelegenheit, ein Dummkopf sondergleichen!« Mein Blick streifte über die Gästeschar und ich erblickte einen Hünen mit langem schwarzem Bart und Turban. »Tragen die wirklich alle ein Messer dunter?« »Ein widerlicher Plebejer. Nur neues Geld. Bei dem steckt vor allem kiloweise Silikon im Hintern und der Rest im Hirn.« Die Lady lachte verärgert. Am Ende des Saals war eine kleine Bühne für das Konzert mit Jazzy Joe aufgebaut worden. Ein Kontrabass lag auf den Brettern, dahinter thronte ein Schlagzeug, flankiert von einem rotem Elektropiano. Da stand der Grauhaarige plötzlich vor uns. »Hello, ich bin Farzad«, dröhnte er mit tiefer Stimme. »Ich kenne dich vom Festival, in Bandra vor ein paar Tagen.« »Du warst auf dem Konzert?« »Bin im Festivalkommitee, schon mein Vater war dabei.« Jetzt erinnerte ich mich, ihn nach Konzertende hinter der Bühne stehen gesehen zu haben. »Wurde wieder spät mit der Arbeit. Hab aber die letzten vier Stücke gehört. Deine Musik brennt wie Feuer!« »Oh, die Band hielt mich auf Trab«, entgegnete ich. Er lachte, dann fügte er hinzu: »Mit deinem Namen musst du einer aus Vinods Familie sein?« »Er war nur mein Grossonkel.« »Nur! Ist das nicht schon genug? Er war mit meinem Vater eng befreundet.« Ich war überrascht: »Eng befreundet?« Er nickte und musterte jetzt erst die Lady. Sie atmete hörbar durch die Nase und sah seinem prüfenden Blick stoisch entgegen. »Mylady auch hier! Mit einem illustren Gast im Schlepptau. Sie wissen wohl, wer das ist?« »Hello Doktor. Ich lasse mich gerne überraschen.« Der Doktor zog die Augenbrauen hoch und hielt inne. Dann richtete er wieder sein Wort an mich: »Ich hab mein Tenorsax dabei. Bin nur Amateur, aber mit Jazzy Joe auf ein Stück einzusteigen, lasse ich mir nicht entgehen. Der Kerl ist eine Legende.« Er zeigte auf meine Instrumententasche: »Du hast dein Kornett mit!« Dann klopfte er mir auf die Schulter. »Perfekt. Wir sehen uns nachher auf der Bühne!« Er machte kehrt und entfernte sich mit grossen Schritten. »Wer war der Typ?« fragte ich die Lady. »Farzad. Ein Chirurg. Stammt aus einer alten Familie der Stadt. Ein spezieller Vogel, aber wie alle Parsen durchaus unterhaltsam. Sofern er mit einem zu tun haben will. Wir laufen uns hier gelegentlich über den Weg.« Vorne betrat Jazzy Joe mit umgehängtem Tenorsaxofon die Bühne. Er war nur wenig grösser als sein Instrument. Der alte Musiker steckte in einem ausgebeulten Anzug. Sein Gesicht hatte etwas von einem Reptil. Seine Haut schimmerte wie schwarzes Pergament. Die Lady stiess mich an: »Es geht los.« Jazzy Joe blies ein bluesiges Intro. Der Pianist entlockte seinen Tasten samtene Akkorde. Dann stieg die Band ein. Sie spielten PRELUDE TO A KISS von Duke Ellington. Das Publikum stellte sich vor die Bühne und lauschte gebannt Jazzy Joes rauchigem Spiel. Nach der Ballade sagte er einen Blues an und forderte alle, die Instrumente dabei hatten, auf, mitzujammen. Etwa fünf Saxofonisten gesellten sich jetzt zur Band. Farzad und der Nachbar der Lady mit dem Turban waren auch auf der Bühne. Jazzy Joe schnippte mit den Fingern und zählte ein. C-JAM BLUES. Der Bläserchor fiel in das kurze Riff des Stücks ein. Es hallte von den Kassettenwänden wider, wie das Signalhorn eines durch eine Station rollenden Zugs. Jazzy Joe legte sogleich mit einem röhrenden Solo los. Die drei alten Hasen der Rhythm Section zogen hinter ihm unbeirrt ihren Groove durch. Sie gerieten in Fahrt, so wie jetzt wohl die Diesellok, die dem Zug nach Patna vorgespannt war, und der jetzt wahrscheinlich in der Nähe von Nashik durchs finstere Hinterland von Maharashtra stapfte. Nach Joes Solo war die Reihe an Farzad. Er blies stossweise Phrasen in sein Horn und lief krebsrot an. Nach seinem kurzen Solospot betrat ich mit meinem Kornett die Bühne. Ich holte Luft und intonierte ein hohes »A«. Er klang wohl auch in einer anderen Galaxie so erregend. Doch auch hier in diesem Hafenviertel mitten in den Tropen versetzte er mich in Staunen. Einem Dominantseptakkord wohnte auf dem ganzen Erdball diese vibrierende Spannung inne. Sein Klang erzeugte in mir sogleich das Gefühl von Heimat. Seine Untiefen waren erfüllt vom triumphalen Klang des Blues', der aus ihnen emporstieg und all irdischer Not die Stirn bot. Das verheissene Paradies befand sich dort, wo wir auf ein paar zusammengenagelte Bretter hinaufsteigen konnten und die Musik von selbst ihr Band um die Menschen flocht. Ich hielt noch immer das hohe »A« aus. Mit einem Mal sprudelten die Töne nur so aus meinem Instrument heraus. Doch sie ergaben keinerlei Sinn. Mir war, als hätte ich vergessen, wie man Kornett spielt, als spiele ein anderer die Musik, die nicht wie Musik tönte. Ich brach mein Solo abrupt ab und stieg kopfschüttelnd von der Bühne. Die Menschen applaudierten. Sie waren wohl alle verrückt geworden. Die Augen der Lady funkelten wie Smaragde. Nach dem Tune spielte Jazzy Joe und seine Band das Set alleine weiter. Farzad kam auf mich zu. »Du spielst toll! Teufel, da halt ich nicht mit. Ich meine«, er beugte sich zu meinem Ohr und raunte mir zu, als verkünde er ein Geheimnis, »ehrlich. So spielst du.« Er hämmerte mit geballter Faust gegen meinen Brustkasten. »Du bewegst nicht nur die Finger, wie so viele.« Er öffnete seine Faust und liess seine grossen Finger vor meinem Gesicht flattern. »Mit ein bisschen Übung kann das ja jeder. Dein Grossonkel hätte Gefallen gefunden an dir.« Dann holte er seine Börse hervor, klaubte eine Visitenkarte heraus und reichte sie mir. Ich las FARZAD MISTRY, HEAD OF THROAIC SURGERY. Eine Klinik im Stadtteil Andheri war angeführt. »Hinten ist meine Privatadresse drauf. Gib mir deine Nummer, ich ruf dich nächste Woche an. An irgendeinem Tag bin ich gegen acht raus aus der Klinik. Bist du stand-by?« »Mein Leben ist Improvisation, also immer stand-by!« »Wusste ich doch! Du kommst zum Dinner. Wir haben einen brauchbaren Koch.« »The pleasure will be mine!« Ich gab Farzad meine Nummer. An der langen Rückwand mit verblichenen Ahnenbildern wurde jetzt das Buffet aufgefahren. Ein Dutzend Köche mit grossen Hauben standen hinter den silbernen Geschirren stramm. Plötzlich stand die Lady neben uns. Auf ihrem Gesicht lag ein geheimnisvoller Glanz. Die Eiswürfel in ihrem Drink klickerten gegen das Glas.