Читать книгу Und dann war Totenstille - Rainer Ballnus - Страница 5

Werner Kröling saß an seinem Schreibtisch…

Оглавление

… und hatte eine Tasse Kaffee vor sich. Eigentlich saß der Leiter der Lübecker Mordkommission gar nicht richtig auf seinem Bürosessel, sondern rutschte immer auf ihm hin und her.

„Sag’ mal, Werner, hast du was?“

Das war Liesa Freseke, die jüngste Mitarbeiterin in seinem Team und seine beste, wie er stets gegenüber den männlichen Kollegen betonte. Und weil sie die einzige Mitarbeiterin war, durfte er das auch ungestraft tun.

„Wieso?“, fragte Kröling zurück.

„Na, Mensch, so als Zappelphilipp kenne ich dich sonst gar nicht“, meinte Liesa erklärend. Und sie hatte recht, seit einigen Tagen war der Boss der Mordkommission irgendwie anders, vor allem war er oft schlecht gelaunt. Und das kannte sie eben auch nicht von ihm.

„Vielleicht solltest du mal Urlaub machen, Werner.“

Jörg Unger saß ihm ebenfalls gegenüber und nippte an seiner Kaffeetasse. Er war der „alte Hase“ im Team, und ihn konnte so gut wie nichts erschüttern.

„Ach lasst mich doch einfach mal in Ruhe!“

Kröling stand stöhnend auf und warf ein beantwortetes Fax ins Ausgangsfach.

„Da holt es sowieso keiner ab, Werner. Hast du vergessen, Maike hat ab heute Urlaub.“

Liesa konnte sich diese Spitze nicht verkneifen, doch sie war nicht böse gemeint, denn dafür schätzte sie seinen zwar etwas raubeinigen, aber doch herzlichen Umgangston. Mit Maike meinte sie die Schreibkraft. Der MK-Leiter hatte ihr jetzt den Kurz-Urlaub quasi ‚verordnet’, weil sie im Kommissariat für Tötungsdelikte „Saure-Gurken-Zeit“, sprich wenig zu tun hatten. Kröling erwiderte nichts, sondern nahm wieder an seinem Schreibtisch Platz. Er war mit sich selbst unzufrieden und es ärgerte ihn, dass die anderen offenbar etwas davon mitbekamen. Seine Frau war vor gut einem Jahr gestorben und seither hatte er noch nicht wieder recht Tritt gefasst. Er wusste nicht, ob es noch die Trauer war oder ob er Angst hatte, wieder voll ins Leben einzutreten. Kollegen, Freunde hatten ihn wirklich nach dem schrecklichen Ende seiner an Brustkrebs verstorbenen Frau gut aufgefangen und begleitet. Doch jetzt spürte er immer mehr, wie sie hinter seinem Rücken die Augen verdrehten und manche drückten ihr Unverständnis auch verbal aus. „Du musst endlich wieder unter Leute, Werner“ oder „Du verkriechst dich ja immer mehr in dein Schneckenhaus, anstatt das Leben wieder einfach mal auszuprobieren.“ Die hatten alle gut reden. Nur einer verstand ihn. Leo Oberhof, sein Chef.

„Möchtest du nicht doch…“

Werner Kröling erschrak. Jörg Unger schob ihm den Teller mit den belegten Brötchen rüber. Es war ein festes Ritual in ihrer Runde. Wer Geburtstag hatte, war zu Kaffee und Brötchen „verdonnert“. Und der „alte Hase“ hatte heute Geburtstag.

„So, damit das Drängeln endlich aufhört: Ich habe Magenschmerzen! So einfach ist das. Es tut mir Leid, Jörg, ausgerechnet an deinem Geburtstag. Aber lasst mich einfach in Ruhe! Okay?“

Der Chef-Ermittler schaute seine beiden Kollegen streng an und fasste kurz an seinen Bauch. Die beiden warfen sich einen schnellen Blick zu, konnten sich ein leichtes Grienen nicht verkneifen, und Liesa meinte trocken:

„Das hättest du uns doch gleich sagen können, dann hätte Jörg einiges an Kosten eingespart.“

Kröling wollte gerade aufbegehren, da klingelte das Telefon im Sekretariat, gleich nebenan mit offener Verbindungstür.

Liesa machte Anstalten, sich zu erheben, doch der Chef winkte ab.

„Lasst man, esst nur noch ein paar Brötchen mehr. Ich wisst ja, wer den Schaden hat…“, meinte Kröling ein wenig ironisch und erhob sich stöhnend. Er stakste, anders konnten die beiden seinen Gang nicht nennen, ins Büro der Sekretärin und nahm den Hörer ab. Und die beiden hörten zwischendurch immer wieder mal ein ‚ja’ oder ein ‚aha’. Nach dem Auflegen kam der MK-Leiter zurück. Die beiden Kollegen schauten ihn neugierig an, denn sie hatten Mordbereitschaft. Sein Gesicht blieb ausdruckslos, als er sagte:

„Da kommt etwas auf uns zu, das wird euch nicht gefallen!“

Christian Baader schritt betont langsam durch die Räume seiner Villa. Niemand war im Haus. Über den Möbeln waren weiße Laken ausgebreitet. Vorsichtig nahm er sie ab, setzte sich in einen bequemen Sessel und schaute durch die riesige Fensterscheibe seiner Wohnhalle nach draußen in die herrliche Blütenpracht im Grünen. Dabei strich er immer wieder über den Velours der Sessellehne. Er wirkte sehr nachdenklich. Ein leiser Stoßseufzer kam über seine Lippen. Doch dann schlug er mit beiden Händen auf die Armlehnen, stützte sich ab und sprang aus dem Sessel.

„So, nun ist genug gejammert!“, gab er sich selbst einen Ruck. Nach einer kurzen Inspektion der anderen Räumlichkeiten nickte er zufrieden, trat durch die Eingangstür nach draußen, blickte zur Grundstückseinfahrt und registrierte den Motorradfahrer, auf dem Krad sitzend, den Vollschutzhelm mit dem heruntergeklappten Visier auf dem Kopf und offenbar eine Landkarte studierend.

Baader schaute nach oben in den blauen Himmel und murmelte:

„Es wird langsam Zeit.“

Auf einer leicht abschüssigen Straße, inmitten eines hohen Tannenwaldes, den die Sonne kaum durchdringen konnte, war in einiger Entfernung der Ruf eines Waldkauzes zu hören. Es herrschte nur sehr wenig Verkehr. Gerade als ein Lkw die Straße mit ziemlicher Geschwindigkeit entlang donnerte, schaffte es ein Rehkitz im letzten Moment, rechtzeitig die Fahrbahn unverletzt zu überqueren.

Etwa zweihundert Meter nach einer leichten Rechtskurve ragte in Fahrtrichtung Schönwalde ein hoher Betonmast für eine Oberleitung hervor. Er stand ungefähr drei Meter vom linken Fahrbahnrand entfernt an einer ansteigenden Böschung. Neben diesem Mast stand ein Mensch, angelehnt und telefonierte mit einem Handy.

„Nein, ich kann dir nicht sagen, wo ich jetzt bin, und was ich gerade tue. Begreif es doch endlich! Ich bin erwachsen und kann frei entscheiden!“

Doch der Anrufer schien sich nicht so leicht abspeisen zu lassen.

„Damit du es endlich weißt, ich will nicht in deine Firma einsteigen, niemals! So und jetzt lege ich auf, ich habe zu tun!“

Wütend drückte der Mensch die Austaste, steckte das Handy in seine Jeanstasche und bückte sich nach unten. Dort lag etwas, was er in den nächsten Minuten dringend benötigte. Gerade wollte er es aufheben, da klingelte sein Mobiltelefon erneut.

„Oh, nein, nicht schon wieder!“, stöhnte er zwar laut auf, kam aber wieder aus der Hocke nach oben und schaute auf dem Display nach der Nummer. Eiligst meldete er sich.

„Na endlich. Das wurde ja auch langsam Zeit!“

Nach einem kurzen Zuhören waren nur noch ein kurzes „ja“ und wenig später ein „okay“ zuhören, und danach war das Gespräch beendet. Der Mensch hörte einen vorbeifahrenden Wagen, ohne ihn zu sehen, drehte sich um und sah in den Wald.

„Hoffentlich geht alles gut“, murmelte er und bückte sich noch einmal. Ihm war alles andere als wohl in seiner Haut.

Baader verließ die Villa durch den Haupteingang in Motorradkleidung. Auf dem Weg zur Garage löste er per Fernbedienung ein Funksignal aus, und das Tor öffnete sich wie von Geisterhand.

In der Garage parkten zwei schwere Wagen und ein wenig abgesetzt davon stand an der rechten Seite ein aufgebocktes Motorrad, abgedeckt mit einer Plane. Baader nahm sie behutsam ab und schaute verliebt auf seine Maschine. Das Metall blinkte beinahe staubfrei.

„Da hat Lauscher ja wirklich Wort gehalten“, sprach er fast andächtig leise und fuhr mit der Hand über den blitzenden Silbertank und den Ledersitz. Doch dann gab es für ihn kein Halten mehr. Plötzlich schien er es sehr eilig zu haben, nahm die Maschine vom Bock, rollte sie nach draußen, startete sie, und der Motor sprang auf Anhieb an. Der tiefe Sound des Motors versetzte ihn in Hochstimmung.

„Was kann es Schöneres geben“, jubelte Baader mit rauer Stimme und schmunzelte dabei, klappte das Visier hinunter, schwang sich auf sein Krad, spielte ein paar Mal mit dem Gas und dann fuhr er los. Im Rückspiegel sah er, wie das Tor sich wieder wie von selbst schloss. An der Grundstückseinfahrt wiederholte sich das Spielchen. Und dann war es endlich soweit. An der Einmündung zur Straße schaute er nach rechts und nach links. Er sah wieder den Kradfahrer, der immer noch auf seiner Maschine saß und vermutlich in einer Autokarte las. Baader zögerte einen Augenblick. Er überlegte, ob er ihn ansprechen sollte. Vielleicht brauchte der ja eine Orientierungshilfe. Doch auf der anderen Seite hätte er ja schließlich von sich aus ein Signal geben können, dachte er, und überhaupt, ich will jetzt los. Entschlossen, sofort sein Vergnügen zu suchen, gab er Gas und brauste davon.

Der unbekannte Motorradfahrer schaute dem davonfahrenden Baader nach. Als dieser hinter der nächsten Straßenbiegung seinen Blicken entschwand, tippte er in sein Handy eine Nummer ein und betätigte die Freisprecheinrichtung.

Der Mensch in der tiefer gelegenen Straßenböschung hatte sich zwischenzeitlich von dem Hochspannungsbetonmast gelöst und die Straßenseite gewechselt. Jetzt stand er auf der rechten, ebenfalls leicht abschüssigen Böschung an der Straße nach Schönwalde, mitten im Wald, genau neben einer riesigen Tanne. Mehrmals hatte er bereits nach oben in den Himmel geschaut, und ihm war regelrecht schwindelig geworden. Über seinem Kopf schien sich der Himmel zu drehen. Plötzlich klingelte sein Handy, und als habe er darauf gewartet, griff er schnell in seine Hosentasche und presste wenig später das Mobiltelefon an sein Ohr, denn genau in diesem Augenblick fuhr offenbar wieder ein Laster mit großem Getöse die recht hügelige Straße entlang. Nach kurzem Hineinhören sagte er: „Okay, ich weiß Bescheid. Was? Ja, verdammt!“

Seine Stimme klang verärgert. Genau so schnell, wie er das Handy aus seiner Hosentasche gezaubert hatte, so schnell war es auch wieder in ihr verschwunden.

„Na, denn wollen wir mal“, murmelte er.

Bevor er am Fuße der Tanne in die Knie ging, lauschte er angestrengt. Doch er nahm nur die natürlichen Waldgeräusche wahr. Der Lastwagen war längst nicht mehr zu hören.

Baader ging mit seinem Körper betont lässig in jeder Kurve mit seiner Maschine mit, die Oberschenkel eng an den Tank gepresst. Wie lange hatte er sich auf diesen Moment gefreut. Er genoss es, an die Hügelkuppen mit Vollgas heranzubrausen, auf der Spitze für einen Moment den Boden unter den Rädern zu verlieren, um dann wieder mit dem Fahrwerk aufzusetzen und erneut nach unten zu brausen. Bei dem wenigen Straßenverkehr war das Risiko eines entgegenkommenden Fahrzeugs kalkulierbar. Weit und breit war niemand zu sehen, und mit einem kurzen Blick in den Rückspiegel vergewisserte er sich, dass auch niemand hinter ihm fuhr. Besonders freute er sich auf die nächste Rechtskurve der leicht abschüssigen Fahrbahn. Der Hotelier, der seine Freiheit wieder gewonnen hatte, gab auf der Geraden Gas und das nicht zu wenig. Er schaute kurz auf die Armaturen und als er den Blick wieder hochnahm, lag vor ihm die Rechtskurve. Elegant legte er sich mit der Maschine nach rechts, ein wenig zu weit, denn die Fußraste schrammte leicht den Asphalt und versprühte einige Funken, doch er schaffte es, nicht aus der Bahn geworfen zu werden, und wollte gerade ausgangs der Kurve beschleunigen, da tauchte in seinem Gesichtsfeld urplötzlich ein gespanntes Seil auf, genau in seiner Augenhöhe. Bevor er überhaupt irgendwie reagieren konnte, bremste dieses Seil etwa in Kinnhöhe abrupt seine Fahrt. Es riss ihn von der Maschine, und innerhalb von Sekunden war sein Körper von der dicht bewachsenen Böschung am rechten Fahrbahnrand aufgenommen und verschluckt worden. Das Motorrad war zeitgleich noch ein paar Meter ohne ihn weiter gefahren und dann ebenfalls nach rechts in die Böschung hinabgestürzt. Nur wenige Sekunden später erstarb der Motor der Maschine. Und dann war Totenstille. Nicht einmal der Waldkauz schrie.

„Schatz, ich weiß nicht…wenn nun doch jemand kommt.“

Die junge Frau hielt inne und lauschte.

„Aber Bienchen, Liebes, wer sollte uns hier stören? Sieh dich doch um. Alles nur Wald und viele, viele Büsche. Kein Mensch weit und breit. Vielleicht ein Hase oder ein…“

„Ach Thorsten, Liebster, du hast ja recht. Ich sehe überall Gespenster. Und dabei ist es doch nur wichtig, dass wir zusammen sind!“

Sie umschlang ihren heimlichen Geliebten, und sie küssten sich lange und intensiv. Plötzlich löste sie sich von ihm und schaute erschrocken nach rechts.

„Hörst du, Toddy, da kommt ein Auto!“

Ihre Stimme klang aufgeregt und schrill.

„Aber Bienchen. Das ist doch nur die Straße, auf der wir auch gekommen sind, nach Schönwalde“, gelang dem jungen Mann, seine Freundin zu beruhigen. Eng umschlungen gingen sie weiter, turtelten miteinander, blieben stehen, küssten sich heiß und innig. Für einen Moment schienen sie ihre Umwelt vergessen zu haben. Die junge Frau stellte sich auf Zehenspitzen, biss ihrem Freund zärtlich ins Ohrläppchen und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Er schaute sie verlangend an, küsste sie, drehte seinen Kopf in alle Richtungen und flüsterte dann:

„Wart’ Schatz, ich suche uns ein lauschiges Plätzchen. Ich bin gleich wieder zurück.“

Er ging ein paar Schritte auf ein Gebüsch zu, nahm mit beiden Händen ein paar Zweige beiseite, war für einen Moment nicht mehr zu sehen. Doch dann hörte sie seinen kurzen Aufschrei, und wenig später stürzte er aus dem Gebüsch hervor, kreidebleich und an allen Gliedern zitternd.

„Da… da liegt ein Mensch, in Motorradkleidung…“. Und als er merkte, dass seine Freundin nachschauen wollte, da versperrte er ihr mit seinem Körper den Weg.

„Nein, Bienchen! Nein! Ich glaub’ der Mann ist… er ist tot!“

Sie hielt ihre Hand an ihren Mund und begann zu wanken. Der junge Mann fing sie auf, holte sein Handy aus der Jeans und drückte die Notruf-Taste 1-1-0.

Kröling wirkte nachdenklich. Was sollte er machen? Zum Arzt gehen, nur weil er Sodbrennen hatte? Die würden ihn doch auslachen in der Praxis. Früher, da hatte er alles mit seiner Ingrid besprechen können. Und immer, wenn er so dachte, erfasste ihn Wehmut. Die Kollegen und Freunde hatten wahrscheinlich recht. Er musste den entscheidenden Schritt ins Leben endlich wieder wagen. Seine Ingrid würde wahrscheinlich ein wenig schmunzelnd gesagt haben ‚wegen Sodbrennen zum Arzt, Liebling. Das vergeht doch wieder’. Aber da war ja noch was anderes. Sein ganzer Oberbauch krampfte manchmal derart, dass er kaum Luft holen konnte. Und nach dem Tod von seiner Frau dachte er nur an Krebs, wenn ihn irgendwelche Stiche oder Krampfanfälle plagten. Er hatte einfach Angst. Aber er traute sich nicht, mit jemandem darüber zu sprechen, auch nicht mit seinen beiden Mitstreitern. Liesa wäre die einzige, der er sich anvertrauen würde und einmal hatte er sogar etwas angedeutet, aber mehr auch nicht. Und Leo Oberhof, der Inspektionsleiter und damit sein Chef. Und er war nicht nur sein Chef, sie waren auch befreundet. Doch der arme Kerl hatte mit sich und seinem Schicksal selbst zu tun. Seine Frau war ein Jahr früher als Ingrid gestorben. Und damit nicht genug. Er selbst war danach auch erkrankt. Niemand wusste genau, was es war, was ihn manchmal über Wochen ausfallen ließ. Und auch Werner Kröling kam nicht an ihn heran. Er hatte das Gefühl, als wolle Leo Oberhof ihn bewusst schonen. Und auch der MK-Leiter verhielt sich aus gleichem Motiv sehr zurückhaltend seinem Chef gegenüber.

„Mensch, Werner, ich habe es doch vorgestern nicht so gemeint“, versuchte Liesa die verkorkste Stimmung ein wenig aufzuhellen.

„Was vorgestern?“, fragte der Chef der Mordkommission zurück, völlig aus seinen Gedanken gerissen.

„Na ja, mit den Kosten für die belegten Brötchen“, erklärte die Kollegin beschwichtigend.

„Ach was. Das ist doch Schnee von gestern. Nee, nee, lasst mich nur einfach in Ruhe, okay?“

Seit ein paar Tagen wurde er immer ungenießbarer. Doch Liesa Freseke und Jörg Unger wussten beide, dass sie nicht weiter nachbohren durften.

„Sag’ uns lieber, was der Alte von uns will“, forderte Jörg Unger seinen Chef auf, den Inhalt des Telefonats mit dem Direktionsleiter zu verraten. Werner Kröling hatte zwar vor zwei Tagen am Geburtstag von Jörg so geheimnisvolle Andeutungen gemacht, aber es dann doch vorgezogen zu schweigen. Es gab Personalplanungen, jedoch noch nicht ausgereifte. Aber gerade erst heute in der Kommissariatsleiterrunde beim Direktionsleiter waren die Konturen dieser neuen Personalplanung geschärft worden.

„Also gut, ihr habt es nicht anders gewollt. Und ich warne euch, es wird euch nicht schmecken…“

„Nun mach schon, Werner!“, forderte jetzt auch Liesa. „Schließlich haben wir ein Recht auf vollständige Informationen!“, setzte sie noch nach.

„Nun denn.“ Kröling lehnte sich in seinem Bürostuhl etwas nach hinten und fasste wieder reflexartig an seinen Bauch, nahm seine Hand aber sofort wieder von dort, weil er den ohnehin mitleidigen Blick seiner Kollegen nicht noch verstärken wollte.

„Der Alte meinte, wir hätten im Moment so’ne Art Sommerloch und…“

„Sommerloch?! Spinnt der?“, echauffierten sich beide Mitstreiter wie aus einem Munde.

„Siehe, ich habe es euch zuvor gesagt“, zitierte der Chef-Ermittler ironisch irgendeine Bibelstelle und grinste dabei.

„Na ja, jedenfalls meinte er, dass einer von euch…“, er stockte.

„Oh ne. Das hatten wir doch schon mal!“ Liesa drehte sich zu ihrem Kollegen Jörg um.

„Kannst du dich erinnern? Vor einem Jahr, da sollten wir die Kollegen vom Raub unterstützen und…“

„Dieses Mal sind es die Männer vom Einbruch, die um Hilfe schreien“, nahm Werner Kröling seinen Gesprächsfaden wieder auf.

Die beiden stöhnten laut auf. Der Grund dafür war nicht der, dass sie es für unter ihrer Würde hielten, in einer Einbruchssache zu ermitteln. Solche Kollegen gab es auch in ihren Reihen. Nein, sie begehrten deshalb auf, weil der Alte einfach keine Ahnung von ihrem Geschäft hatte. Der glaubte, wie die meisten, die keinen blassen Schimmer von Ermittlungen in Kapitalverbrechen hatten, dass es nach einem geklärten Mord nichts mehr zu tun gab. Und ihr letzter Mord, der lag gerade erst einen Monat hinter ihnen, ein ziemlich grässlicher sogar. Ein Fünfzehnjähriger hatte seine Mutter im Schlaf kaltblütig regelrecht „abgestochen“. Und genauso hatte er es in seiner Vernehmung ausgedrückt. Und das nur, weil sie ihm keine Taschengelderhöhung zugestanden hatte. Natürlich wussten sie alle, dass mehr dahinter steckte. Und genau das war ihr Job nach der Inhaftierung dieses jungen Mörders. Sie mussten an das eigentliche Motiv herankommen.

„Das darf doch nicht wahr sein!“ Jörg sprang auf und rannte wie ein Tiger durch das Büro seines Chefs.

„Kann denn nicht dein Freund Leo für uns eine Lanze brechen? Das hat er doch früher auch immer getan!“

„Ja, eben. Von dem hört man doch eh nur Gutes. Und so wie ich ihn kennen gelernt habe, weiß er doch genau, was wir Mordermittler tun, wenn wir gerade nicht in einem aktuellen Fall recherchieren“, ergänzte Liesa, die natürlich nicht die Erfahrung wie ihr Kollege Jörg einbringen konnte, die aber in der kurzen Zeit ihrer Zugehörigkeit bei der Mordkommission die Qualität von Leo Oberhof erkannt hatte. Das Telefon klingelte, diesmal bei Kröling direkt. Der nahm ab, hörte kurz hinein, bedankte sich und legte auf.

„Das waren die Kollegen vom Bezirksrevier Eutin, genauer gesagt, der Chef der Truppe, den ich persönlich kenne. Da ist ein Motorradfahrer tödlich verunglückt.“

Seine beiden Mitstreiter schauten ihn irritiert an.

„Der Kollege meinte, dass uns vielleicht der Name des Toten interessieren würde, ein gewisser Baader, der…“

„Christian Baader?“, platzte Jörg dazwischen, und Kröling nickte. Liesa verstand immer noch nichts.

„Das ist doch der Typ, der vor sechs Jahren seine Frau umgebracht hat, erinnerst du dich, Werner?“, erklärte Jörg.

„Genau“, nickte Werner Kröling sofort, „und die Richter hatten ihm nur deshalb acht Jahre aufgebrummt, weil ihm kein Mord nachzuweisen war. Ich glaub’, irgendwie ging es darum, ob seine Tat als Affekthandlung zu werten war oder eben nicht.“

Kröling richtete sich in seinem Bürostuhl auf. In Richtung Liesa gewandt bemerkte er noch: „Ich war zwar zu der Zeit noch in Kiel und kenne diesen Fall nicht persönlich. Aber ich habe natürlich von diesem damals ziemlich spektakulären Tötungsdelikt gehört.“

Liesa nickte verstehend.

„Jedenfalls ist dieser Baader vor zwei Tagen wegen guter Führung auf Bewährung entlassen worden.“

Er legte eine Kunstpause ein und fuhr dann gönnerhaft fort:

„Eigentlich geht uns das ja nichts an, aber, wenn ich darüber nachdenke, dann wäre es doch ein geschickter Schachzug, wenn…“

Weiter kam er nicht, denn Liesa sprang auf und drückte ihrem Chef einen Kuss auf die Wange.

„Mensch, Werner, du bist ein wunderbarer Chef. Na klar, wir greifen den Kollegen bei der Spurensuche ein wenig unter die Arme! Was meinst du, Jörg?“ Sie sah ihren Kollegen augenzwinkernd an.

„Selbstverständlich! Immerhin war der Tote ein Totschläger, der uns vielleicht noch etwas erzählen kann.“

So eilig hatte der Chef der Mordkommission seine beiden Kollegen selten das Büro verlassen sehen.

Jörg Unger stand oben am Fahrbahnrand und schaute die Böschung hinunter. Die Kollegen der Schutzpolizei hatten die Straße komplett gesperrt. Gerade arbeitete sich der Kollege von der Kriminaltechnik an der Böschung nach oben. Er war bis jetzt unten gewesen, dort, wo das Liebespaar den Toten und unweit davon entfernt das Motorrad gefunden hatten.

„Ein Wunder, dass kein Brand entstanden ist, bei der Trockenheit im Moment“, stöhnte er in der Hitze. Unger nickte.

„Und?“, fragte er. „Was gefunden?“

„Bis jetzt nichts Besonderes. Vielleicht gibt die Leiche ja noch was her, ich meine vor der Obduktion. Aber da ist noch der Arzt dran.“ Er wollte sich verabschieden.

„Es ist heiß heute, und bei mir im Labor, da wartet noch einiges…“

„Schon gut, Walter. Ist wohl auch nichts für uns. Danke, dass du mitgekommen bist.“

Jörg Unger klopfte dem Kollegen auf die Schulter, und der kroch unter der Absperrung durch, um zu seinem Wagen zu gelangen. Der Ermittler schaute ihm noch kurz hinterher, und als er sich umdrehte, wäre er beinahe mit Liesa zusammengestoßen.

„Mein je, war der Arzt pingelig. Hat sich alles genau angeschaut, bevor er den Totenschein unterschrieb. Erst als der Unfallsachbearbeiter ihm klar machte, dass der Leichnam ohnehin obduziert wird, zeigte er sich zugänglicher“, maulte die Ermittlerin und stöhnte ob der Hitze.

„Dabei hattest du es doch noch gut, dort unten im Schatten, hier oben gibt es schon ein paar mehr Lücken, durch die die Sonne erbarmungslos scheint“, spöttelte ihr Kollege Jörg.

„Aber mal im Ernst, hast du etwas entdeckt, was uns weiterbringt?“

Erst jetzt holte Liesa hinter ihrem Rücken einen Motorradhelm hervor.

„Den muss der Tote getragen haben.“

„Ja und, was ist daran so Besonderes?“, tat ihr Kollege verwundert.

„Also zum einen ist nach der ersten Leichenschau durch den Arzt festzuhalten, dass der Kopf am Hals beinahe hälftig abgetrennt ist und zum anderen…“

„Das ist doch klar, der ist oben auf der Straße ins Schlingern geraten, durch die Luft geschleudert und dann wahrscheinlich mit seinem Helm gegen einige Baumäste oder Gebüschzweige gekommen, bevor er unten am Böschungsfuß aufgeschlagen ist“, unterbrach Jörg seine Kollegin mit seiner Erklärung. Diese nickte.

„Das dachte ich auch. Doch ich habe mir den Helm ein wenig genauer angesehen.“

Sie drehte den Helm nach vorn um und meinte: „Schau mal genau hin. Mal sehen, ob dir auch was auffällt.“

Gespannt schaute Liesa ihren Kollegen an, und als der seinen Blick wieder hoch nahm, wusste sie es. Auch er hatte offenbar etwas Besonderes auf dem Motorradhelm des Toten entdeckt.

Und dann war Totenstille

Подняться наверх