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Das Telefon musste schon lange geklingelt haben. Doch ich glaubte zu träumen, drehte mich im Bett um und sank wieder in tiefen Schlaf. Da lag das fremde Mädchen wieder neben mir. Ich vernahm ihren unruhigen Atem im Schlummer. Ich konnte mir nicht erklären, wie sie hierher geraten war. Am Morgen wachte ich alleine auf, nebenan erinnerte eine längliche Kuhle in der Matratze, dass sie hier genächtigt hatte. Ich stand auf, zog mich an und ging aus dem Haus, um vor dem Wochenende im Viertel Besorgungen zu machen. An der Kasse des Supermarkts durchfuhr mich ein Schreck, weil mir wieder einfiel, dass Djuna in einer Stunde heimkäme aus Wien, wo sie auf einer Modemesse ihre Kollektion gezeigt hatte. Ich stürzte aus dem Supermarkt, während meine Einkäufe auf dem Kassenband der Verkäuferin entgegenfuhren. Was, wenn noch Haare vom Mädchen im Bett wären? Völlig ausser Atem kam ich zuhause an. Die Wohnungstür war verschlossen und Djuna noch nicht da. Ich stürmte ins Schlafzimmer, blieb stehen und stiess vor Erleichterung einen Seufzer aus. Von einem Mädchen keine Spur, ich hatte alles nur geträumt. Ich setzte mich aufs Bett. Alles nur geträumt, dachte ich, während meine flache Hand langsam über die weiche Matratze glitt. Da fühlte ich unter meinen Fingerspitzen ein einzelnes Haar. Es war lang und blond. Ich hielt es am Ende zwischen Daumen und Zeigefinger hoch. Es glänzte wie ein goldener Faden. Ich trat zum halb geöffneten Fenster. Es begann im Luftzug zu wehen. Ich zog es langsam zwischen den Fingerspitzen in die Länge. Das Haar wurde immer breiter. Als es ganz gespannt war, schillerte es wie ein Haarband. Ich hatte ihre Wärme gespürt und ihren unruhigen Atem im Schlaf auch wirklich vernommen. Ich klaubte aus der Schublade meines Pults im Zimmer ein schwarzes Säcklein hervor und liess das Band hineingleiten. Dann schob ich die Schublade samt Behältnis wieder zu. Die Klingel schrillte. Jetzt war nichts mehr mit sich umdrehen im Bett, ich wachte auf, schlug den Bettbezug zurück und tappte mit der Hand nach dem Nachttisch, wo der Apparat stand. Es war so früh am Morgen schon heiss und schwül, wahrscheinlich war auch noch die Klimaanlage wegen eines Stromunterbruchs ausgefallen. In der Luft hing der schwere Geruch der Tropen. Ich konnte das Gerät mit der Hand nicht erreichen und richtete mich im Bett auf. Die Sonne schien matt durch die grün getönte Scheibe ins Zimmer. Ich sah einen Raben draussen auf dem Fenstersims und hörte sein gedämpftes Krächzen. Dazwischen schrillte der Telefonapparat in einem fort. Vielleicht war es Rajit, der mich zum Kaffee ins GYPSY bestellte. Ich griff nach dem Hörer und nahm ab.

»Hallo«, klang ein tiefe Stimme aus der Ohrmuschel.

Ich vermochte nicht zu sagen, ob sie einem Mann oder einer Frau gehörte.

»Ich habe sie doch nicht geweckt?«

»Wer ist da?«

»Wir haben uns gestern gesehen, erinnern sie sich? Im Gebäude des REGAL Kinos, erster Stock.«

Es war still, ich hörte ein Knacken in der Leitung, vielleicht lauschten die Rezeptionistinnen wieder aus Langeweile mit.

»Hallo? Sind sie noch dran?«

»Jaja.«

»Nenn mich doch Haifa.«

»Ich bin Ambrosius«

»Weiss ich. Ich war doch gestern an deinem Auftritt. Ich sass am Tisch gleich hinter der weissen Säule, zusammen mit meiner Nichte.«

Meinetwegen, dachte ich. Der Klub war voll gewesen. Doch ich war mir sicher, dass wir nicht miteinander gesprochen hatten. Diese tiefe Stimme hörte ich zum ersten Mal.

»Ich hab dir gewinkt, als du raus bist.«

Das war schon möglich. Ich hatte den Klub mit Ayyan verlassen. Wir nahmen ein Taxi gleich unten am Kreisverkehr der WELLINGTON FOUNTAIN Richtung Norden nach Dadar, wo ich in diesem Hotel hinter der Küstenlinie wohnte, einer Übungseinrichtung für Hotelfachlernende aus ganz Indien. Ayyan fuhr anschliessend die paar Meilen weiter nach Bandra, wo sie in der Wohnung der Eltern wohnte.

»Also Ambrosius, hast du heute Abend etwas los?«

»Noch nicht.«

»Komm um sechs bei mir vorbei. Wir gehen in den ROYAL YACHT CLUB zum Dinner, okay?«

Ich schwieg.

»Hallo?«

»Danke, danke für die Einladung, ... ich richte es ein ...«

»Und nimm bitte dein Kornett mit, da spielt die Band von Jazzy Joe Pereira. Er ist eine Legende in Bombay. Er wünscht, dass du auf ein paar Stücke einsteigst. Hab ihm schon von dir erzählt.« »Gut. Sechs Uhr wohin?« »Süd-Colaba.« »In Nähe der Synagoge?« »Nicht so weit, gleich nach CUFFE PARADE in die Homi Bhabha Road abbiegen, ich wohne auf halbem Weg rechts in der BACKBAY RECLAMATION. Hast du was zum Schreiben?« Haifa hiess mich ihre Adresse und Mobilnummer notieren. »Bis heut Abend.« »Ja, bis heut Abend.« Ich legte auf, stand auf und ging ans Fenster. Der Rabe blinzelte durchs grüne Glas. Ich wuchtete das Fenster auf. Da breitete der Vogel seine Flügel aus und flatterte in die Tiefe. Ein heiseres Krächzen stieg empor und gleichzeitig drang glühende Luft ins Zimmer. Ich blickte hinunter. Auf der anderen Seite der Hotelmauer lagen Hüttenzeilen, die mit Wellblech bedeckt waren. Affen hockten auf der Mauer und spähten aufmerksam umher. Zwischen den Hütten und den nächsten Häusern weiter weg lag ein schmales Feld mit zwei Trampelpfaden, die über Kreuz verliefen. Ein alter Mann stand dort mit nacktem Oberkörper und putzte sich die Zähne. Ich schaute auf die Uhr, es war neun. Ich trat vom Fenster weg und kramte in einer Zimmerecke eine Packung Nüsse aus meinem Koffer hervor, die ich am Flughafen in Zürich als Proviant gekauft hatte. Ich ging wieder ans Fenster und streute einige Kerne auf den Sims. Dann schob ich es wieder zu. Da ertönte wieder das Rasseln der Klimaanlage, das mich am Abend zuvor im dunklen Hotelzimmer empfangen hatte, als ich vom REGAL heimgekehrt war. »Nett, wo du wohnst«, hatte Ayyan noch gesagt, als sie mit grossen Augen aus dem Taxifenster am Gebäude hinaufblickte. Ich legte mich vor dem Frühstück nochmals aufs Bett und schlug die Augen zu. Da klingelte das Telefon schon wieder. Ich nahm den Hörer ab und fragte tonlos: »Ja?« »Lass dein Massala-Omlett heut sausen und komm ins GYPSY. Wir sehen uns in zehn Minuten!« Der Hörer wurde aufgelegt, es knackte noch in der Leitung. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Ich zog mich auf der Bettkante an und huschte aus dem Zimmer. Unten an der Lobby hatte das zierliche tamilische Mädchen Dienst, ich drückte ihr meinen Schlüssel in die Hand. Sie lächelte verschämt und hängte ihn hinter sich ans Brett. »Have a good day, Sir.« »You too, Mam'.« Sie deutete einen Knicks an. Ich trat hinaus in die Hitze und eilte durch die Strassen des Viertels zum nahe gelegenen GYPSY. Ich sah Rajit dort von weitem schon draussen auf einem Stuhl vor einem Glas Filterkaffee sitzen und die TIMES OF INDIA lesen. »Da bist du endlich!« rief er, als er von der Zeitung aufblickte. Ich setzte mich zu ihm an das Tischchen. Ein Kellner mit dickem Schnauzbart erschien. Ich orderte Kaffee und ein Misal zum Essen. »Hör zu, ich nehme heute frei, wir fahren raus zum Nationalpark, ist nur eine Stunde entfernt. Mein Fahrer holt uns hier in zwanzig Minuten ab. Du wirst vom Hocker fallen wegen der buddhistischen Felshöhlen dort. Incredible India schon in der Antike.« Er nahm einen Schluck Kaffee. »Du hast doch noch nichts vor?« Ich schüttelte den Kopf. »Nur abends bin ich eingeladen.« »Eingeladen von wem?« »Haifa.« »Moslemischer Name, wer ist denn das?« »Keine Ahnung.« »Du hast keine Ahnung, wer dich einlädt?« »Keinen Schimmer. Gehen in den ROYAL YACHT CLUB essen.« »Da kommt man als Normalsterblicher nicht rein. Du bist fünf Tage hier und schon überall dabei.« Rajit kniff die Augen zusammen. »Und woher kennst du sie?« »Ich kenne sie gar nicht. Sie sagte am Telefon, sie wär' gestern im REGAL gewesen. Weiss nicht mal, wie sie aussieht.« Rajit musterte mich. Ein Vogel begann in hohen Lagen zu trällern. Die flatternden Töne punktierte er mit hohen und tiefen Lauten und beendete seinen Gesang auf einem ganz tiefen Ton. Und schon begann er seinen Phrase wieder von vorn, alles vorgetragen in rasantem Tempo. »Wahnsinn«, rief ich, »hör dir den Ruf dieses Vogels an! Klingt wie der Beginn eines Electrotracks.« »Das bin doch ich!« »Du?« »Nein, Zunnur.« »Ein Zunnur?« »Wo denkst du hin! So heisst meine Sekretärin.« Rajit kramte sein BLACKBERRY aus der Brusttasche und nahm den Anruf an. Sofort verstummte der auffällige Gesang. »Hallo!« sprach er mit weicher Stimme und seine Augen weiteten sich. »Acha, acha, bestell ihn auf Übermorgen. Was? Kann er nicht. Freitag? Nein, dann flieg ich nach Kalkutta, ein Meeting. Mach ihm einen Termin nächste Woche, ja?« Er hörte zu und blickte auf die Zeitung. »Fein! Danke Zunnur. Schönen Tag!« Rajit drückte die Auflegen-Taste. Der Kellner kam und stellte mir Kaffee und ein dampfendes Misal hin. »Ach, das war dein Klingelton!« rief ich und nahm einen Schluck aus dem Glas. »Zunnurs Klingelton.« Er lächelte bübisch. »Alle haben einen anderen.« »Alle was?« »Nummern.« Er klopfte auf sein BLACKBERRY. »Da drin.« »Aha.« »Nicht nur Frauen.« »Natürlich«, sagte ich. »Zunnur legt an Wochenenden Platten auf, in Bandra im Zenzi. Geh mal hin, ich bin leider schon zu alt zum Tanzen.« »Was ist mit Zuhören?« Er wedelte die Option mit einer Handbewegung weg und erklärte: »War ein Flaggendrongo, sieht recht ausgefallen aus. Mit langen blauen Wimpeln an den Flügelspitzen und einem gefiederten Schnabel. Passt zu ihr.« »Flaggendrongo?« »Zunnurs Vogelruf.« »Du weisst, wie alle Vögel im BLACKBERRY aussehen?« »Klar!« Bei Rajit war einiges klar und noch mehr möglich. Er arbeitete in der sogenannten Spinnerabteilung von MAHINDRA. Die bauten eigentlich Jeeps und Laster, aber sie hatten auch Sondereinheiten für grüne Energie, Nanotechnologie und eben Rajits Spezialtrupp für absonderliche, neue Produkte, die in Laboratorien auf dem ganzen Subkontinent ausgebrütet wurden. Er freute sich über jeden Monat, den er überstand, ohne wegen einer seiner Flops gefeuert worden zu sein. Er trieb sich mit abenteuerlichen Erfindertypen aus ganz Asien herum und bekam rote Ohren, wenn er mir nur schon von Privatparties in Teheran, Kuala Lumpur, Guangzhou oder Taipei vorschwärmte. »Ich habe mich letztes Jahr mit Ornithologen angefreundet, ein Biodiversitäten-Projekt der Firma. War schon ein paar Mal an Wochenden mit ihnen unterwegs zu Brutplätzen am Stadtrand.« »Deshalb deine Vögel!« »MAHINDRA hat eine Lizenz ersteigert und steigt in den Mobilfunkmarkt ein. Ich will alle Vogelrufe als Klingeltöne fest in die Geräte installieren lassen. Die Kunden werden einen Riesenspass haben, und die Vögel werden zu mehr als nur Vögeln.« »Avatare!« »Genau.« Er schnippte mit den Fingern. »Und die Benutzer wundern sich vielleicht, wo ihre Favoriten nisten und dass Helden unauffindbare Verstecke brauchen.« »Gute Idee!« sagte ich. Er lächelte stolz. Da ertönten zwei langgezogene Flötenlaute, es tönte wie süsses Miauen. Nach einer Pause wiederholte sich der Ruf. Rajit blickte auf das Display. »Der Ruf des Pirols«, meinte er aufgeregt, »ein goldgelber Vogel mit einem grossen, rosa Schnabel und einem schwarzen Augenband.« Ich blickte ihn an und stellte mir vor, wie der Vogel in seiner ganzen Pracht in Wirklichkeit aussah. Er nahm den Anruf an. »Amaal, was gibt's?« rief Rajit ins Handy. Er horchte lächelnd, während er mit der Hand über den Rand seiner Kaffeetasse strich. »Hab ich die vergessen, tatsächlich? ― sind also bei dir. Gut, ich komme sowieso gleich in Borivali vorbei und hole die Akte auf der Durchreise ab.« Rajit hängte auf. »Amaal ist für den Iran und die Türkei zuständig, nettes Mädchen, halb Französin halb Sikh. Sie ist hübsch, wär was für dich.« »Wohl eher für dich?« »Bin schon versorgt.« »Ich auch.« »Zuhause, aber alle Bleichgesichter haben hier eine indische Bibi.« »Seit wann bin ich ein Bleichgesicht?« Er lachte. Da ertönte das Gekrächze eines Raben. Rajit ergriff sein BLACKBERRY, die heiseren Schreie erstarben. Ich vernahm eine Stimme aus dem Gerät keifen. Der Ausdruck des Bezauberns wich aus Rajits Gesicht, er wirkte auf einmal gealtert. Die Stimme schimpfte in einem fort. »Nein«, widersprach er, »das Geld ist auf ihrem Konto ― Mehr? Das war so nicht vereinbart. ― Wohin?« Dann wurde das Gespräch plötzlich abgebrochen. Rajit hängte ebenfalls auf. Ein Hupsignal ertönte vor dem GYPSY. »Jaganath. Gehen wir«, sagte er. Der Kellner erschien und Rajit beglich die Rechnung. Wir verliessen das Lokal. Unser Jeep wartete am Strassenrand davor. Jaganath, ein hageres Männlein mit Hornbrille und pomadisiertem Haar hielt uns die Wagenschläge auf. Dann fuhren wir los, spurten in die Lady Jamshedji Road ein, einer Verbindungsachse Richtung Norden, wo auch der Nationalpark lag. Rajit hatte sein Fenster heruntergekurbelt und sah schweigend zum Fenster hinaus. Der Jeep steuerte in dichtem Verkehr durch das muslimische Viertel von Mahim. Hoch oben schepperte aus Lautsprechern die Stimme eines Muezzins. Auf dem Gehsteig wälzten sich Menschenmassen auf und ab. Bärtige Männer zogen an Stricken Ziegen hinter sich her. Wir querten auf einem Viadukt den Mahim Creek, ein seichter Meeresarm zwischen zwei Vierteln, der sich landeinwärts verjüngte und als Fluss meilenweit bis zu einem See am Rand des Nationalparks fortschlängelte. Am Ende der Brücke kam eine gewaltige Kreuzung in Sicht. Wir stoppten vor einer Ampel. Vom Creek wehte beissender Kloakengestank herüber. Ich hielt mir die Nase zu. Rundherum flimmerte staubiges Ödland. Gigantische Plakatwände warben für das Konzert einer amerikanischen Hardrockgruppe. Der weit aufgesperrte Mund des langmähnigen Sängers gleisste im harten Sonnenlicht. Um uns wuchsen Autos, Busse und Lastwagen zu einer nach Diesel stinkenden Blechmasse an. Bettler tauchten hinter dem Strassendamm auf und quetschten sich zwischen die still stehenden Gefährte. Ein verkrüppelter Mann auf einem fahrbaren Untersatz kratzte an unserer Wagentür. Jaganath warf ihm durchs Fenster einen strengen Blick zu. Dann verjagte er den Bettler mit einem Fluch. Er drehte sich zu mir um und meinte: »Der Kerl macht an einem Tag mehr Geld, als ich in einem Monat.« Er lachte freudlos. Rajit sagte nichts und starrte weiter zum Fenster hinaus. Ein kaum zehnjähriges Mädchen kam zu unserem Jeep, sie trug einen apathischen Säugling an der Brust. Ihr Gesicht war von einer dicken Schmutzkruste bedeckt. Ihr Blick war hart, wie der einer Greisin. Sie blieb vor meinem Fenster stehen und führte mit langsamer Geste ihre zierliche Hand zum Mund. Ich klaubte fünfzig Rupien hervor und reichte sie durchs Fenster. Im Rückspiegel sah ich Jaganaths verächtlichen Blick. Das Mädchen musterte mich kurz, riss mir das Geld aus der Hand und huschte fort. Die Luft war erfüllt von heissem Staub und dem Knattern ungeduldiger Motoren. Lichtstrahlen und Lärmfetzen kreisten wie im Taumel und für Sekunden verlor ich das Gefühl für Ort und Zeit. Da sprang die Ampel auf grün und der Verkehr rollte an. Die Bettler flohen nach beiden Seiten hinter den Strassendamm. Wir fuhren einen Flyover empor. Linkerhand schwebten die Minarette der grossen Moschee von Bandra in einem weiten Bogen vorbei. Die Überführung mündete wieder auf Bodenhöhe in den WESTERN EXPRESS Highway. Drüben, jenseits des trüben Meeresarms, dem wir entlangfuhren, lag das Gewimmel des Slums von Dharavi mit seiner Million Einwohner. »Ohne Dharavi, kein Bombay«, murmelte Rajit, »steht das finstre Herz still.« Doc Sis sagte, Dharavi sei der Darmtrakt der Stadt und hielte die Hirnströme der City aufrecht. Sie war Rajits Schwester und praktizierte als Hepatologin im Tilak Municipal Hospital in Sion südlich des Slums. »Grosser Ameisenhaufen, machen Geschäfte mit jedem Dreck.« Rajit wälzte zusammenhangslos Worte wie Kiesel in einem Flussbett. In einer Zeitung hatte ich gelesen, dass geplant war, ganze Slums umzusiedeln. Die Bodenpreise an ihren Standorten waren über die Jahre in astronomische Höhen geklettert. Für die Bewohner waren am Stadtrand baufällige Bidonvilles vorgesehen, ohne funktionierende Kanalisation und Stromversorgung. Die durchgestochenen Baupläne steckten voller Konstruktionsfehler. Wie indische Strassenkehrer den Dreck von einer Ecke in die andere wischen nannte Rajit diese Art, eine Sache abzuwickeln. »Zu zäh und clever diese Untermenschen, und in der Überzahl«, hörte ich ihn wieder murmeln. In Dharavi wurde um wertvolle Stimmen geschachert, allein dort siedelten hunderttausende Wähler. Rauchschwaden stiegen über der Gegend zum Himmel. Jaganath jagte den Jeep über die Fahrbahn. Den Highway säumten Fabrikgebäude, Lagerhallen und Mietskasernen. Tempel flogen am Fenster vorbei, Wimpel flatterten im Wind. Wir fuhren in einem Bogen um den internationalen Flughafen. Nach halbstündiger Fahrt zweigten wir vom Highway ab und steuerten durch Borivali, eine Vorstadt mit Industrie, Wohnkästen und Hüttensiedlungen. Endlich hielten wir vor dem Campus von MAHINDRA. Ich wartete im Jeep, während Rajit zu seinem Vögelchen eilte, die Akten zu holen. Dann ging es auf Nebenstrassen weiter. In der Ferne zeichnete sich ein langgestreckter Hügelzug ab. Wir nahmen eine schmale Schotterpiste, die auf eine Gruppe bewaldeter Kuppen zuführte. Der Weg wand sich alsbald einen waldigen Hügel empor. Zuoberst kamen wir aus den Bäumen heraus. Vor uns leuchteten rötliche Felsen in der Sonne. Jaganath hielt den Jeep an ihrem Fuss an. Ich konnte von weitem erkennen, dass die Felsen komplett ausgehöhlt waren. »Die Mönche haben ganze Wohnungen hineingehauen, sogar Tische und Bänke!« rief Rajit. Wir stiegen aus und hielten auf die verwaiste Felsanlage zu. »Pass auf im Gras. Da können Kobras sein.« »Spassvogel«, sagte ich. »Nicht im BLACKBERRY.« Wir erklommen eine Anhöhe. Vor unseren Blicken erstreckte sich meilenweit eine waldige Hügellandschaft. Die antike Anlage wirkte idyllisch, wie aus einer anderen Welt, anders als die gegenwärtige Stadt, die wie ein mottendes Feuer in weiter Ferne vor uns flimmerte. »In der Nacht streichen hier Leoparden herum«, sagte Rajit, »und reissen unten in den Slums von Borivali Haustiere und Kinder, die unbeaufsichtigt rumrennen.« »Wie in einem bösen Märchen«, sagte ich. »Wie in einem bösen Märchen«, murmelte er.

Schwarz das Band des Flusses

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