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Der Spürhund

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Bernd Saxe sprang die letzten Stufen im schäbigen Flur eines vierstöckigen abgewirtschafteten Mietshauses in Lübeck hinunter und trat ins Freie. Er kam gerade von seiner neuen Flamme und war happy. Sie hatte nach wochenlangem Tauziehen endlich eingewilligt, dass er mit seinen Klamotten zu ihr ziehen konnte. Er rieb sich schon innerlich die Hände, wenn er auch nur daran dachte, dass er seiner schlampigen Wirtin, bei der er zur Untermiete hauste, den Türschlüssel vor die Füße werfen konnte. Ausgenutzt hatte sie ihn, diese alte Hexe. Der schlaksige Maurergeselle hörte die Kirchturmuhr schlagen. Es war kurz vor Mitternacht. Er war noch nicht müde. Ein Drink im ‘Riverboat’ könnte nichts schaden. Bernd schlug sich in der grauen Novembernacht den abgewetzten Kragen seiner Jeansjacke hoch und legte ‘einen Zahn’ zu. Aus den offenen Türen der Kneipen schlugen ihm dicke Rauchschwaden und lautes Gegröle entgegen. Es roch nach Schnaps und Bier. Er überholte einen Mann, der mit einer gefährlichen Schlagseite vor ihm hertorkelte und sprang fröhlich pfeifend in seinen ausgelatschten Turnschuhen von einer Pfütze zur anderen, und so sah er sie erst spät, die wilde Horde. Sie kamen ihm auf seiner Straßenseite entgegen, laut johlend und trinkend. Bernd war kein Feigling, aber clever genug, ihnen aus dem Wege zu gehen. Doch keine zehn Meter vor ihm nahmen sie ihn urplötzlich in die Zange. Sie tanzten und feixten um ihn herum, bespritzten ihn mit Bier und Rotwein und schubsten ihn von einem zu anderen.

Bernd biss die Zähne zusammen. Jetzt nur keine Angst zeigen, dachte er bei sich und versuchte, mit einem gleichmütigen Gesicht eine Lücke zu erwischen. Doch die Bande schien seine Absicht erkannt zu haben und machte sich einen Jux daraus, ihm ein Bein zu stellen.

„Rück die Kohle raus, Macker!“ „Soll er mal Pflasterbeißen spielen?“ „Macht ihn platt, Jungens!“

Bernd rappelte sich auf. Solche Sprüche kannte er natürlich. Ihm wurde heiß. Er hatte keine andere Wahl, rannte mit aller Macht gegen die Mauer, die der Haufen gebildet hatte und kämpfte wie ein Löwe, doch da trat ihm einer mit seinem Stiefel gegen sein rechtes Ohr. Der Schmerz betäubte ihn fast, und bevor er Luft holen konnte, traf ihn der nächste Fußtritt im Gesicht. Die Lippen platzen auf, und das warme Blut lief ihm über das Kinn. Beinahe ohnmächtig vor Schmerzen und vor Angst schlug er wie wild um sich, aber er hatte keine Chance. Unbarmherzig prügelten sie völlig wahllos auf ihn ein. Er brach in die Knie, hielt seine Arme noch schützend vor sein Gesicht, doch die Hiebe mit den Totschlägern und Fahrradketten trafen ihn, immer und immer wieder. Bernd konnte nichts mehr sehen, beide Augenbrauen waren längst aufgeplatzt. Ein Keulenschlag auf den Hinterkopf ließ ihn nach vorn aufs dreckige Pflaster fallen. Das letzte, was er hörte, war irgendwo in der Ferne ein Martinshorn.

„Los Männer, an die Arbeit. Ich will, dass ihr jeden Stein umdreht, jedes Blatt hochhebt, jede Pfütze absaugt! Kommt mir nur nicht an und sagt, dass ihr nichts gefunden habt!“

„Aber Chef, Sie wissen doch ganz genau, dass wir immer mit Biss arbeiten, gleichgültig, was gesch...“

„Junger Mann, Sie sind neu in meiner Truppe. Fragen Sie mal die Jungens, was ich gewöhnlich mit Mitarbeitern mache, die mir in den ersten 24 Stunden nach einer Bluttat widersprechen!“

Oberkommissar Rautenberg presste die Lippen hart aufeinander, und seine Kollegen, die ihren Boss genau kannten, nickten nur. Bei solch brutalen Verbrechen holte er aus seinen Leuten alles heraus, und jedes Aufmucken war für ihn ein persönlicher Angriff. Und das hier war glatter Mordversuch, wenn der junge Bernd Saxe überhaupt durchkam. Das feige Gesindel war natürlich längst über alle Berge, und Rautenberg, der seine ‘Kundschaft’ nur zu gut kannte, setzte bei seinen Ermittlungen ganz auf die Spuren. Zeugen gab es so gut wie keine. Alle hatten sie Angst, Angst vor dieser wilden Horde.

„Ich fahre in die Klinik. Sie stehen mir für alles gerade“, raunte der Chef-Ermittler seinem Vertreter zu. Doch er wusste, er konnte sich ganz und gar auf seine Truppe verlassen, nicht zuletzt waren er und seine Mannschaft als ‘Spürhunde’ geradezu verschrien.

Wenig später streifte Rautenberg den grauen Kittel über und betrat mit einem Mundschutz die Intensivstation. Der mit dem Tod ringende Bernd hatte gerade in diesem Moment die Augen aufgeschlagen. Der Arzt gewährte ihm ganze drei Minuten. Aus dem Kopfverband des Geschundenen lugten nur die Augen und ein schmaler Mund hervor. Der Oberkommissar nutzte seine Chance.

„Wenn dir was Besonderes einfällt, drück’ meine Hand.“

Rautenberg hatte Geduld, und plötzlich spürte er den leichten Händedruck. Er beugte sich ganz tief zu ihm hinunter, legte sein rechtes Ohr an die Mundöffnung und lauschte angestrengt.

„So, das langt.“

Der Oberarzt zog ihn an der Schulter nach oben. Rautenberg nickte und schaute sich kurz noch die Fingerkuppen der rechten Hand an. Was er gehört und gesehen hatte, reichte ihm.

„Chef, wir haben alles auf den Kopf gestellt, und Sie können mir glauben, ich habe alle mächtig unter Dampf gesetzt, aber es war wie verhext...“

„Soll das etwa heißen, ihr seid nicht fündig geworden?“

Rautenberg schaute seinen Vertreter Kroller mit zusammengekniffenen Augen an.

Doch der nickte nur. Er wusste, dass der Alte das nicht akzeptierte. Und er hatte recht.

„Menschenskind, muss man denn hier alles selber machen? Wie oft muss ich noch sagen, es gibt keinen Tatort, an dem keine Spuren zu finden sind...“

„Aber, Chef, wir...“

„Kein aber!“ Der Spürhund ließ ihn nicht ausreden, rannte raus, knallte laut schnaubend die Bürotür hinter sich zu, schnappte sich den Dienstwagen, und Minuten später schnüffelte er am Tatort und hielt seine Augen dicht über dem Pflaster. Er wusste auch, dass seine Chancen gleich null waren, aber er konnte es nun mal nicht lassen. Doch seine Truppe hatte wirklich saubere Arbeit geleistet. Er fluchte leise vor sich hin und wollte gerade aus seiner gebückten Haltung nach oben kommen, da griff er wie von selbst nach einem Stängel eines fast vermoderten Blattes, doch es war gar kein Stängel, den er in der Hand hielt.

Drei Wochen später. Der junge Bernd hatte den feigen und brutalen Überfall nicht überlebt. Rautenberg hatte mit seiner Truppe nochmals ordentlich Druck gemacht und sämtliche Kneipen ‘durchgekämmt’, aber alle reagierten nur mit einem eisigen Schweigen. Trotzdem, er gab nicht auf. Irgendwo musste es doch eine undichte Stelle geben. Gerade kam er mit seiner Mannschaft aus einer Pinte in der Fischergrube.

„Wir machen morgen weiter. Wir werden ja wohl noch jemanden finden, der auf die 5.000 Euro Belohnung scharf ist, verdammt noch mal.“

„Ich weiß nicht Chef, aber vielleicht sollten wir parallel auf die Schnelle in die Sendung Aktenzeichen xy, gehen“, meinte der junge Heißsporn, der am Anfang aufgemuckt, aber inzwischen längst erkannt hatte, dass der Leiter der Mordkommission ein mit allen Wassern gewaschener ‘Krimscher’ war. Rautenberg musste innerlich grienen.

„Keine schlechte Idee, junger Mann, nur ich war einen Schritt schneller.“

„Soll das heißen, dass Sie schon...“

„Genau, aber machen Sie sich nichts draus. Vielleicht klappt’s beim nächsten Mal. Also, ich schau noch mal auf’n Sprung bei der Wache vorbei, macht’s gut Jungens“, verabschiedete er sich. Ein paar Straßenecken weiter hörte er schon den Lärm vom Revier in der Mengstraße. Rautenbergs Schritte wurden schneller.

„Was is’n hier los?“, wollte er wenige Augenblicke später von dem erfahrenen Schichtleiter wissen.

„Nichts besonders, Herr Rautenberg, der junge Mann hier meinte, sich wieder einmal austoben zu müssen.“

Vor dem Oberkommissar stand ein frech grinsender junger Kerl mit kurz geschorenen und lila gefärbten Haaren, der von zwei Kollegen ‘gefilzt’ wurde. Der Chef-Ermittler machte einen Schritt nach vorn und spürte unter seinem rechten Schuh einen Gegenstand. Er bückte sich und kam mit einen Kamm nach oben.

„Den hat er gerade aus seiner Hosentasche verloren“, meinte ein Kollege beiläufig.

Rautenberg hielt den Kamm gegen das Licht. Es fehlten drei Zinken. Seine Augen bekamen einen triumphierenden Ausdruck.

„Festhalten den Mann!“ Er ging nach draußen vor die Tür und telefonierte. Wenige Minuten später hielt der „Neue“ in seiner Truppe mit quietschenden Reifen vor der Wache und wedelte mit einem Briefumschlag. Hastig öffnete der Mordermittler ihn und hielt einen Kammzinken hoch, den er nacheinander in die drei Lücken des Kammes hielt.

„Hier in die zweite Lücke passt er genau! Ich nehme dich vorläufig fest wegen Verdachts des Mordes! Diesen Zinken habe ich am Tatort des Erschlagenen gefunden. Kurz vor seinem Tod konnte das Opfer mir noch zuflüstern, dass er bei dem erbitterten Kampf mit seiner Hand in eine Hosentasche geraten war und mit seinem rechten Zeigefinger mehrere Zinken herausgebrochen hatte. Ich selbst habe den blutunterlaufenen Finger gesehen. Die Herren Kriminaltechniker werden ihre Freude daran haben.“

Dem jungen Mann war das Grinsen vergangen. Mit blassem Gesicht und offenem Mund ließ er sich widerstandslos abführen.

Die Kollegen der Revierwache staunten nicht schlecht. Der Spürhund, er hatte wieder einmal zugeschlagen. Sie wussten, der Rest war für ihn Routine.

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