Читать книгу Ins All - Im Eins - Rainar Nitzsche - Страница 8
Reise durchs Sonnensystem
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Im Orbit
Öffne die Au...
Da sind keine Augen und kein Kopf - kein Menschentierpflanzenkörper. Und doch ist er da, für Menschenaugen unsichtbar. Er sieht, hört, riecht, schmeckt und fühlt mit all den Sinnen der Erdenwesen, die er einst war, mit den Sinnen der Menschen, ihrer Vorfahren und all der anderen Säuger, aber auch mit denen vor ihnen: Reptilien, Amphibien, Fische und mit denen, die sich parallel zu ihnen entwickelten und sich im Federkleid als Vögel erhoben. So ist er weder Mensch, Androide noch K. I. (Künstliche Intelligenz), sondern ähnelt mehr einem Vertreter der neuen Art, die morgen schon zwischen den Sternen im kalten All, in bläulicher Schwärze mit Funken von Licht, existieren wird.
Wer?
„Der, der einst Manfred der Magier war“.
Welch langer Name für einen Toten! Nennen wir ihn der Einfachheit halber weiterhin „Manfred“.
Manfred ist nun wie Horus der Falke, wie der in der Ferne, der alles sieht. So schaut er sich zunächst einmal in der Umgebung um und erblickt ein sonnensegelbestücktes Gerät, das nicht das erste seiner Art ist, aber nun schon seit siebzehn Jahren im Erdorbit schwebt.
Gewaltig ragt es vor mir auf, der ich nicht viel mehr als ein Staubkorn bin und zudem auch noch fast materielos. Erinnere mich. Einst sah und hörte ich die Meldungen, las ich in Büchern und im Internet seinen Namen: Hubble-Weltraumteleskop. Acht Jahre, bevor meine Reise begann, 1990 wurde es mit einem Space Shuttle, einer Weltraumfähre namens Discovery, in den Erdorbit gebracht. Doch die ersten Fotos von den Sternen, die ohne störende Erdatmosphäre alles bis dahin Gewesene in den Schatten stellen sollten, enttäuschten. Erst drei Jahre später gab es mit korrigiertem Spiegelsystem jetzt scharfe, im infraroten, sichtbaren und ultravioletten Bereich aufgenommene Bilder von den Sternen. Und auch ich bin nun nicht mehr an Menschenaugen gebunden, kann jetzt über das gesamte Spektrum hinweg die Sterne sehen, wenn ich es will. Doch noch bin ich wohl sehr erdgebunden, schaue Hubble an, erinnere mich daran, dass es in 590 Kilometer Höhe die gute alte Mutter Erde umkreist. Aha, da weiß ich ja nun, wo ich bin. Gab es da nicht einmal eine Zeit in meinem Leben, wo ich hoch hinaus wollte? 590 Kilometer ist doch schon was - für den Anfang.
Dann hänge ich mich mal an Hubble dran - gar nicht so einfach, fast substanzlos Halt zu finden - und kreise in anderthalb Stunden einmal um die Erde. Das hat doch was und wäre was fürs Guinnessbuch, wenn denn eine lebende Seele davon erführe: die erste Hubble-Toten-Erdumkreisung. Andererseits, woher weiß ich mit Sicherheit, dass ich der Erste bin? Könnten ja in den letzten Jahren noch andere verstorbene Magier hier oben gewesen sein, vielleicht auch menschliche Seelen von Nichtmagiern. Andererseits hat jedes Wesen seine speziellen Gelüste, und über Geschmäcker lässt sich bekanntlich nicht streiten. So bin ich vielleicht doch die erste körperlose Seele hier.
Für die Ewigkeit ist Hubble nicht gemacht, fällt mir ein, soll irgendwann in den Ozean fallen. 2013 soll es durch das neue „James Webb Teleskop“ ersetzt werden. Schöne Aussichten im wahrsten Sinne des Wortes, wenn auch nur in Infrarot, für alle Menschen die jetzt dort unten leben und bis dahin geboren werden. Wo aber und vielleicht auch was mag ich dann sein?
Ach ja, die Lebenden, all die vielen Milliarden dort unten mit ihren vielen alltäglichen Sorgen, was kümmern sie mich eigentlich noch! Ich bin ja tot, gestorben und begraben. Loslassen heißt jetzt also die Devise, die Erde verlassen, hinfort schweben.
Oder aber wiedergeboren werden, eingehen ins Licht?
Das sehe ich nicht - noch nicht oder nie, das ist hier die Frage - oder ist sie es nicht?
Wie auch immer, ich löse mich von diesem Menschenwerk, das in tiefste Weiten, also älteste Zeiten sieht und uns Menschen lehrte, wie sich Galaxien entwickeln, Supernovae ausdehnen, und das Schwarze Löcher in den Kernregionen naher Galaxien fand.
Menschen?
Keine Magierseelen, doch einige wenige Menschen aus Fleisch und Blut müssten eigentlich für kurze Zeit hier oben gewesen sein?
Nein, im Hubble wohnen sie nicht, das holten Astronauten zwecks Reparatur in die Ladebucht ihres Shuttles.
Aber da war doch was. War da nicht einst einmal eine, waren es gar mehrere?, da gibt es doch hier in der Nähe wieder eine große ... So ein Ding, dessen Name mir einfach nicht einfallen will.
Unter mir strahlt herrlich blau und unvergesslich meine Menschenheimat Erde: blau, blau, blau. Und weiße Wolken wehen darüber hin. Ein wenig rot und braun, das ist Afrika, der Norden, die große, wachsende Wüste, Sahara, Sahel. Moyo, ich denke an dich, dort lebst du noch immer und lebst du doch nicht, sondern auf einer parallelen Erde, du und unsere Kinder Rani und Ra. Wolken verdecken Afrikas Zentrum. Das ist dein Ursprung, Moyo, und der der Menschheit, das einst so fruchtbare, damals vertrocknende Land. Und darunter der Süden, heute ist er trocken und klar zu erkennen. Wie war er gestern - wann? Wie wird er morgen sein? Erde, das ist zwei Drittel Meer mit Wolken darüber und hellem Wüstenland. Wer sie einmal sah, vergisst sie nie wieder bei all dem Gelb, Rot, Grau und Schwarz der anderen Planeten und Monde, die noch auf mich warten. Ob sie wirklich so sein werden, wie ich sie während meines Lebens dort unten auf Erden nur auf Fotos sah?
Manfred bewegt sich, schwebt, ein wenig leuchtend, mit silhouettenhaftem Menschenkörper, fast materielos, im Orbit lautlos dahin, gestorben und doch voller Energie. Dann hat er die andere, die dunkle Seite, die Erdennacht erreicht.
In der Ferne leuchten Sterne. Nah und klar, gigantisch groß strahlt hell die Volle Mondin, nicht weiter als einen Katzenmagiertotensprung entfernt. Erinnern: Fantastisch klar war der Himmel einst dort unten nur in den Wüsten und über den Wolken in den Höchsten Bergen der Erde. Dort aber funkelten die Sterne hinter der Atmosphäre. So scharf und klar wie jetzt sah ich sie mit Menschentieraugen nie. Denn hier oben sind weder Smog, Wolken noch Atmosphäre. Auch sehe ich hier die Volle Mondin in allen Farben und Spektren, ich sehe sie groß und nah und winzig klein zugleich. So ist mein optischer Sinn mehr als die Summe aller Teile der Wesen, die ich war, die vor mir waren, die neben mir dort unten lebten.
Noch einmal schaue ich zurück. Tausende Lichter flackern dort unten. In einer von diesen, ach nein, es waren ja mehrere, lebte einst auch ich. Hatten sie alle unterschiedliche Namen? Erinnere mich nur noch an ein Wort für all diese Lichtermeere. Ja, ein Name ist es, der für all diese Welten steht, in die ich geboren wurde, wo ich aufwuchs und vieles lernte, die ich einst verließ, ganz zu Beginn meiner großen Reise mit Namen „Leuchtender Pfad“, der mich führte, dem ich durch Wald und Nebel-Land, über Steppen hinweg bis zu den Höchsten Bergen folgte, wo ich schließlich starb, dieser Name lautet Stadt. Nun lausche ich von hier oben den Stimmen der Städte, ja, das ist der Plural von Stadt, ich erinnere mich. Alle sind sie so verschieden, wie die Menschen, die sie schufen. Keine Stadt ist wie die andere. Alle zusammen aber bilden sie einen Chor, der dort unter mir pulsiert und singt.
Noch andere Dinge entdecke ich nicht so fern nun unter mir. Weit nach oben schießen „Kobolde“ empor. Rot leuchten diese fantastischen Gestalten, auch wenn es „nur“ Blitze sind, über blauen Gewitterwolken.
Das alles geschieht - jetzt, in diesem Augenblick.
Dann aber sehe ich IHN in mir. ER, der Nairra fand und tötete, ER, mit dem ich meinen letzten Kampf auf Erden focht und der mir mein Leben nahm. Dann sehe ich IHN in den Nordlichtern weilen. Äonen lang wohnte ER, der aus den Wassern des Meeres kam, in den Wolken, zog bei Nacht im Mondinlicht über die Erde dahin. So viele Wesen höre ich vor Angst und Furcht, vor Schmerz und Pein unter SEINEM Schatten schreien. So viele Augen erblickten SEIN Wetterleuchten, wenn ER sich als Blitz in der Wolke entlud, sahen IHN von Wolke zu Wolke springen. Die meisten Wesen aber wussten nicht, wer ER war, doch spürten sie die Gefahr, versuchten zu fliehen und entkamen IHM nicht. Menschen gab es damals noch nicht. Eines Nachts sprang ER wieder hinab, so wie ER hinaufgelangt war. Als Blitz zwischen Wolken und Erde spaltete ER den großen Baum im Norden Australiens. Dann blieb ER dort unten und durchquerte in vielerlei Gestalt die Kontinente der Welt, die wir Menschen Erde nennen.
Das alles geschah, das alles war, das ist vergangen.
Das alles existiert für immer und ewig - noch immer unerreichbar für den Menschengeist, nicht aber verschlossen für mich.
Ich sehe es in mir.
Weil ich tot bin und mein Menschsein hinter mir gelassen habe?
Weil ich ein Magier war und bin?
Weil ER und ich für immer verbunden sind?
Oder aber weil Er Dort Oben über mir es so will?
Dort Oben kann ich nicht hin. Also schaue ich nun nicht mehr zurück, nicht mehr hinauf in andere Dimensionen, schaue ich mich weiter in meiner Umgebung um. Überall schwirren Satelliten herum, die militärischen, GPS – Ortsbestimmung und Navigation auch für zivile Verkehrsmittel, die Fernsehsatelliten, die Hunderte von Programmen ausstrahlen und von den kleinen Satellitenschüsseln auf den Häusern und den großen fürs Kabel-TV empfangen werden. Viele Erdendinge aus dem beginnenden 21. Jahrhunderts, die für die Menschen dort unten, die Lebenden, ungeheuer wichtig sein mögen, haben für mich, der ich hier oben über all diesen Dingen körperlos schwebe, keine Bedeutung mehr.
Halt, eine Sache fällt mir noch ein: Der erste deutsche Satellit zur Oberflächenerfassung schwebt hier irgendwo. „Deutsche, Deutscher“? Ja, das war ich ja einmal, so heißen die Menschen in einem kleinen Land, das mitten in Europa liegt, also im Westteil des großen Kontinents Eurasien. Einst soll es sogar zwei Deutschlands gegeben haben, sehr eigenartig, kaum zu glauben. Und davor ein Deutsches Reich. Und Jahrhunderte früher viele kleine Fürstentümer, die sich alle eifrig bekriegten. Das müssen ja irre Zeiten dort unten gewesen sein. So viel Leid, Zerstörung und Tod, überall und immer wieder.
Und erst die vielen Trümmer, Raketenteile hier oben - Weltraumschrott. Es führt kein Weg daran vorbei: Irgendwann muss hier einmal gewaltig aufgeräumt werden, muss die Menschheit daran gehen, ihren Müll mit automatischen Systemen einzusammeln und zu recyclen. Es muss geschehen, um zukünftige Katastrophen zu verhindern. Und wäre es bereits getan worden, hätten Astronauten in diesem Jahr keine Schutzschilde an der neuen Weltraumstation anbringen müssen.
Ach ja, „Weltraumstation“, das war das Wort, was mir vorhin nicht einfallen wollte. Als Frischverstorbener vergisst man wohl doch ziemlich viel vom Leben vor dem Tod.
In der Station müssten Menschen leben. Da schaue ich doch mal schnell vorbei.
Kaum daran gedacht, da taucht sie auch schon unter mir auf: die noch immer unvollendete, erste internationale Raumstation der Menschheit, die den Namen ISS trägt. Allein schwebt sie dort über der Erde, so wie einst eine andere mit Namen MIR (Frieden).
„Nach fünfzehn Jahren und 16 000 Experimenten im Orbit kehrte diese 2001 in den Schoß von Mutter Erde zurück, verglühte, Restteile stürzten in den Südpazifik“, flüstert die Stimme in mir.
Dann prasseln Informationen zur ISS, die mich gar nicht interessieren, auf mich ein, wie etwa: „Andere Namen trug sie einst: Alpha, Isis und Freedom. Seit 1998 gibt es sie hier oben, zunächst war da nur das Fracht- und Kontrollmodul Sarja.“
Welch seltsamer Zufall. Das war ja das Jahr, als ich von einem Stammtisch in der kleinen Stadt Kaiserslautern aufbrach und meinem Leuchtenden Pfad folgte, der mich immer weiter nach Osten in den Himalaja und über meinen Tod hinaus schließlich hierhin führte. Aber wenn das so war, woher weiß ich dann Dinge, die dort unten auf Erden in den folgenden Jahren in den Städten verkündet wurden, so zum Beispiel die Sache mit den neuen Schutzschilden für die ISS? Ach ja, Er Dort Oben wusste es und flüsterte es mir ein, wer sonst. So muss es gewesen sein.
Und wieder spricht seine Stimme in mir: „Langsam nur schreitet der Bau der Raumstation voran, denn die amerikanischen Shuttles fielen für viele Jahre aus. Hauptsächlich scheint sie aus Solarsegeln, 4500 m² trapezförmigen Platten, die der Energiegewinnung dienen, zu bestehen. Dabei sind doch die zylindrischen, rechtwinklig montierten Module, Knoten und Andockstationen im Zentrum das Wesentliche.“
Und wie vor kurzem mit Hubble, so kreise ich nun auch mit der ISS mit 29 000 km/h alle 90 Minuten einmal um die Erde. Allerdings bin ich ihr wieder nähergekommen. Lächerliche 360 km trennen mich von ihr.
Jetzt flüstert die Stimme mir wieder Namen zu, die irgendetwas auf Erden bedeuten mögen: „ESA, Japan, Kanada, NASA, Russland.“
Begeistert denke ich: „Das ist ja das größte zivile internationale Projekt der Geschichte, - bisher natürlich und nicht das größte aller Zeiten, wie es, soweit ich mich erinnere, da unten jedes Jahr aufs Neue heißt.
Dann aber frage ich mich, wo denn die anderen Nationen sind, denn da waren doch noch viele mehr. Warum sind denn sie nicht mit dabei? Sind sie etwa zu arm? Gibt es da unten auf Erden nicht so etwas wie eine Organisation der Vereinten Nationen, UNO heißt die wohl? Wieso baut sie, bauen alle Menschen der Erde nicht an diesem großen Werk mit?
Doch meine Gedanken interessieren die Stimme in mir wohl nicht. Denn sie spricht einfach weiter: „Zwischen November 2000 und April 2003 lebten hier permanent drei Menschen, die nach fünf bis sieben Monaten von anderen abgelöst wurden. Nach dem Unglück der Raumfähre Columbia wurde die Besatzung auf zwei Personen reduziert und der weitere Ausbau erst einmal gestoppt. Lediglich die Versorgung der Station wurde durch russische Versorgungsschiffe sichergestellt. In ihrem Endausbau wird die ISS mit 80 Metern Länge die größte Raumstation sein, die jemals gebaut wurde. Bereits jetzt ist sie das größte und das leuchtstärkste künstliche Objekt im Erdorbit. Neben der eigentlichen Raumstation werden zu dem Komplex noch ein Personentransportsystem, ein europäisches Raumschiff und mehrere Rettungsfahrzeuge gehören.“
Doch nun ... sieh an, da kommt ja gerade eine amerikanische Raumfähre, ein Space Shuttle, geflogen.
Die werden wohl jemanden bringen und andere zur Erde zurück mitnehmen. Auch Nachschub haben sie sicherlich an Bord. Ach ja, dort unten feiern die Christen der römisch katholischen Kirche und auch die Protestanten, alle Christen der ehemaligen Westkirche heute am 24.12. Weihnachten, die Geburt von Jesus Christus, ihrem Erlöser und Gottes Sohn. Erinnere mich oder ist es die Stimme in mir, die es mir zugeflüstert hat?, Weihnachtsmänner aus Schokolade von der Erde bekommen die russischen Kosmonauten geschenkt, die jetzt fotogen schöne rote Mützen tragen, auch wenn die orthodoxe Kirche erst Anfang Januar Weihnachten feiert und unter ihnen auch Atheisten sein mögen. Doch was spielt das hier oben schon für eine Rolle!.
Da ich nun so vieles weiß, schenke ich es mir, bei den Kosmonauten, Astronauten oder wie auch immer sie sich nennen mögen - Taikonauten soll es ja auch noch geben - Namen, nichts als Schall und Rauch, in der ISS zu erscheinen.
Dann frage ich mich aus welchen Gründen auch immer noch, ob die ISS wirklich jemals vollendet sein wird.
Ja, ich nehme es an, wenn auch wohl Jahre später als geplant. Auch menschliche Weltraumkolonien auf dem Mond, dem Mars und andernorts gibt es ja noch nicht, obwohl sie nach früheren Vorstellungen längst existieren sollten. Muss wohl an den Kriegen liegen, die irre Führer großer Nationen dort unten noch immer gegen kleine Länder und Guerillas führen.
„Ja“, meint die Stimme in mir, „das freut die Rüstungsindustrie, führt zum Staatsbankerott und der Weltraumforschung fehlen die Mittel.“
Werden andere Weltraumstationen anderer Staaten, Konzerne oder gar der UNO dieser derzeit einzigen folgen?
Wie viele und wann?
Werden sie und die anderen eines Tages Stationen im Orbit einer geeinten multikulturellen Erde ohne Nationalstaaten sein?
Oder werden die Kriege und Rivalitäten heutiger Staaten dann durch die der multinationalen Konzerne ersetzt, wie wir es aus Science Fiction-Romanen und -Filmen kennen?
Ich lasse die ISS hinter mir, spiele nicht Geist für die Menschen, die dort für kurze Zeit mit all ihren zum Überleben ihrer Körper nötigen Maschinen wohnen, auf dass sie sich nicht noch zu Tode erschrecken.
Sie leben.
Ich aber ...
Der Gedankenstrom verebbt.
Stille kehrt ein.
Ein Abschied von den Menschen.
Ein Abschied von der Erde, die mich gebar, auf der ich lebte und - starb.
Dort unten sind meine sterblichen Körperreste zerfallen und begraben.
Dort unten bin ich in den Kreislauf der Stoffe eingegangen.
Dort unten bin ich tot.
Hier oben habe ich mich nun von der Erde verabschiedet. Hier beginnt meine Reise zu den Sternen: durchs Sonnensystem, unsere Galaxis und den „leeren“ Raum hin zu fernen Welteninseln. Weiter und immer weiter durch so viele Universen in diesem Multiversum und ..., denkt träumend meine Seele, die alles ist, was blieb, mit der ich mir als ehemaliger Menschenmagier Körper bilden kann, so viele und wann immer ich will.
Eine unsichtbare Träne weine ich aus materielosem Auge, denn wo kein Körper ist, sind weder Wasser noch Salz.
Dann springe ich lachend davon, dem hellen runden Licht entgegen, das dort nicht allzu weit entfernt seit Jahrmilliarden Jahren leuchtet.
Mondin
Du schaust empor
Schwärze - dunkle Linien siehst du
im gelben Licht der leuchtenden Scheibe.
Die Mondin schreit in deinen Augen.
Du schaust empor - noch immer gebannt.
Ewig wirst du hier stehen - ewig und starr,
während die Wölfe sich sammeln.
Geschah es nicht einst einmal? Sah ich nicht immer wieder in all den Nächten staunend mit offenem Mund und weinender Seele zu ihr hinauf? Waren da wirklich Wölfe, die sie dort oben anheulten?
Achtzig Jahre lebte ich unten auf Erden und wandelte bei Nacht unter ihrem Licht dahin. Jetzt nach meinem Tod gibt es nur noch den einen Gedanken: endlich hin zu ihr.
Kaum gedacht ist’s schon geschehen. Ich bin dort, umkreise sie - noch schüchtern und zaghaft in gewisser Distanz. Jetzt bin ich ein Satellit, ihr nah wie nie zuvor. Schaue mir zunächst von oben die Krater an. Das hat schon was, so ganz allein hier zu sein.
Dann lande ich auf der Mondin bei den ersten Menschendingen.
„Mare tranquilitas - Meer der Ruhe“, flüstert die Stimme in mir.
Doch nicht nur hier ist’s auf der Mondin still, der eine Atmosphäre fehlt.
Aha, das also ist der erste Landeplatz, an dem ein Adler, der kein Adler war, eine Landefähre namens Eagle niederging. Erinnern: 21.07.69. Neil Armstrong war der erste Mensch hier oben - von dem wir wissen. Vielleicht brachten Aliens vor Zeiten andere Menschen her. Mag auch sein, dass es einst uralte irdische Kulturen gab, die noch zu entdecken sind, die die Raumfahrt beherrschten und uns vorausgingen - in Ruhm und Untergang. Auch Amerika wurde nicht von Kolumbus entdeckt. Wie auch immer, was auch immer einst geschehen sein mag, Armstrong blieb zwölf Stunden, sammelte Gestein, stellte einen Seismografen zur Bebenmessung auf und einen Laserreflektor, mit dem der genaue Abstand Erde - Mondin gemessen wurde. Ja, ja, pro Jahr entfernt sie sich um drei Zentimeter von der Erde. Das wissen wir nun. 1972 waren die letzten Menschen hier. Wann aber werden die Siedler kommen?
Ach ja, die werden ein paar Dinge zu lösen haben: Keine Luft, viel Strahlung, und dann ist da noch der Muskelschwund, ein großes Problem für an die irdische Schwerkraft angepasste Körper - für Lebende, aber nicht für Tote, für lebende Seelen wie mich.
Also schaue ich mich in Ruhe mit meinen neu geschaffenen, mit dunkler Nickhautblende überwölbten Menschenaugen um. Als Toter habe ich ja Muße, „unendlich“ viel Zeit. Kein ER ist hinter mir mehr her. Das hat doch was!
Und was haben wir denn da? Müll oder wertvolle Antiquität?, das ist hier die Frage. Nun ja, auf jeden Fall kein Souvenir für mich. Da ist zunächst einmal eine Flagge, die im Erdenwind wehen soll. Wie niedlich! Und wie die aussieht: ein lustiges Fähnchen mit Streifen und Sternchen drauf, kitschig blaurotbunt, die wohl irgendwas irgendwo auf Erden bedeuten mag. Ach ja, Seismometer und Laserreflektor sind auch noch da. Und da ist ja das Landegestell, das die erste Mondfähre hier bei ihrem Rückstart zur im Orbit kreisenden Kapsel zurücklassen musste. Wieder eine Menge Müll, der eigentlich hier nicht hingehört, könnten zukünftige Umweltschützer sagen.
Andererseits war ja der erste Schritt auf einen anderen Himmelskörper ein Meilenstein für die Menschheit. Ich sehe die Zwölf vor mit, mit ihren Körpern in dicken Schutzanzügen. Ja, zwölf Lebende gingen mir voraus - der Seele eines Toten. Millionen Menschen werden folgen. Stille und Reglosigkeit waren ihre ersten Eindrücke - und die totale Schwärze jenseits der hellen Wüstenoberfläche. Die Gesteinsbrocken, die sie einsammelten und hinunter zur Erde brachten, waren 4,5 Milliarden Jahre alt und identisch mit denen der Erde. Und so entstand ein neues Bild unserer fernsten Vergangenheit. Hier landeten die ersten Menschen. Also werden hier ein Denkmal, ein Museum und Souvenirshops entstehen. Scharen von Touristen werden mit Shuttles hierhergekarrt werden und staunend alles betrachten, zumindest die, die Körper tragen und sich noch fortbewegen. Ich höre den Androiden, der die Touris führt, sprechen: „Meine Damen, meine Herren, liebe Kinder. Stellt euch vor, drei Tage dauerte damals die Reise der ersten Menschen hierher. Apollo hieß das Programm nach dem lateinischen Namen für den griechischen Gott Apollon, der aus Kleinasien stammte, als Kind den Python tötete und die Delfine so liebte wie wir alle. Ganze zwölf Menschen schafften es Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, mit viel Aufwand ihre Körper hierher zu bringen. Ich nenne Ihnen die unvergesslichen Namen, die Sie vermutlich längst schon kennen, in der Reihenfolge, in der sie die Mondin betraten: Neil A. Armstrong, Edwin E. „Buzz“ Aldrin, Charles P. Conrad, Alan L. Bean, Alan B. Shepard, Edgar D. Mitchell, David R. Scott, James Irwin, John W. Young, Charles Duke, Eugene A. Cernan und Harrison H. Schmitt. Und was fällt Ihnen bei all diesen Namen auf? Richtig. Sie klingen alle englisch. Es waren Amerikaner, Nordamerikaner, Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika, kurz USA. Ja, und alle waren Männer. Doch diese Zeiten sind ja bekanntlich vorbei. Es gibt keine Staaten mehr. Hier und auf Erden sind Männer längst in der Minderheit, angesichts all der Frauen, Kinder, Hunde und Androiden. Selbst Insekten und Spinnen leben nun hier in den Kolonien.“
„Und Katzen!!!“, schnurrt es empört und gewaltig von oben und unten und außen und innen zugleich. Das Universum erzittert.
Das weckt mich aus meinen Träumen. Bin wieder ganz im Jetzt und Hier. Alles ist öde und leer bis auf die Relikte der ersten Landung. All diese größeren Dinge und ... Da war doch noch was. Las ich nicht einst von einem goldenen Lorbeerblatt als Friedenszeichen, das hier zurückgelassen wurde? Was hatte denn das für einen Sinn auf einer öden Welt?
Ich schwebe davon, suche mir unberührte Natur und lege mich mit meinem transparenten Körper hin, fließe in den Sand, verschließe alle Sinne, stelle alles Denken ein.
Und die bekannte Stimme in mir singt mir träumend ganz außer sich zu: „Mondin, Schwester der Erde, kleiner Teil, der um den großen kreist, der unser aller Mutter ist. Durch dich, Manfred, bin ich ihr nun so nah wie nie zuvor, ihr, die ich einst auf Erden in den Nächten nur winzig klein am Himmel sah. Jetzt endlich liege ich in ihrem Schoß.“
Und dieses Lied lässt mich Mondin werden. Ich stehe auf und schaffe mir einen festen Mondinkörper.
Und das geht nicht, indem Manfreds Seele sich einfach so in Materie umwandelt, denn aus dem bisschen Seelenenergie lässt sich nicht viel Form, Gestalt, Körper bilden. Wie wir alle wissen, ist es ja gerade umgekehrt, dass im winzigsten Atom Unmengen von Energie stecken (E=mc²). Der Trick ist der: Manfred sammelt aus der Umgebung Materie, saugt sie ein, saugt sie auf, formt daraus einen neuen Körper und haucht ihm eine, seine Seele ein. Also ist er Schöpfer und Kreatur zugleich, schafft sich selbst nach seinem Ebenbild.
Zu einem Riesen von sechsfacher Menschengröße bin ich nun geworden. Zwerge wären menschliche Astro-, Kosmo-, Taikonauten und wie auch immer sie sich nennen mögen, wären sie jetzt hier bei mir. Ich schaue in den klaren Sternenhimmel empor und sähe mit Menschenmondinaugen keinen einzigen Stern, sondern nur Schwärze über weißer Landschaft - kein Himmelsblau wie auf Erden, denn hier gibt es fast keine Atmosphäre, keine Farben außer der einen in der Landschaft, denn hier fehlen Meere und Seen, Pflanzen und Tiere. Weiß und Schwarz sehe ich. Doch ich sehe mehr als Schwarz dort oben, denn meine Seele ist in keinem Menschenkörper mehr gefangen. Also sehe ich die Sternenmeere, die noch so fern und schon bald mir so nah sein werden. Staunend schaue ich auf. Lange verharre ich so in Schweigen.
Abrupt werde ich aus meinen Träumen gerissen. Die Mondin bebt.
So baut sie all ihre Spannungen ab, denke ich, ja, so ist es, so und nicht anders. Ich stehe auf, drehe mich um und sehe - die Erde nun zum ersten Mal in meinem Leben über der Mondin stehen. Viel größer als die Volle Mondin von Erden aus, ja, und doch so fern und klein scheint sie mir nun zu sein, blau mit Weiß, wolkenbedeckt sehe ich nur die obere Hälfte von ihr.
„Neuerde“, wispert es in meiner Seele, die hier niemals auf- noch untergeht. Und doch gibt es hier eine Vierzehntagenacht, und doch gibt es hier auf der Vorderseite der Mondin eine totale Sonnenfinsternis, wenn der Sonn hinter der schwarzen Erde verschwindet“
Mutter Erde, Heimat, denke ich, werde ich dich jemals wiedersehen?
Und die Stimme in mir flüstert ergriffen nur den einen Satz: „wir ... menschen der erde lautete der Name meines ersten Buches.“
Das sagt mir gar nichts, müssen wohl Seine Erinnerungen sein, die von Ihm Dort Oben, meine jedenfalls sind es nicht.
Erde war. Sie und alles, was dort geschah, sind Vergangenheit für mich. Mondin ist die einzige und wahre Realität ringsum, die zählt. Und doch ist alles mit allem verbunden.
Ich steige von der Oberfläche auf, schaue weit über der Mondin schwebend hinab und sehe in mir rasend schnell - geraffte Zeit -, was einst geschah, sehe den marsgroßen Himmelskörper mit der Erde kollidieren, schaue die aus der Erdkruste und dem Mantel des Meteoriten in die Erdumlaufbahn geschleuderte Materie, sehe sie sich zusammenballen und die Mondin aus sich formen. Sie schmilzt, ein Ozean aus Magma bedeckt ihre Oberfläche. Er kühlt sich ab, die leichten Minerale bleiben oben und bilden die Oberfläche, die schweren sinken nach unten. Dann folgen Einschläge durch die Kruste, Krater bilden sich, Lava quillt empor, Maria entstehen. Menschen stellten sie sich einst als Meere vor, die dunklen Tiefebenen, die aus über drei Milliarden Jahre alten Basalten bestehen. Terrae heißen noch heute die Hochländer, die einst als Kontinente inmitten der Mondmeere galten. Sie sind mehr als vier Milliarden Jahre alt. Trockener, aschgrauer Mondinstaub, dieser besondere Sand aus zersplittertem Gestein und Kügelchen aus Glas mit Namen Regolith, bedeckt nun die gesamte Oberfläche, die großen Magmaebenen, Gräben, Rillen und Kettengebirge. Ich schaue zurück und sehe die Mondin sich abkühlen und schrumpfen und Faltengebirge sich bis in 10 Kilometer Höhe aufwölben. Mondrillen durchziehen die Oberfläche, gerade, gebogen und in Mäandern. Lava sehe ich in ihnen unter längst eingestürzten Decken fließen. Überall aber trägt die Mondin wie Pocken in allen Größen Krater auf ihrem Körper. Dann sehe ich einen winzigen Augenblick lang Astronauten mit Schutzanzügen, ihre Atemluft in sich tragen. Denn niemals entstand hier eine so dichte Atmosphäre wie auf Erden. Teilchen des Sonnenwindes umgeben mich. Kosmische Strahlung, die bis einen Meter Tiefe unter die Oberfläche reicht, durchdringt meinen Seelenkörper. Helium 3, fällt mir ein, wäre der Stoff für die Kernfusion der Zukunft, wenn es die denn gibt. Trocken ist die Mondin seit Beginn, auch wenn da Wassereisreste aus Kometen in Kratern an den Polen lagern, die niemals vom Sonn beschienen werden.
Ich schwebe wieder hinab. Seltsame Gedanken steigen zugleich in mir auf. So ist also alles, hier und da und überall, ein ständiges Auf und Ab, und gestern und morgen im Heute vermischt. Sah ich nicht einst auf Erden einen Regenbogen bei Nacht, aus Mondinlicht und Regentropfen gemacht? Betrachtete ich damals nicht auch im eisigen Winterdunkel den grüngelben Hof der Mondin? So war es doch!? Oder war es ganz anders? Ich weiß es nicht mehr. Sind es meine Erinnerungen oder die Seinen?
Was auch immer auf Erden geschehen sein mag oder auch nicht, eine im wahrsten Sinne des Wortes naheliegende Frage lautet doch: Werden hier oben auf der Mondin Städte entstehen?
Ich denke, ja. Und nicht nur auf der erdzugewandten Seite, sondern über die ganze Oberfläche und unter der Oberfläche verteilt, also auch dort, wo ich jetzt träumend im Sonnenlicht badend liege: auf der „dunklen Seite“, die der Erde niemals zugewandt ist.
Irgendwann erhebe ich mich wieder, steige auf, schwebe über der Rückseite dahin und nehme mit Menschen- und Nichtmenschensinnen alles dort unten wahr und in mich auf: Unmengen von Kratern, Hochländern und auch das gewaltige Aitken-Südpolbecken, kilometertief, gigantisch in seinen Dimensionen.
Was schlug hier wann wohl ein?
Dort liegt der große Krater namens Bailey mit einem Durchmesser von 295 Kilometern und 4000 Meter Tiefe, der sie sicherlich nicht erwartet, die eines Tages auf ihm herumtrampeln werden: die ersten Bergsteiger und Touristen.
Und da ist noch etwas anderes. Oh ja, ich kenne es ein wenig. Es ist ein Teil von dem, das auf dem Grund des Erdenmeeres liegt. Es ist von ES und ist es doch nicht. Es schlummert und träumt von Dingen, die kein Mensch, weder Geist noch Seele, jemals verstehen kann. Es träumt von seiner schwarzen Heimat T-her.
Und mir wird einiges klar, was ich niemals sah und was doch geschah. Ich sehe die Bilder von damals, von den Donnerpferden der Prärie, von den großen Knochen, die die Krieger fanden und andere später Dinosaurier nannten. Ich sehe IHN dort in der Nacht mit erhobenem Schwert stehen. Ich sehe in mir, was einst fern von hier auf Erden geschah: ER hält SEIN Schwert mit Namen MO empor. Nun glüht es auf, färbt sich rot in der heraufziehenden Nacht. Rote Flammenzungen züngeln ringsum, darin, aus IHM heraus. Sonst geschieht nichts.
So bleibt es lange Zeit.
Dann schießt ein Feuerstrahl aus der Klingenspitze in die schwarzen Wolken dort oben, die nun im Rot des noch immer untergehenden Sonn brennen.
Dies geschieht. Mehr passiert nicht.
Wieder vergeht Zeit.
Der Sonn ist längst versunken. Es ist Nacht. Noch immer steht ER dort still, zur Säule erstarrt. Von tiefstem und reinstem Schwarz ist SEIN Körper, und schwarz ist MO. Schwarz ist der Himmel - sternenlos, dort, wo SEIN Körper ihn verdeckt. SEINE Augen strahlen rot - glühende Sonnen in der Nacht. Hell scheint die Volle Mondin dort über IHM. ER und MO, längst schon eins, schimmern in mildblauem Schein. Dann und wann springt ein Blitz vom Schwert zur Mondin empor. Und auch von oben zu IHM hinab?
Jetzt verstehe ich. Kommunikation. ER schickte Signale aus. Zu wem?
Hier nun, fast eins mit der Mondin geworden, weiß ich, dass sie es nicht war, mit der ER damals sprach, sondern mit jemandem auf oder tief in ihr. Mittels der Blitze aus SEINEM Schwert sprach ER einst mit SEINER Schwester hier oben auf der „dunklen“ Seite der Mondin, mit IHR, die Millionen von Jahren älter war als ER. Wie aber gelangten die Blitze auf diese erdabgewandte Seite? Gingen sie durch sie hindurch, in dem sie sich in Schall verwandelten, die Mondin erbeben ließen und die Empfängerin erreichten? Nein. Sie bildeten einen Ring aus der gewaltigen Energie, die irdische Blitze in sich tragen, einen um die Mondin rotierenden Ring, der SIE suchte und hier an dieser Stelle, wo ich nun schwebe, fand und schwarze Feuerpulse zu IHR hinunter sandte. Und schwarze Blitze schickte SIE IHM auf dem gleichen Weg zurück, die kein Mensch sah und kein Erdenwesen außer ES und SEINEN Kindern wahrnehmen konnte.
SIE ist es, die ich dort unten spüre. Nein, SIE ist nicht mehr da. Dort lag SIE und schlief und träumte. Jahrmillionen ist es her, dass SIE die Erde verließ und sich hier zur Ruhe legte. So war es bis zu der Nacht, in der sie alle, ER und SIE in ES, nach T-her heimkehrten. Das aber ist noch gar nicht lange her.
Ich denke an den Tod, denn ER und SIE, beide gingen in ES auf. Ich denke an den Tod und weine. Wie oft tat ich es, als ich noch lebte! Nun bin ich selber tot, körperlos lebe ich doch und weine noch immer. Ach ja, da ist ein Unterschied. Damals waren da noch Tränen aus Wasser und Salz, die beide Wangen meines Menschengesichts hinabliefen. Jetzt weint „nur“ meine Seele.
Ich kehre auf die erdzugewandte Seite der Mondin zurück, doch lande ich nicht mehr, bin einfach nur da, schwebe über allen Dingen, und meine Seele atmet die Stille, die nirgends auf Erden mehr ist, seit es dort eine Atmosphäre gibt.
Ach ja, fällt mir ein: Die Schwerkraft, von der wir immer reden und die es gar nicht gibt, denn es ist ja die Raumkrümmung der Massen, die die Dinge an sich zieht, diese sogenannte Schwerkraft beträgt auf der Mondin bekanntlich nur ein Sechstel so groß wie auf Erden. Ich sehe die ersten Astronauten vor mir: Einer unter ihnen schlug hier einst einen Golfball 200 Meter weit. Ein anderer entdeckte, dass die Fortbewegung durch Kängurusprünge, wie es auch Menschenkinder gerne tun, hier einfacher als Laufen ist. Also hüpften hier einst Astronauten in ihren weißen, klobigen Anzügen über den Sand. Ich fand ja ihre Spuren. Ein kleiner Schritt für einen Menschen und ein großer Sprung für die Menschheit. So soll es doch ganz spontan einer gesagt haben?
Wie auch immer, auch ich könnte ja hier ein Zeugnis für meinen Besuch hinterlassen. Einen Körper besitze ich nicht mehr, doch alles ist nur eine Sache der Konzentration, von Gelassenheit, Stille. So lasse ich Steine sich schärfen, ha, die Steinzeit hat jetzt hier begonnen. Und mit einem Faustkeil, der eigentlich gar kein Faustkeil ist, denn ich bilde keinen Körper, also auch keine Hand, und forme keine Faust, mit ihm schreibe ich in den Stein:
FÜR ALLE MENSCHEN NACH MIR
Grüße von einem Toten,
der ewig lebt in allen Dingen.
Kommt in Frieden - Werdet endlich eins – Menschen!
Manfred
Ich schwebe zurück und schaue mir meine Worte an, die gewiss auch bald auf Erden bekannt sein und heftige Spekulationen über Aliens auslösen werden.
Werden?
Werden hier irgendwann zwölf Meter große, grazile Wesen leben, deren ferne Ahnen Menschen waren, die längst Kinder der Mondin sind, deren Körper nicht mehr für die Erde taugen?
Ich schwebe davon.
Noch einmal schaue ich zurück.
Wie seltsam dreigeteilt und verzerrt sie mir nun erscheint, die ich nie mehr im Le..., im Tode betreten werde.
Ich drehe mich um und sehe einen Wirbel vor mir, der immer größer wird.
Also komme ich näher. Oder nähert er sich mir?, frage ich mich noch.
Schwärze.
Nairras Tod und Wiedergeburt
Du hältst Manfred fest umschlungen. Denn er ist die Liebe deines Lebens, die erste, einzige - und letzte. Dich gebe ich nie wieder her, denkst du so glücklich. Du könntest die ganze Welt umarmen. Ach, jetzt halten wir uns gar an den Händen wie Hänsel und Gretel im dunklen Wald. Doch da ... Er lächelt dir zu. Das letzte Bild, das du ewig von ihm in dir trägst, als etwas von unten ... Schreist du noch vor Schmerzen auf? Ist da was? Was ist da in dich eingedrungen? Da ist doch wer in dir. Du ...
Nairras Körper fällt, denn SEIN Schwarzes Schwert mit Namen MO hat sie von unten nach oben, durch Geschlecht, Bauch, Brust, Hals und Kopf, in zwei Teile gespalten. Lautlos fallen ihre Körperhälften zu Boden. Kein Urin, kein Kot, kein Blut, denn alles verbrannte und versiegelte MO. Nairras Seele steigt auf.
Dort unten nimmst du verschwommen die Reste deines Körpers noch wahr. Dort unten ist ER, der nicht lieben kann und deshalb alle Liebenden hasst!? Dort unten hörst du ein letztes Mal Manfred, deine große Liebe, der IHM seinen Schmerz, doch auch seinen Hass entgegenbrüllt: „SCHAITAN!!!“
Dann siehst du IHN gehen und Manfred vergeblich versuchen, deinen Körper wieder zum Leben zu erwecken. Wie verzweifelt er ist! So sehr hat er dich geliebt! Du hauchst ihm Mut zum Weiterleben ein, denn noch ist die Zeit der Wiedervereinigung nicht gekommen. Du siehst, wie er dich unter einem Steinhügel begräbt: in sitzender Position mit dem Gesicht nach Osten, dem aufgehenden Sonn entgegen.
Jetzt ist alles gut. Manfred ist weitergezogen. Alles ist gut. Und du, die du den Menschennamen Nairra trägst, denn irgendwer gab ihn dir einst für alle Zeit, du schließt deine Augen, die keine Augen mehr sind, schließt deine Ohren und deine Nase, schließt alle Menschensinne. So treibst du still dahin. Keine Gedanken, keine Frage nach dem Wohin und dem Sinn. Zeit vergeht - oder auch nicht. Sinnenlos, besinnungslos schwebst du in der Leere.
Erwachen. Wo bin ich?
Du liegst auf einem weißen Strand aus Sand - so sähen ihn Menschenaugen, die du, körperlos wie du nun bist, nicht mehr hast.
Dein Seelenkörper richtet sich auf, ein Hauch mehr als nichts.
Ein Hauch? Ein mehr? Ein Meer?
Wellen hörst du ans Ufer schlagen.
Sand rieselt an deinem unsichtbaren Körper empor und bildet ihn neu.
Jetzt hast du dir selbst - oder wer oder was war es? - Arme und Hände und Finger geschaffen. Du schaust sie mit deinen neugeborenen Augen an. Du siehst hinab auf deinen nackten Menschenkörper. Dort ragen deine Beine auf, ganz unten stehen die Füße, die Zehen im Sand. Du hebst deinen Kopf und schaust dich um.
Endlos weit und menschenleer zieht sich der Strand. Wind weht vom Meer.
Du setzt dich mit ineinander gefalteten Beinen in den Lotos. So schaust du aufrecht geradeaus. Du lauschst den Wellen, die sich am Ufer brechen. Du hörst den feinen Unterschied und weißt, dass keine wie die andere ist. Du denkst an dein Leben, das vorher war. „Erde“ war das Wort für die Menschenwelt. So viele Menschen, so viele Lebewesen, jedes eine Besonderheit. So viele Leben, Geburten und Tode, damals dort, doch vielleicht auch hier an diesem Ort zu anderer Zeit?
Du weinst salzige Tränen, die aus Meerwasser sind. Denn aus dem Meer kommen wir alle, erinnerst du dich. Und wenn es auch ein anderes war und noch immer ist, irgendwo so fern, im Leben vor dem Tod.
Atmest du?
Was atmest du ein?
Du weißt es nicht. Du bist gestorben. Du bist tot. Du bist wieder auferstanden, wo auch immer dies sein mag.
Es wird dunkel. Eine gewaltige rote Sonne „versinkt“ dort in der Ferne im Meer. So dämmert die Nacht. Und noch immer ist es still.
Hier lebt sonst niemand außer mir, denkst du. Dann stellst auch du dein Fragen ein, legst dich zur Ruh und schläfst ein.
Du träumst von einer Stimme, die dich dreimal fragt: „Willst du wiedergeboren werden? Willst du zurückkehren auf die Erde als Menschenfrau und noch einmal Manfred begegnen? Willst du seine Kinder gebären?“ Du träumst davon und antwortest dreimal mit „Ja!“
Also wird ein Massaibaby im Mutterkontinent der Menschheit geboren, ein Mädchen, das wegen ihres Mutes zu Recht den Namen „Moyo“ erhält. Und sie bricht von zu Hause auf und wandert in den Norden Afrikas, bis sie die Großen Pyramiden erreicht. Unterwegs vereinigt sie sich mit Manfred. In Ägypten aber bringt sie ihre und seine Zwillinge zur Welt und versucht, den von IHM getöteten Manfred aus einem Finger neu zu erschaffen, zum Leben zu erwecken und - versagt. Dann zieht sie ihre Tochter Rani und ihren Sohn Ra in einer Welt auf, die parallel zur Erde liegt, damit ER sie nicht finden und töten kann. Viele Jahre lang lebt sie dort, bis sie schließlich in der Welt und am Ort ihrer Geburt stirbt. Ihre Seele kehrt in den Kosmos heim.
Mars
Schlafe ich? Träume ich?
In mir flüstert eine Stimme: „Siehst du den weißen Fleck am Pol. Dort ist Wasser, so wie es einst vor langer Zeit überall auf der Oberfläche des vierten Planeten zu finden war und auf dieser Welt, der die Menschen den Namen des griechischen Kriegsgottes gaben, irgendwann auch wieder fließen wird.“
Ich sehe das Weiß dort unten im wirbelnden Rot, Braun und Grau.
Weiß - WEISS ist alles, alles ist eins. Alles wird sein wie einst, denke ich, igendwann wieder, das weiße Licht, die weiße Welt, WEISS.
Und wieder versinke ich in Schwärze.
Eins mit Geist und Welt ringsum treibt Manfred traumlos und unsichtbar hinab. Irgendwann dann landet er als erster Mensch, nun ja, als Menschenseele, auf dem Roten Planeten, während die Sonde der ESA mit Namen Marsexpress weiterhin den Mars umkreisend nach Wasser sucht und es auch schon in Kratern und als gigantische Vorkommen unter der Oberfläche gefunden hat.
Öffne meine Sinne, die alten des Erdenmenschen zuerst, dann all die anderen. So höre ich, sehe, fühle und ...
Nun bin ich erwacht und erinnere mich an die Frage der Fragen, die sich einsame Menschen wie auch Naturwissenschaftler immer wieder stellen: Marsmenschen, gab es die je?
Keine Menschen, doch andere Wesen, Marswesen, die waren wie wir, als er vor weniger als zwei Milliarden Jahren noch eine Atmosphäre besaß?
Ja, doch. Sie waren da. Wir werden Spuren von ihnen entdecken. Und auch echte Marsmenschen - Menschen unserer Art wird es in wenigen Jahren auf dem Mars geben. Halt, sie werden nicht die ersten sein. Denn es gibt ja schon einen, und wenn er auch tot ist, so ist er doch hier. Und dieser eine bin ich.
Maschinen schickten wir Menschen schon vor vielen Jahren, die ihn umkreisten und es noch immer tun. Andere landeten, auch flogen einige wieder davon. Eine sehe ich in mir: Westlich des Kraters Mie steht noch immer die Landeeinheit von Viking 2 inmitten von Sand, Geröll, Raureif und Eis. Und das bedeutet Wasser auf dem Mars. Wolken fallen mir ein.
In mir flüstert die Stimme: „Der höchste Berg, den wir Menschen bisher kennen, ist ein erloschener Vulkan. Olympus Mons haben wir ihn nach dem Göttersitz der alten Griechen genannt, 27 Kilometer ragt er auf, und sein Haupt umkrönt eine Wolke.“
Wolke sein. In dieser Wolke steige ich vom Gipfel des Berges auf. Nun schaue ich aus Menschenaugen und sehe die Farben des Mars, wie ich sie einst vor langer Zeit in Büchern auf Erden sah: Rot ist der Staub, der Sand, rot vom Eisenoxid, das alles überzieht. Eine verrostete Welt, die einst einmal blühte. Wie wird die Erde in Jahrmilliarden aussehen?, frage ich mich.
Dunst am Horizont zeigt mir die dünne Atmosphäre an. Das Kohlendioxid ist da, das irdische Pflanzen brauchen. Marspflanzen sehe ich, nicht die aus alten Zeiten, sondern die aus der Zukunft, die speziell gezüchtet an die derzeitigen Temperaturextreme angepasst sind. Mit ihren Wurzeln holen sie Wasser aus der Erde und mit den Blättern atmen sie Kohlendioxid und Sonnenlicht. Ein Pflanzenparadies ist dieser Planet.
Ich schaue in die Weite, wo Stürme wüten und Sand aufwirbeln. Sie hüllen alles ein, wo einst in dichterer Atmosphäre gewaltige Flüsse flossen, deren Canons heute noch zu sehen sind. Roter Sand weht dort unten über ödes Land.
Dann ist Stille.
S t i l l e.
Nirgendwo fahren jetzt diese niedlichen, immer noch aktuellen Roboter auf Rädern, noch gehen da die zukünftigen auf allen Achten, Sechsen, Vieren, noch laufen Menschen über die Weiten. Der Himmel wird klar bei Nacht. Dort oben gehen die gleichen Sterne wie über der Erde auf. Ich lausche, bin tot und lebe. Alles ist gut.
S t i l l e.
„Einst, das war im Jahr 2003, lange war der Mars nicht mehr der Erde so nah gewesen, schauten viele Menschen auf. Manch einer dachte an die Invasion der kleinen grünen Marsianer aus der Science Fiction Literatur, die doch eigentlich gut getarnt eher rot und groß sein sollten. Andererseits sähen Marswesenaugen anders als Menschaugen, also ...“, spricht die Stimme in mir und fährt fort, eine unsichere Zukunft auszumalen, spricht von 2011, dem Landungsjahr der Roboter, und von 2030, dem Jahr, in dem die ersten Menschen den Planeten betreten sollen.
Nun ja, die ersten lebenden Menschen werden’s nicht leicht haben, es sei denn, die Kälteschlaftechnik ist bis dahin ausgereift und schnellere Antriebe sind entwickelt. Denn sonst werden sie große Mengen an Lebensmitteln mitnehmen oder sie anbauen müssen. Muskeln und Knochen heißt es in der Schwerelosigkeit zu bewahren und wieder aufzubauen. Dann sind da die starke Weltraumstrahlung, die Temperaturen und das Fehlen von Sauerstoff draußen im Raum und hier auf dem Mars. Ja, so oder so ähnlich wird das alles geschehen, wenn auch die zeitlichen Angaben noch nie stimmten. Wen wundert’s, wenn auf Erden noch immer Milliarden für Kriege von Menschen gegen Menschen ausgegeben werden.
Menschenprobleme, die die heute Lebenden und zukünftige Generationen lösen müssen.
Ich aber bin doch tot, habe all das längst hinter mir gelassen, sollte man meinen. Doch so ist es ja nicht.
Bin jetzt hier allein in der Stille.
Das muss man erlebt haben: Valles Marineris, diesen Canyon aller Canyons. Hier hindurchschweben, -fliegen, -rasen und in die Tiefen tauchen, fällt mir ein. Welch ein Menschentraum!
Ich tue es, erlebe es, ohne am Leben zu sein.
Berauscht tauche ich schließlich wieder an der Oberfläche auf und fliege in der dünnen Marsatmosphäre nach Norden, der weißen Polkappe zu.
„Schon bald wird hier Phoenix landen und das Wasser auf Leben analysieren“, flüstert die Stimme in mir.
Schon von der Erde aus zu erkennen, hier aber so dicht unter mir einfach gigantisch und fantastisch, erstreckt sich die nur im Sommer ein wenig abschmelzende kilometerdicke Eisdecke über Tausend Kilometer rings um mich herum. Hier ist Eis, gefrorene Flüssigkeit, gefrorenes Kohlendioxid, aber auch Wasser, das einst über die Oberfläche in Flussbetten floss? War es so und wenn es so war, wann war das? Gibt es noch immer flüssiges Wasser in den Tiefen? Hatte der Mars einst eine Atmosphäre? Gab es hier Leben? Und wie sah es aus?
Ja, ja, ja.
Ach, einen weiteren kleinen Scherz nach meinen Steinzeichen auf der Mondin möchte ich mir doch noch erlauben. Dorthin, wo die Stürme sind, zieht es mich. Und sind sie nicht da, so entfache ich sie. Mit dem Sturm über die Weite treiben, Staub sein und eine Wolke umformen, sie wieder verlassen und hinaustreiben in die Schwärze, das tue ich - jetzt.
Und wieder wie schon einmal sind viele auf Erden außer sich. „Da ist ja der Beweis von intelligentem Leben auf dem Mars“, jubeln und schreien sie, „das nun erwacht mit den Menschen kommuniziert.“ Denn die Sonden haben es aufgezeichnet und an die Erde übermittelt, ein Wort nur, nicht mehr, doch nicht die Menschenzeichen, die eine Kreuzspinne in ihr Netz spann, um ein kleines Schwein vor dem Schlachten zu retten, sondern ein einfaches „Hallo“ aus Menschengeist. Und die Naturwissenschaft spricht von Zufall. Und das Wolkenwort verweht. Kein Beweis ist geblieben. Kein Marsmensch hat es gebildet, wie wir alle wissen, und auch kein Lebewesen anderer Art, sondern ein Toter, nun ja, die Seele eines Toten, Manfred der Magier hat es getan und sich köstlich amüsiert.
Jetzt schaue ich doch kurz noch bei den beiden Marsmonden vorbei. Ach, sie sind ja nur kleine, eingefangene, unregelmäßig geformte Felsbrocken - Planetoide. Und sie tragen die Namen der Pferde, die den Kampfwagen des Kiegsgottes Mars zogen: Furcht und Schrecken - Phobos und Deimos. Doch wo ist der Wagen, den sie ziehen? Und den Mars ziehen sie sicher nicht, auch wenn alles mit allem verbunden ist und sich hier und da und allüberall die Raumzeit krümmt.
Phobos ist der äußere. Der sieht wie eine Kartoffel aus und trägt einen riesengroßen Krater. Ich sehe und verstehe: Ein einschlagende Meteorit erzeugte ihn und wandelte Phobos in einen Geröllhaufen um. Also könnten in ihm viele Höhlen verborgen sein.
Ich bin in seinem Innern, schließe alle äußeren Sinne und sehe hier Raumschiffe landen und starten, denn Phobos’ Schwerkraft ist gering. Füße wirbeln die schwarze meterdicke Staubschicht, zerpulverter Stein, beim Gehen auf. Für einen lebenden Menschen ohne Schutzanzug ist es abgesehen vom Fehlen der Atmosphäre hier ein wenig extrem. Die Temperaturunterschiede zwischen Tag und Nacht reichen von unter Null bis über 110°C. Das wäre ja schon wieder was für die Tourismusindustrie, denke ich gerade und sehe, höre und fühle auch schon den ganzen Trubel: Einmal den Roten Planeten sehen und sterben.
„Irgendwann wird Phobos vom Mars auseinandergerissen werden und einen Marsring bilden oder aber auf den Mars stürzen“, flüstert mir die Stimme zu.
Oder aber unsere Nachfahren halten ihn in der Zwischenzeit, 50 Millionen Jahre sind ja eine lange Zeit, davon ab, fällt mir ein. Das müsste doch wohl zu schaffen sein.
Deimos hingegen wird in einer noch ferneren Zukunft dem Mars entfliehen, es sei denn, unsere Nachfahren haben mit ihm ganz etwas anderes vor.
In nur 6000 Kilometer Entfernung sehe ich gelblich den gewaltigen Mars aufgehen. Dann erweitere ich meinen optischen Sinn über den Spektralbereich eines Menschenauges nach unten ins Infrarote und nach oben ins Ultraviolette, wechsle hin und her in den Spektren, schließe meine Augen und sehe ihn in mir, und meine Seele lacht.
Nairras zweites Erwachen
Irgendwann hörst du Stimmen, erst leise, wie von fern, dann immer lauter. Sie flüstern dir Worte zu, die du nicht verstehst, Worte in so vielen Sprachen, Worte aus so vielen Mündern und von Flügeln und Beinen schrillend erzeugt, ganz so, wie es auf Erden Heuschrecken und Grillen tun. Noch immer verstehst du nicht das Geringste in diesem babylonischen Sprachenwirrwarr.
Hörst du dich ein oder ändern sich die Laute? So oder so muss es sein, denn allmählich weicht der chaotische Lärm einem einzigen harmonischen Klang, den alle Wesen nicht mehr dort draußen, sondern tief in dir singen. Und du beginnst zu verstehen, was sie dir sagen wollen: „Einige werden sich finden im Kreis. Alle werden wir wieder eins, werden „Wir“, wie einst einmal irgendwo irgendwann vor unserer Geburt zum Leben.“
Nach dem Hören mit neuen Ohren gebärt deine Seele einen weiteren Sinn: Augen entstehen, die du öffnest, die du schließt, die du öffnest. Jetzt siehst du den leuchtenden Kreis in der Schwärze des Alls vor dir.
Du erinnerst dich an deinen alten Körper auf Erden. Du erinnerst dich an deinen Namen, den dir irgendwer gab: Nairra. So hieß ich einst, so heiße ich in Ewigkeit, denkst du. Du erinnerst dich aber auch an einen anderen Namen: Moyo. Ja, auch diese war ich, ich bin auch sie, weiß und schwarz, schwarz und weiß vereint. Nicht so hell und nicht so dunkel war die Haut unserer fernen Vorfahren. Bräunlich ist mein Körper nun.
Du erinnerst dich an den Kreis im Sand dereinst in einer von vielen Wüstenwelten. Immer klarer tritt er aus dem Flimmern heraus. Er nähert sich dir, du näherst dich ihm, wir kommen uns nah.
Zugleich siehst du einen namenlosen Mann. Du weißt, dass Er es ist, Er Dort Oben. Dort irgendwo sieht dieser junge Mann auf einer Wand Dinge und Menschen sich bewegen.
„Einen Film sah ich einst, der Highlander heißt“, flüstert Er dir zu.
Jetzt schaut Er auf und weint. Denn in diesem „Film“ geht es um Altern und Tod, um eine Trennung: Einer bleibt zurück, der andere geht. Er blieb, sie ging. Wie dort, so auch hier, denkst du. Manfred lebte weiter, wie lange wohl noch, ob er noch immer lebt und an mich denkt? Ich ging.
Du weinst.
Jupiter
Ich tauche aus meinen Träumen auf und schaue staunend mit Menschenaugen aus körperloser Seele diesen Riesen aus Gas mit seinen hellen und dunklen Bändern und dem Großen Roten Fleck. Da gibt es kein Halten mehr. Dort will ich hin!
Also stürze ich mich durch die Ringe, deren Staub in 100 000 Jahren vom Jupiter aufgesaugt sein wird, rase auf den Gasplaneten zu, tauche in den Großen Roten Fleck ein.
Haha, was heißt hier Fleck, welch rasender Tanz in wirbelnder Luft!
Tiefer und tiefer dringe ich ein.
Längst bin ich eins mit den Molekülen.
Bin ich noch Gas, schon flüssig oder fest?
„Jetzt bist du Metall, jetzt wirst du Stein, jetzt bist du flüssig, jetzt wieder Gas, und nun setze ich deine Seele wieder frei“, flüstert die Stimme in mir.
Ich verlasse den Gasriesen. Was für eine Reise, den größten Planeten des Sonnensystems einmal körperlos/leibhaftig durchquert zu haben!
Worte erklingen, während meine Seele in der Schwärze treibend träumt. Menschenworte sind es: „Adrastea, Aitne, Amalthea, Ananke, Autonoe, Callirrhoe, Carme, Chaldene, Elara, Erinome, Euanthe, Euporie, Europa, Eurydome, Ganymed, Harpalyke, Hermippe, Himalia, Io, Iocaste, Isonoe, Kale, Kallisto, Kalyke, Leda, Lysithea, Megaclite, Metis, Orthosie, Pasiphae, Pasithee, Praxidike, Sinope, Sponde, Taygete, Thebe, Themisto, Thyone.“
Ich weiß, wer die Worte sprach. Doch was mögen sie bedeuten? Schon fällt es mir siedend heiß ein, denn einige Worte kenne ich. Es sind Namen für Jupitermonde. Wie aber heißen all die anderen, die es hier noch gibt? Sollten sie gar nur Ziffern und Buchstaben tragen? Schaue ich mir also einmal die interessantesten Monde an.
Also sehnt sich meine Seele wohl noch immer nach festem Boden unter nicht mehr vorhandenen Füßen, nach Erde, die nicht mehr Mutter Erde ist.
Beginne ich mit dem innersten, der seinen Namen von einer Geliebten des Zeus, dem griechischen Göttervater, den die Römer Jupiter nannten, erhielt. Aha, ja, da ist sie ja, ihm noch immer so nah: Io. Auf ihr mache ich Rast auf meiner Reise in die Weiten des Alls. Eiseskälte und Lavahitze, nichts für Menschenkörper, Höllen der einen und der anderen Art, aktive Vulkane überall auf der Oberfläche.
„Und Loki ist der Name des Höchsten hier, der mit 80 Kilometern Höhe all die anderen überragt“, flüstert die Stimme in mir.
Das ist doch der Name des listenreichen Gegners der alten germanischen Götter, Vater vom Fenriswolf, Hel und der Midgardschlange, der als Stute den Hengst Sleipnir gebar, sich in vielerlei Gestalten verwandeln konnte und den Weltuntergang namens Ragnarök herbeiführen soll? Ja, in diesen mythischen Dingen kenne ich mich aus, und dies ist eine wahre Höllenwelt mit einer Atmosphäre aus vulkanischen Gasen. Jupiter und all die anderen Monde zerren an der Geliebten Io. Hin- und hergerissen gebar sie so ihre zahlreichen Vulkane und wurde zum heißesten Mond des Sonnensystems.
Hier schwebe ich nun in eisiger Kälte in dieser höllenheißen Welt und sehe einen Surfer auf der Flucht vor einem Lavafluss auf mich zu rasen und ihm entkommen und glühendes Gestein meine Seele umschließen. Viele Farben nehme ich noch wahr: grünen Schwefel, rote glühende und schwarz erkaltete Lava. So wie es hier heute ist, war es auch einst auf Erden. Nichts für Menschen: Hitze und Eiseskälte und eine gewaltige Radioaktivität, die kein Menschenkörper verkraften kann. Hier oben niemals. Doch unter der Oberfläche in alten Lavaröhren könnten eines Tages Menschen oder deren Nachfahren sowie Roboter und Androiden leben.
Ich aber steige noch einmal auf, schaue zum Abschied hinab und sehe so etwas wie Neonröhrenleuchten, wie Nordlichter, als würden jetzt und hier viele Scheinwerfer ins Weltall strahlen. Das sind die Lichter von Io.
Ich schwebe weiter empor und hinweg. Fort von all der Strahlung und Hitze und den Schwefeldämpfen, steige in höchste Höhen in klares All auf, besuche den zweiten Mond, der schon wieder einen Menschennamen nach einer Geliebten von Zeus trägt. Der scheint sich hier einen ganzen Harem zu halten. Weiß Hera das und wo ist sie überhaupt? Dieser Mond trägt den Namen Europa. Seine/ihre Oberfläche besteht aus Eis mit Einschlagskratern darin. Kilometer dick sollen die sein, erinnere ich mich, Menschensonden sollen sie einmal durchschmelzen, um im Ozean darunter nach Leben zu suchen. Ich lande körperlos, gleite träumend kilometerweit hinab durchs Eis und erwache tatsächlich in einen Ozean aus Wasser, der sich bis in gewaltige schwarze Tiefen erstreckt. Um mich nehme ich Leben wahr: bakterienartige Mikroorganismen. Ich schaue mich um - in Raum und Zeit, schließe meine äußeren Sinne und erblicke in mir schwimmende Wesen, die die Größe von Menschen haben, doch auch kleinere und größere sind unter ihnen. Es sind wundersame Wasserwesen vielerlei Arten mit Flossen und Tentakeln, Fischen und Tintenfischen gleich.
Sind sie hier? Lebten sie hier? Werden sie einst hier leben?
Aliens sind sie uns heutigen Menschen. Doch sie kommen nicht von anderen Sternen, parallelen Welten und Zeiten, sondern werden Nachfahren von uns sein, Menschenwesen in erwärmtem Wasser.
Dort oben ist die Eisschicht stellenweise durchbrochen. Ich tauche mit ihnen auf und schaue mich um: Siedlungen, Raumflughäfen, Hotelanlagen für Sightseeingpauschaltouristen mit Jupiterblick für die auf dem Land lebenden Nachfahren, die es einfach nicht lassen können, durch Welten zu reisen, die ihren Urlaub hier verbringen oder auf der Durchreise zu den Kolonien weit draußen sind. Im Orbit könnten die großen Sternenschiffe parken. Ich aber sehe sie nicht. Waren sie etwa nur Fantasieprodukte fantasiearmer Menschen des 20. und 21. Jahrhunderts? Ist hier ein Sternentor, ein Transmitter installiert? Nimmt man überhaupt seinen Körper mit, wenn man zu den Sternen reist?
Das glaube ich nicht.
Und schon zieht es meine Seele sehnend weiter hinaus.
Zeit der Zusammenkunft
„Irgendwann werden sich alle treffen, sich wieder-hören-sehen-fühlen“, spricht Manfreds Stimme immer wieder in dir.
„Wir müssen die Tore durchschreiten, die aus den Heimatuniversen hinaus und uns alle wieder zusammen führen, dorthin, woher alles kommt und alles geht und Vieles und EINS zugleich ist.“ Wir sprechen diese Worte und gehen auseinander.
Du erinnerst dich. Eine von ihnen warst und bist du ja selbst! Wer aber sind die anderen?
Noch siehst du nur Schatten, einen Kreis von Wesen, die von überall her kommen, an diesen Ort, in dieser Zeit der großen Zusammenkunft, doch nicht um zu sterben oder um zu kämpfen, weil es nur einen geben kann. Weshalb aber dann?
Du weißt es nicht. Woran du dich jedoch erinnerst, was du in dir siehst, voraus siehst, ist dieses Bild: Jetzt halten wir uns an den Händen, so verschieden sie auch sind. Unsere Körper und Seelen verschmelzen im weißen Licht zu einem. Eine Vielheit - Wir.
Wir singen die Lieder unserer Heimatwelten, der Erde und all der anderen, deren Namen kein Mensch niederschreiben kann, einer nach dem anderen zunächst, reihum, dann alle gemeinsam. Und all diese mit so vielfältigen biologischen Körperinstrumenten erzeugten Klänge und Gesänge so vieler bewohnter Welten verschmelzen zu einem einzigen gewaltigen Chor. Jetzt, wo Wir alle eins sind, sind Wir Titanen, Götter diesseits und jenseits aller Räume und Zeiten. Wir singen und tanzen und schauen still meditierend - hier und da und dort. Unsere Kraft scheint grenzenlos. Wenn Wir wollten, könnten Wir jetzt nicht nur Welten erschaffen, sondern auch vernichten. Ein Gedanke nur – und ein gewaltiger Planetoid setzte sich in Bewegung und schlüge auf einem von Leben wimmelnden Planeten ein. Und all die Wesen auf anderen Welten, die davon erführen und sich für intelligent halten, würden schockiert Ströme von Tränen über das billionenfach vernichtete Leben weinen und erführen niemals, dass die „intelligenten“ Wesen der nun vernichteten Welt Äonen später ihre Welten und somit auch sie selbst vernichtet hätten, aus welcher „Notwendigkeit“ auch immer.
Und auch Wir weinen Tränen in die Sternennacht über all das Leid, das alles Leben auf allen Welten in allen Universen in sich trägt und immer und immer wieder selbst erzeugt. Und so ist es hier wie auf Erden: Leben will leben. Einer isst den anderen auf. Der am besten Angepasste setzt sich durch – für kurze Zeit und rein statistisch, versteht sich. Hätte es dort manche Führer und Fanatiker nicht gegeben, so wären viele Menschen und andere Lebewesen durch Menschenkriege und Menschenterror nicht gestorben. Das ist klar. Doch andere wären niemals geboren worden. Daran denken wenige nur. Kein Mensch konnte, kann und wird die Zusammenhänge jemals wirklich begreifen.
Wir könnten in die Evolution eingreifen, wie ER und SIE es vielleicht einst auf Erden taten. Neue Stämme und Klassen von Lebewesen könnten wir aus unserem Geist erschaffen. Schöpfer wären wir dann, biologische Designer.
Wir erinnern uns, dass auch die führenden Arten auf unseren Welten, so auch die Menschen auf Erden versuchten, Schöpfer zu spielen, es sogar schafften, erlernten und noch immer tun.
Und doch gibt es Mutation und Selektion, und Darwin hat Recht.
Und doch wären Wir, die Wir dies täten, für viele unserer Geschöpfe Götter.
Und doch sind wir nicht der eine GOTT und sind es zugleich. Denn GOTT ist in allen Dingen, enthält alle Wesen und Welten und Wahrheiten in sich. ER/SIE/ES lächelt aus allen Dingen dich an, singt, summt und duftet dir zu.
Auch Wir lachen in allen Sonnen, aus dem Innern von Planeten, Monden, Planetoiden und Kometen. So ziehen wir durch das All dahin und sind zugleich überall - in allem Anorganischen und Organischen, in allen Lebewesen.
Da ist eine kleine „Spinne“, eine Arachnoide. Sie ist viel größer als es Spinnen auf Erden sind. Dort lebt sie auch nicht. Sie hatte einen Vater, klar, den sie nicht kennen lernte. Auch ihre Mutter starb und gab ihren Körper ihren Kindern zu ihrem ersten Mahl. So leben ihre Gene und ihr Fleisch in ihr fort. Elternlos wuchs sie mit ihren Geschwistern auf. Sie aber ist anders als all die anderen neben ihr.
All diese Spinnenwesen sind fast so groß wie irdische Menschen, haben ein effektiveres Atmungssystem entwickelt als die Spinnen auf Erden und atmen eine sauerstoffreiche Luft. Sie alle sind intelligente Wesen.
Diese eine Spinne aber weint. Nicht, dass da Tränen flössen aus einem ihrer sechs kleinen oberen oder den beiden vorderen großen Augen. Innerlich weint sie und betet zu ihrer Spinnengöttin, dass sie ihre Geschwister wiederbringe, die ein großes Ding - vielleicht war es ja ein gewaltiger Schnabel oder ein Kiefer? - ihr nahm. Wir hören ihr Gebet einen Augenblick lang aus all den Wünschen so vieler Wesen dieser von uns erschaffenen Welt. Wir haben die Macht, ihren Wunsch zu erfüllen. Wir könnten es, und tun es doch nicht. Täten Wir es, dann würde ein junger Riesenvogel verhungern. Und zahlreiche Beutetiere/Mahlzeiten dieser wiederbelebten Spinnen müssten dann sterben, die so überleben. Und manche ihrer Geschwister würden eine Zeitlang leben und dann doch verhungern. Denn ihre Welt ist grausam, und ihr Leben ist hart. Und diese würden die ungerechte Göttin beklagen, denn sie hatten doch niemandem etwas getan außer dem, was ihnen angeboren war, nämlich andere Wesen zu töten und zu essen. Womit hatten sie all das verdient? Das war doch einfach nicht fair.
So ist es. Stirbt nicht der eine, stirbt ein anderer.
Wäre einst auf Erden die eine oder andere Spitzmaus erbeutet worden, so hätte es vielleicht niemals Halbaffen gegeben, keine Affen, keine Menschen und keine Menschengötter, zu denen einige von Uns wurden.
Und das alles sind nur die Gedanken kleiner Götter, Unsere Gedanken.
Nur GOTT allein weiß, was wie alles anders geworden wäre und wie es vielleicht in unzähligen parallelen Welten realisiert ist.
Wir wissen es nicht.
Saturn
Jetzt schwebe ich über dem sechsten Planeten mit dem römischen Götternamen Saturn.
Still scheint auch er da zu stehen, einen Augenblick lang. Dann verändere ich die zeitliche Auflösung meiner Sinneswahrnehmung. Jetzt kann ich das, was einst auf Erden nur Kameras konnten, ich sehe vor mir, seine Ringe sich im Zeitraffer drehen. Auch hinken die Pole dem Äquator ganz schön hinterher. Ist eben alles nur Gas, nichts Festes. Da haben wir ja schon etwas gemeinsam. Körperlos, wie ich bin, Seelengeist, könnte ich dort unten eins mit Helium und Wasserstoff werden, ein winziges Teilchen vom großen Ganzen - Saturn.
Hier oben aber warten die Ringe auf mich.
Und eine Stimme in mir spricht: „Eine Milliarde Kilometer reisen und dann in deinen Ringen aufgehen, das wäre doch was!“
Ja, da gebe ich meinem Herr und Meister Dort Oben Recht. Ich tue das, wovon Er nur träumen kann. Körperlos dringe ich in einen der vielen Steine ein und werde eins mit ihm. Bin nun einer von vielen, doch nicht im Mineral aufgegangen und verloren. Ich denke, also bin ich.
Und all die anderen denken wohl nicht und sind doch?
So ist es. Träumend treiben wir durch stillen Raum dahin.
Irgendwann, es mögen Sekunden, Tage, Jahre, Jahrzehnte oder auch Jahrhunderte, Jahrtausende - die irdischen Zeitbegriffe sind noch immer in mir lebendig - vergangen sein, löse ich mich aus meinem träumenden Treiben.
Und da flüstert mir schon wieder die Stimme, der ich andächtig lausche, Namen zu. Worte sind es, Menschennamen: „Albiorix, Atlas, Calypso, Dione, Enceladus, Epimetheus, Erriapo, Helene, Hyperion, Ijiraq, Janus, Japetus, Kiviuq, Methone, Mimas, Mundilfari, Narvi, Paaliaq, Pan, Pallene, Pandora, Phoebe, Polydeuces, Prometheus, Rhea, Siarnaq, Skathi, Suttungr, Tarvos, Telesto, Tethys, Thrymr, Titan, Ymir. So viele Monde gibt es hier, so viele und noch viel mehr.“
Unter all den vielen rufen nur drei Erinnerungen wach. Drei Monde ziehen mich magisch an.
Auf Japetus landen und verweilen. Dort stehen, Saturn und seine Ringe sehen. Welch ein Traum, den unsere Kindeskinder erleben werden, die keine Menschen mehr, sondern Cyborgs und neue Wesen sein werden, die ihre Körper nach ihren Bedürfnissen wechseln, so wie es die Lebenden unter uns Menschen heute mit ihrer Kleidung tun. Auch ich kann das. Doch sie werden es als Lebende tun. Sie sind noch nicht geboren. Ich bin tot, stehe doch nun hier auf Japetus und schaue den Saturn mit seinen Ringen.
Dann ist da der Mond, der den Namen des zweiten Göttergeschlechts trägt: Titan. Einst war er bei den alten Griechen Sohn des Himmelsgottes Uranos. Sohn von Saturn ist er hier, der fing ihn mit seiner gigantischen Masse ein. Titan ist sein größtes Kind, nicht öde, leer und nackt, wie so viele Planeten und Monde, sondern nebelbedeckt. Das weckt meine Neugier. Ich schwebe zu ihm hinab.
In mir flüstert die bekannte Stimme von längst vergangenen Erdendingen: „Mein Mond, nannte vor mehr als 300 Jahren Christian Huygens Titan. In Ferngläsern und Teleskopen zeigt er sich, und die Sonden Pioneer, Voyager sowie Cassini-Huygens erkundeten und landeten auf ihm.“
Ich aber verweile jetzt körperlos hier und fühle mich in ihn ein. Da ist in der Tiefe ein steinerner Kern, umhüllt von Wassereis. Über mir ziehen Wolken aus Methan in dieser in Menschenaugen orangenen Stickstoffatmosphäre. Wäre es hier nicht so kalt, so könnte dies die Urerde sein.
Sollte es etwa hier Leben geben?
Ich spüre es nirgendwo.
Noch einen gibt es, der unter all den vielen Monden auffällt, denn er trägt unter seinem Eispanzer ein Wassermeer. Es ist der kleine Enceladus. Und hier auf ihm im Süden inmitten von Eisbrocken schaue ich mich um. Doch wie kam ich hierher? War ich nicht vor einem Augenblick noch auf Titan? Folgt mein körperloser Geist noch immer dem Ruf des Wassers, dem irdischen Lebenselement, aus dem Menschen-, Tier- und Pflanzenkörper zum größten Teil bestehen? Sollte auch hier dem irdischen ähnliches einfaches Leben welcher Art auch immer existieren? Wenn nicht schon jetzt, so wird es mit den Menschen kommen: Bakterien und Pilze, Pflanzen und Tiere, Viren und - Mischwesen, neue Wesen, die es heute auf Erden noch gar nicht gibt.
Genug gegrübelt, jetzt geht's in die Außenbereiche des Sonnensystems, doch nicht in Sprüngen mit Leere, Traum und Erwachen, nein, da hat mich wohl das Wasser munter gemacht, in rasendem Flug komme ich nun voran, bin schon da und halte staunend an.
All die Kleinen dort draußen
Im hellen Blau erstrahlt da Uranus. Erde, denke ich beim Anblick dieser Farbe, während ich noch immer auf den siebten Planeten zustürze, näher und näher komme und die Wolkenbänder wahrnehme. Schon bin ich mitten in seiner Atmosphäre aus Wasserstoff und Helium, ein wenig Methan und weiteren Stoffen. Jenseits liegen Ringe und Monde mit Namen aus Sommernachtsträumen und von Engeln. Hier aber auf dem Planeten mit dem Namen des alten Himmelsgottes toben gewaltige Wirbelstürme. Also tobe auch ich mich ein wenig aus. Bin Sturm unter Stürmen und brause so wochenlang dahin.
Schließlich löse ich mich hoch im Norden wieder auf. Losgelöst und frei steige ich auf. Schaue mich noch kurz im Süden um, wo die Stürme sich hin und her wiegen, als tanzten sie zu einer unhörbaren Melodie, die Uranus ihnen singt. So scheint es von hier oben, wo alles nun im Zeitraffertempo vorüberrast.
Weiter geht meine Reise zum nächsten Planeten, dem achten. Ich falle ihm förmlich entgegen. Auch er strahlt so wunderbar blaugrün.
„Die Farbe kommt vom Methan in seiner Atmosphäre“, flüstert die Stimme in mir, „ja, er ist nun der äußerste, denn die, die dann noch kommen, werden heute nicht mehr zu den Planeten gezählt.“
Stürme soll’s hier geben wie nirgendwo sonst, ja, und gratis dazu für Menschenkörper tödliche Kälte.
Ich lasse Ringe Ringe sein und stürze mich sofort hinab ins Toben der Naturgewalten, leihe mir ein wenig Materie und kann nun durch die Lüfte reiten. Stürme davon und immer weiter und ringsherum, bis ich schließlich meine Ruhe wiederfinde. Jetzt reinige ich meinen Seelengeist von allen Neptunteilchen, lasse sie unter mir, hinter mir zurück und steige wieder auf.
Hier oben kreisen die Monde. Einen suche ich mir aus.
„Triton“, flüstert die Stimme in mir.
Welch schöner Name, denke ich, lande und forme mir einen Menschenkörper im Raumanzug. Erstaunlich, dass ich das noch kann. 30°C über Absolutnull, das sind ja -240°C, die mein Temperaturmesser anzeigt. Werden einst hier Menschen stehen, vermummt wie ich oder irgendwann auch körperlos hier anwesend sein?
Schaue mich um und sehe eine Welt voller Geysire und Vulkane. Und doch ist da nirgendwo Hitze, nur Kälte überall. Eisig sind die Vulkane dieser sonnenfernen Welt. Flüssigen Stickstoff spucken sie aus, und aus Stickstoff besteht die Atmosphäre, wie mir meine Außensensoren melden. Das immerhin ist ja ganz wie auf der guten alten Mutter Erde.
Welch köstlicher Gedanke, damals zu Lebzeiten auf Erden tat ich es nicht, aber jetzt und hier, ja, da tue ich es doch glatt: Ich springe in einen der vielen Geysire, bade nun in einem Stickstoffsee.
Längst haben sich Raumanzug und Menschenkörper aufgelöst. Verflüssigt steige ich kilometerweit mit all den anderen Teilchen auf. Kohlenstoffdurchdrängt wehen wir nun alle als schwarzer Rauch von der Drehung des Mondes gelenkt dahin.
Aha, da ist er ja, dort sehe ich ihn vor/in mir, den hellsten von allen, die hier draußen noch kommen: Pluto.
Ich höre die Stimme in mir flüstern und immer leiser werdend allmählich verklingen: „Und dem zehnten Planeten gaben wir den Namen Xena, 560 Jahre benötigt er, um einmal den Sonn zu umkreisen, welche Zeitspanne, wie viele Menschengenerationen. Vor einem Xenajahr war auf Erden in Europa noch Mittelalter. Jetzt erst entdeckten wir ihn. Wen wundert’s, er ist ja nicht groß und nur einer von so vielen. Alle sind sie Zwergplaneten, Planetoide. Und das heißt? - Es gibt keinen zehnten Planeten, auch keinen neunten und - da waren es nur noch acht.“
Dann ist da nur noch ein Murmeln, die reinste Hypnose, die schläfert mich ein, der ich nun träumend durch die dunklen Weiten treibe und berauscht dem Gesang der Sterne lausche.
Erwacht sehe ich mich von außen inmitten all der dunklen und schwarzen Felsen, den kleinen und großen Planetoiden jenseits des Neptuns schweben.
In mir singt die Stimme: „Transneptune. Wie lange wird es noch dauern, bis die Menschheit ihre Füße hierhin setzt, bis sie die äußeren Himmelskörper des Kuipergürtels erreicht?“
Hier sind sie ja alle: die wenigen, die einen Namen erhielten, die Doppelsysteme - Pluto-Charon und Xena-Gabrielle, und all die anderen.
„2003 IB 313“, flüstert die Stimme in mir, die alles immer besser zu wissen scheint und auch noch schrecklich pedantisch ist.
Keine Ahnung, was Er Dort Oben damit meint. Wichtig für mich ist allein, dass ich hier zwischen all den Felsen dahintreibe und schließlich mit einem verschmelze. Wieder bin ich nun beseeltes Gestein, trage jetzt aber auch eine dünne Atmosphäre, eisig bin ich und mondumgeben. Dann trenne ich mich wieder und schwebe neben den beiden.
„Xena und Gabrielle“, spricht die Stimme in mir.
Da gab es doch auch einen Erzengel gleichen Namens? Gabriel!
Bist also du, Gabrielle, dann eine Engelin?
Wo überhaupt sind die Frauenseelen?, frage ich mich. Müssen wir Seelen einsam und allein durch die Weiten ziehen und ohne Liebe „leben“?
Erinnerungen brechen schmerzlich auf. Also bin ich noch lange nicht erlöst, fällt mir ein, noch immer mit meinem letzten Leben verbunden. Ach ja, die Liebe. Viel zu früh starbst du, Nairra, durch IHN. Ich habe dich bestattet. Als Moyo kamst du wieder und hast mich überlebt. Ich weiß, dass du und unsere Kinder auf einer parallelen Erde leben. Ja, sie leben, also lebe ich in ihnen weiter. Und wir Drei werden uns wiederfinden, niemals mehr im Leben, denn zwei von uns sind ja schon tot und die Dritte wird es auch irgendwann sein, sondern posthum als Seelenwesen.
Und weiter zurück reichen meine Erinnerungen, die niemals die von einem Lebewesen sein können und es auch nicht sind, denn damals gab es mich noch nicht und auch sonst keinen Menschen noch Leben noch Erde, als es geschah:
Alles ballt sich zusammen und entzündet sich. Das ist die Geburt des Sonn. Planeten fangen Trümmer ein und wachsen. Wir alle treiben. Die kleineren von uns schlagen auf den größeren ein, wir verbinden uns und formen Erde und Mondin. Wir werden eins mit den großen Planeten. Wir kreisen allein für uns in den leeren Zonen mit all den anderen, die es auch heute noch gibt.
„So alt bist du, sind wir alle, so alt und noch viel älter, denn alles, was ist, das wandelt sich beständig. Seit 4,6 Milliarden Jahren schweben all die Objekte hier im Kuipergürtel“, spricht Er Dort Oben in mir.
Wo bin ich?
Ich suchte meinen Weg von der Erde nach außen. So müsste ich also nun ... So fern wie nie zuvor bin ich dem Sonn. Besäße ich noch einen Menschenkörper, er wäre längst zu Eis gefroren.
Noch einmal schaue ich zurück, doch nicht mit äußeren Sinnen. Tief blicke ich in mich hinein und sehe die dunklen Sonnenflecken.
Und die Stimme in mir flüstert: „Das sind die Stellen, wo Magnetismus Materie hält, Strahlungseruptionen. Alle elf Jahre nehmen sie zu. Dann vermehren sich die Polarlichter im Magnetfeld der Erde, der Satellitenfunk wird gestört. Das geschieht schon seit Jahrmillionen, doch jetzt erst berührt es uns, zu dieser Zeit mit dieser Technik. Bald ist diese und dann sind auch wir nur noch Vergangenheit. Denn die, die uns folgen, werden keine Menschen mehr sein. Und irgendwann wird auch unsere alte Heimat untergehen, denn dann dehnt sich Vater Sonn aus, schluckt Merkur und Venus und verbrennt Mutter Erde. Und alles, was dann noch darauf lebt, vergeht. So wird es geschehen.“
Mag sein, mag sein, denke ich, der ich hier und jetzt nicht in ungeborenen Feuern brenne, sondern hier draußen an den Grenzen des Sonnensystems schwebe, die gar keine Grenzen sind, denn das All ist grenzenlos.
„Oortsche Wolke“, flüstert die Stimme in mir einen Namen, der nur ein Menschenwort ist, nicht mehr.
So viel Leere überall, dort innen, dort außen. Und hin und wieder ein Körnchen Staub, ein Bröcklein Gestein, ein wenig Eis.
Ich bewege mich und setze die Bewegung in Gang. Einer der eisbedeckten Felsen treibt nach innen, hin zum Sonn. Einst wird er in den Augen der Menschen als neuer Komet aufgehen. Ich sehe ihn sich entzünden im Sonnenwind, spüre seinen Schweif, bin jetzt ein Teil von ihm, eins mit der Materie – Stein und Eis, taste mich durch ihn hindurch hin zur sonnenzugewandten Seite, beginne mich auch schon aufzulösen, empor- und davonzuwehen. Das hat doch was. So etwas ...
Jahrzehnte später schauen Menschen der Erde den Kometen. Diesmal jedoch waren es nicht Priester, die ihn als Zeichen Gottes und nahenden Unheils begreifen, Buße tun und auf das Ende der Welt warten, sondern Naturwissenschaftler, also Gläubige anderer Art, die ihn nicht mit bloßem Auge, sondern mit viel Technik viel eher, als es früher möglich war, entdeckten. Einer unter ihnen ist außer sich vor Freude, denn er meldete ihn als erster und gab ihm eine Nummer, und nun trägt der Komet seinen Namen. Jetzt ist dieser Mensch unsterblich - heißt es. Milliarden schauen - nicht in den Himmel, sondern meist über die Medien, staunend und ergriffen den neuen Kometen am Himmel aufgehen und wissen doch nicht, weshalb er da ist, wo er ist, und dass da ein Teil von ihm einst einmal von Manfreds Seele durchdrungen war. Der aber hat sich längst weiterentwickelt, ist nicht mehr allein, sondern mit den anderen verbunden, die sind wie er, es immer waren und sein werden.
Träume ich?
Ich sehe Kometen, Planetoiden, Monde, Planeten und Sonnen. Nach innen, nach außen, ringsherum im Kreis und hin und her, überallhin schweben sie im Raum, werden eingefangen, lösen sich, stürzen hinab, prallen auf, enden und enden doch nicht, sondern existieren weiter als Teil von etwas anderem. Solches geschieht mit Gasen, mit Flüssigkeiten, Gesteinen und den Körpern von Lebewesen. Menschen sehe ich. Nein, ich erkenne keinen unter ihnen, die da in Kitteln herumwuseln, als wären es Ameisen in einem Ameisenhaufen. Ja, jetzt erkenne ich, was sie da bauen. Mit Raketen schicken sie diese Satelliten von der Erde ins All. Die meisten von ihnen sind Augenblicke, Tage, Wochen, Monate, Jahre später nur noch Weltraumschrott. Weniger aber sind noch immer aktiv.
„Voyager“, flüstert die wohlbekannte Stimme in meinem Traum.
Ich sehe die beiden Voyager-Sonden dort schweben, jede mit einer goldenen Schallplatte unter der Schutzhülle auf der Außenseite, die für die „Ewigkeit“ und außerirdische Zivilisationen gemacht sein soll. Sehr lustig, denke ich. Dabei ist es doch ein Mensch, nun ja, eine menschliche Seele, der sie hier als erster findet. Andere Menschen in Weltraumschiffen werden mir folgen. Also stellt sich nicht die Frage nach den Aliens, sondern eine ganz andere über das Schicksal dieser und all der anderen Sonden: Wer wird sie - nach mir - zuerst finden? Werden es Weltraumpiraten sein, die sie ausschlachten, Konzerne oder eher doch eine Weltregierung, die sie einfängt und in ein Museum auf der Erde stellt? So oder so, wie es auch immer kommen mag, hier bei Voyager 2 frage ich mich nun, wo da ein Abspielgerät für die Platte ist. Kann keins entdecken. Doch halt, da ist es ja unter der Goldplatte mit der spinnennetzartigen Struktur verborgen. Schon ist die Scheibe aufgelegt, ein wenig Energie hinzugefügt, und die Grußworte in ach so vielen Sprachen an, aha, Deutsch, von einer Frauenstimme gesprochen, ist ja auch dabei, erklingen: „Herzliche Grüße an alle!“ Dann vernehme ich die Worte eines amerikanischen Präsidenten, der es längst nicht mehr ist, und stimme ihm zu. So ist es. Die Menschheit hat tatsächlich so lange überlebt, um mein Zeitalter zu erleben. Haha. Ach so, wird mir klar, ich bin ja gar nicht der Adressat, gemeint ist ja eine ferne außerirdische Zivilisation. Ich lausche dem Wind und dem Donner. Tierstimmen erklingen und die Musik der Welt - die alten Lieder der Völker, Bach, Mozart und Jazz.
Weine ich?
Ich tue es - tränenlos.
Und schon flüstert die Stimme mir ein anderes Wort zu, das da lautet: „Pioneer 10.“
Ich sehe den Satelliten in mir, während ich durch die Leere schwebe. Nein, er trägt keine Schallplatte, sondern eine goldene Plakette: Mann und Frau, Sonn mit seinen Planeten und der Kurs, der vom dritten nach außen führt, und weitere Zeichen.
Wo bist du jetzt? Noch immer auf dem rechten, sorry, richtigen Weg?
„Aldebaran ist der Name des Sterns, den du in zwei Millionen Jahren erreichen sollst“, höre ich es flüstern.
Ich kichere. Welch ein Witz, als ob sich die menschliche Raumfahrt nicht weiterentwickeln würde. In ein paar Jahren werden Pioneer 10 und all die anderen alten Sonden sowie der Weltraumschrott von Menschen oder deren Maschinen eingesammelt werden. So wird es sein und nicht anders.
Doch das ist Zukunft.
Ich bin hier und jetzt, auf Erden gestorben, doch immer noch existent.
In alle Ewigkeit? In dieser Form? Allein? Und wohin geht meine äußere Reise überhaupt, von der inneren einmal ganz zu schweigen?