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1.2 Musikbausteine für den Gottesdienst

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Beim Begriff des Bausteins stellt man sich leicht etwas Dinghaftes und Handfestes vor. Aber das ist ein Irrtum, und zwar ein folgenschwerer.

Eigenschaften der Abmessung definieren den Baustein. Von einem Dachziegel etwa werden bestimmte Raum- und Gewichtsmaße erwartet, aber auch, dass er Wasser, Wärme und Kälte standhält. Das sind Zweckeigenschaften, die, nicht anders als die Raummaße, quantifiziert sind. Der Ziegel hat genormte Koeffizienten der Wasserdurchlässigkeit und Wärmeleitfähigkeit. Beim Baustein sind auch Zwecke Maße. Innere Schönheit oder andere absonderliche Eigenschaften, die ein Ding interessant und einzigartig machen, sind irrelevant oder sogar wertmindernd. Unbeschränkte Ersetzbarkeit und Reproduzierbarkeit ist das Charakteristikum des Bausteins.

Diesem Begriff von Baustein entspricht die evangelische Kirchenmusik von der Lutherzeit an. Oft ist zu lesen, Luther habe bei seinem Konzept des evangelischen Gottesdiensts im Wesentlichen den römischen Messritus beibehalten. Welch kolossaler Irrtum das ist, zeigt sich am Bausteinprinzip.

1526 formulierte Luther die Agende einer Deutschen Messe. Eine große Zahl von Reformagenden aus allen Ecken der protestantischen Bewegung war ihr seit etwa 1520 vorausgegangen. Teils behielten sie das Latein bei, teils stellten sie auf Deutsch um. Aber das ist nicht der springende Punkt. Zudem sehen die Teile der evangelischen Messe und ihre Reihenfolge den katholischen ähnlich. Auch diese Feststellung verschleiert die Dinge. Die katholische Messe kann man sich als ein Ensemble von Heiligtümern vorstellen: das Kyrie, das Graduale, die Epistel des Alten Testaments oder der Apostelbriefe, das Offertorium, das Agnus Dei und so weiter. Damit sind liturgische Gattungen benannt, nicht Einzelstücke, es gibt also mehrere Exemplare davon. Es gibt aber nicht prinzipiell unendlich viele Graduallieder oder Agnusgesänge. Das katholische Verständnis erlaubt es nicht, einfach neue Exemplare zu produzieren. Das Kirchenjahr hat nämlich endlich viele Tage. Je nach Tag im Kirchenjahr hat jedes der vorhandenen Heiligtümer seinen bestimmten Ort. Dort ist es zuverlässig auffindbar und man wird seiner teilhaftig. Ist man nicht zur gegebenen Zeit am gegebenen Ort, wird man es nicht. Die Stücke der katholischen Liturgie, auch wenn sie in die Tausende gehen, sind keine Bausteine, sondern lauter Einzelstücke. Jedes hat seinen unveränderlichen Ort.

Den protestantischen Agenden war die Vorstellung des ortsstabilen Heiligtums von Anfang an fremd. Das Offenbarsein Gottes manifestiert sich nicht direkt in einem Ding, das analog zum katholischen Liturgiestück einen bestimmten Orts- und Zeitindex hätte. Hinter so etwas wittert der Protestantismus magisches Denken, und das ist ihm suspekt. Der Protestantismus wechselt an dieser Stelle lieber die Seite: von der göttlichen zur menschlichen. Göttliche Offenbarung ist immer schon von der menschlichen Antwort auf die Offenbarung imprägniert. Damit wird dem Ausdruck der Offenbarung eine theologische Verantwortung aufgebürdet. In der Expression einer religiösen Laune oder einer spontanen Eingebung soll er nicht bestehen. Der Ausdruck darf einen Teilaspekt Gottes adressieren, soll aber dabei alle anderen Gotteserfahrungen und ihre Ausdrucksgestalten mitbedenken oder am besten gleich mitadressieren. Der ganze Gott aus Zorn und Liebe, Strafe und Gnade soll es sein. Und er soll vom Menschen in seiner biographischen und personalen Ganzheit ausgedrückt werden.

Das protestantische Gottesdienstsystem ist der – oft verzweifelte, nicht selten tragikomische – Versuch, dieser Riesenaufgabe gerecht zu werden. Sie kann und will die menschlichen Ausdrücke der Gotteserfahrung in Text, Ton und Bild nicht festlegen. Das kirchenkalendarische Detempore ist eine grobe Orientierung. Tatsächlich kann und soll man sich davon freimachen und ein individuelles, sogar ein situativ einmaliges Detempore einfordern. Der Protestant ist auf den Ausdruck seiner individuellen und einmaligen Gotteserfahrungen zurückgeworfen, der aber zugleich irgendwie die Gotteserfahrung der gesamten Christenheit enthalten soll.

Die lutherische Antwort in dieser vertrackten Situation ist zweigleisig: Erstens wendet sie das theologische Augenmerk vom jeweils einzelnen Ausdruck ab und stattdessen hin zur Struktur, die ihn einbettet. Der Gottesdienst soll eine Struktur sein, die „Slots“ für die individuellen Ausdrucksgestalten bereitstellt, und zwar so, dass die individuellen Ausdrücke sich austarieren und ein Gesamtbild des ganzen Gottes geben. Die Struktur, das heißt die Agende, definiert die Eigenschaften der Slots. Dabei können fortwährend neue individuelle Strukturen entstehen, aber immer nur so, dass das trinitarische Gesamtbild stimmt. Zweitens wird der Gottesdienst zur pädagogischen Veranstaltung. Er ist ein Ort, an dem die Menschen ihre religiöse Ausdrucksfähigkeit einüben, erproben, verändern, wobei der Pfarrer gleich Lehrer höchstens primus inter pares ist. Um es im Kirchenjargon zu sagen: im Gottesdienst wird Glaubenserfahrung miteinander geteilt, Glaubensausdruck voneinander gelernt, Erfahrungs- und Ausdrucksfähigkeit füreinander vermittelt.

Damit ist für die Kirchenmusik eine fundamental veränderte Lage entstanden. Wie sie die Teile des Gottesdiensts und ihr Zusammenspiel konkret gestaltet, wird von ihrer sozialen, politischen, ökonomischen und pädagogischen Situation abhängig sein. Dass sich da auf lange historische Sicht Veränderungen ergeben, ist selbstverständlich, aber unwesentlich. Wesentlich ist, dass die Lage von wechselseitigen Rahmenbedingungen und Zwecksetzungen her eingeschätzt wird. Der Zweck, der von den theologischen Aspekten des trinitarischen Gottes ausgeht, ist zum Ab- und Ausgleich zu bringen mit den pädagogischen Zwecken und mit den sozialen, politischen und ökonomischen Gegebenheiten. Alle Aspekte, auch die theologischen, werden auf derselben Ebene behandelt.

So werden die Slots definiert und mit ihnen die Verzahnungen der Slots. Das Prinzip, nach dem sie zusammenzupassen haben, ist wechselseitige Stabilisierung und Risikomanagement. Die Eigenschaften des einen Slot sind systemisch verbunden mit denen des anderen. Das Manko im einen Slot wird vom anderen gepuffert. Fällt die Fürbitte mal weniger authentisch aus, springt das anschließende Gemeindelied in die Bresche. Ist der Gemeindegesang mal eher dürftig und trostlos, wird er von der engagierten Predigt aufgefangen.

Weiter, es muss Akteure geben, die für das Zusammenpassen zu sorgen haben. Das sind die Funktionsträger des pastoralen, diakonischen, bürokratischen, musikalischen und technischen Diensts. Ihr Verantwortungsbereich ist nicht primär, Bausteine für die Slots herzustellen. Dafür sind sie aus Gründen, auf die ich gleich zu sprechen komme, sogar ziemlich ungeeignet. Sie haben das Zusammenpassen der Slots zu managen. Um es noch einmal zu betonen, der Aspekt, dass Gott im Gottesdienst erscheint und wie er in den Gottesdienstteilen erscheint, ist eine Eigenschaft neben anderen. Nicht für diese Eigenschaft alleine, sondern für ihr Zusammenpassen mit allen anderen Eigenschaften tragen die Funktionäre Sorge.

Für die historische Entwicklung der evangelischen Kirchenmusik war all das von erheblicher Bedeutung. Wenn ein Gottesdienstteil als quantifizierbarer Risikoträger im Gesamtgefüge definiert ist, dann kann ein Text, ein Musikstück, ein ikonisches Element, eine liturgische Handlung durch etwas anderes ersetzt werden. Die Alternative muss nur ihren Eigenschaften nach äquivalent sein. Das gregorianische Gloria kann etwa durch ein neu gedichtetes und neu komponiertes Glorialied ersetzt werden. Dass es einmal der Liturg, einmal die Gemeinde ausführt, gehört nicht zum Eigenschaftsset. Es kommt dem protestantischen Gottesdienstverständnis sogar entgegen, wenn ein und derselbe Slot von wechselnden Akteuren bespielt wird. Das ist dann eine Variable im Risikomanagement. Das Lied vor der Predigt, das in den lutherischen Agenden an die Stelle des römischen Graduale trat, kann ein Lied sein, es kann aber auch die Bachkantate sein, musiziert von Profis und mit einer Spieldauer von 30 Minuten. Die Evangelienlesung kann vom Liturg trocken abgelesen werden, sie kann aber auch eine Spruchmotette über den Bibeltext oder sogar eine über einen anderen Bibeltext sein, sofern er den theologischen und kirchenjahreszeitlichen Eigenschaften aus dem Eigenschaftsset dieses Slots entspricht. Er kann im Extremfall sogar eine ausgewachsene Passionsvertonung sein, sofern man sich in der Passionszeit befindet und die zeitlich-räumlich-finanziellen Abmessungen dem Eigenschaftsset entsprechen. Schließlich können die definierten Einheiten ad libitum von gedoppelten oder vervielfachten Exemplaren ausgefüllt werden. Also etwa erst das gelesene, dann das musizierte Evangelium. Die ganze gewaltige Masse an evangelischer Gebrauchsmusik des späten 16. bis Mitte des 18. Jahrhunderts ist daraus erklärlich. Ob der Gottesdienst am Ende eine Stunde dauert oder, wie zu Bachs Zeiten in Leipzig, über drei, ist eine Frage des Managements von Zwecken und Rahmenbedingungen durch die Funktionsträger.

Kurz, die Musik und alle anderen Elemente sind Bausteine in der Systemik des evangelischen Gottesdienstes. Ihre Bedeutsamkeit, ihren Wert im emphatischen Sinn, sogar die Intensität der Göttlichkeit haben sie weder aus sich selbst noch aus Gott selbst. Es kommt nur darauf an, wie angemessen sie die Eigenschaften der Slots ausfüllen. Daher sind sie aus Prinzip ersetzbar. Die Bedeutsamkeit der Bach’schen Matthäuspassion mag für sich genommen sein, wie sie will. Wenn Händels Messias oder das Golgatha Beat Oratorium von Dietrich Schneider und Friedel Berlipp besser passen im Sinn der Slots, dann haben sie den größeren Wert.

Das lässt sich herunterbrechen auf die kleinen Legosteine, aus denen eine Konfirmandenunterrichtsstunde oder eine Trauung zusammengesetzt sind. Dass am Ende des Trauungsgottesdienst der Marsch aus dem Sommernachtstraum oder der aus dem Lohengrin, ein Wedding Song von Elton John oder aber eine Pachelbelfuge gespielt wird, entspricht völlig dem Bausteinprinzip. Sich darüber aufzuregen ist verlogen. Und dass dergleichen auch bei den Katholiken anzutreffen ist, widerlegt nicht, dass es dem katholischen Verständnis zuwiderläuft, ein Heiligtum, in diesem Fall das Benedicamus Domino als Entlassformel am Ende der Messe, mit einem profanen Stück durchzutauschen, während das Substituieren zwecks Anpassen an den Kontext bei den Evangelischen die Regel ist. Der Kontext ist in diesem Fall ein Eigenschaftsset, das die persönlichen Wünsche der Hochzeitsgemeinde als eine gleichberechtigte Eigenschaft neben den anderen begreift. Auch der persönliche Wunsch nach einem Klischee übrigens ist ein persönlicher Wunsch, er passt perfekt ins Bild.

Klischees sind Inbegriffe des Zeitgeschmacks, und genau darauf läuft das Bausteinprinzip hinaus. Der Kontext, der die Eigenschaften des Slots definiert, ist immer der jeweils aktuelle Kontext. In seinem Horizont vollzieht sich das Risikomanagement. Geschickt gehandhabt, erhält das Bausteinprinzip so eine zeitgemäße Geschmeidigkeit. Es entkoppelt die Theologie von den Dingen, an denen religiöse Erfahrungen gemacht werden. Die Theologie ist nun in der Struktur des Gottesdiensts verankert und nur in ihr: im Gesamtgefüge der Bausteine und ihrer Kopplung durch die Eigenschaftssets. Die Dinge selber, also die Individualität der einzelnen Bausteine, werden vom Zeitgeschmack dominiert und schlagen nicht mehr aufs Theologische durch. Sie sind, analog zum Sinn des Worts in den Datenbanksystemen, Content.

Entsprechend werden die Verantwortungsbereiche entkoppelt. Die Funktionsträger haben die Aufgabe, die Struktur des Gottesdiensts zu managen. Darin ist die theologische Aufsicht nicht nur eingeschlossen, sie ist darauf beschränkt. Der Content ist theologisch irrelevant, er erfüllt eine andere Aufgabe. Er stellt die Zeitgemäßheit der Veranstaltung her, indem er den religiösen Ausdrucksgestalten der Gemeindeglieder zum öffentlichen Auftritt verhilft. Die Programmplanung des Contentbereichs wird sinnvollerweise von einem möglichst divers besetzten Laiengremium übernommen. Sofern Funktionsträger darin mitwirken, sind sie pars inter pares. So ist die Zeitgemäßheit des Content am besten sichergestellt.

Nichts liegt näher, als den Content dem Markt für Unterhaltungsgüter zu überlassen. Das ist seit etwa der Jahrhundertwende im vollen Gang, als die Gottesdienstinstitute, Medienhäuser und Jugendwerke der Landeskirchen begannen, sich zu zentralen Marktplätzen für Bausteine des kirchlichen Veranstaltungswesens zu entwickeln. Noch liegt der Schwerpunkt auf dem textlichen, ikonischen und grafischen Content. Der kirchenmusikalische Content war bisher in den Händen eigenständiger Musikverlage, Sounddesign spielte kaum eine Rolle. Das ändert sich aktuell erkennbar, da die massenhaft im Laien- und Popbereich entstehenden Bausteine dem Geschäftsmodell der klassischen Musikverlage kaum mehr entsprechen. Content aus dem Bereich Grafik- und Sounddesign ist bei einer Serviceeinrichtung vom Zuschnitt etwa eines Gottesdienstinstituts viel besser aufgehoben.

Hier sind wir auf dem Boden der evangelischen Bausteinbrüche angekommen. Es herrscht rasender Stillstand. Institute der kirchlichen Bildungsarbeit und der Evangelischen Jugendwerke bieten zum Download Textbausteine, mit denen die Besucher im Gottesdienst „ganz besonders ankommen“ können. Liedbausteine versprechen, das Credo „mal anders“ zu bekennen. Mit dem „mal anders“ ist eine der abgründigsten Wahrheiten über die evangelische Kirchenmusik ausgesagt, es bringt ihr unermüdliches Jagen nach Zeitgemäßheit ebenso auf den Punkt wie die Müdigkeit, die einen in einem übervollen Kaufhaus befällt. Ein weiterer downloadbarer Baustein leitet an, wie das Fürbittengebet mit einer Klangschale „sounddesignt“ werden kann. Textbausteine, auf einzelne Zeilen bekannter Kirchenliedmelodien zu singen, für alle Slots der Agende. Ein Textbaustein für das Kyrie am Sonntag Kantate, in dem es heißt „Gib uns Melodien, die von deiner Freiheit singen“, ein Gebet, mit dessen spontaner Erhörung nicht gerechnet wird, denn die Gemeinde soll anschließend EG 178.9 singen, die bekannteste aller Kyrieversionen. Neue Lieder für alle Slots der Agende durch alle Zeiten im Kirchenjahr. Kirchennahe Shops vermarkten alle erdenklichen Motive der christlichen Malerei (Schwerpunkt Renaissance und Barock). Im analogen Format der Aufstellkarte oder des 3D-Aufstellbilds sind sie für den Kindergottesdienst geeignet, für die Erwachsenenveranstaltung gibt es sie digital. Musikverlage vermarkten alle erdenklichen kontrapunktischen Stückchen (Schwerpunkt Renaissance und Barock) des Formats „Spieldauer ca. 2 Minuten“ und mit Emotionswert „neutral“ unter Titeln wie Orgelmusik im Gottesdienst, Neue Orgelmusik für den Gottesdienst, Leichte Orgelmusik für den gottesdienstlichen Gebrauch und so weiter. Finanziell geht der Trend zum Mikropricing im Centbereich je Download.

Die Produktpalette ist prinzipiell unendlich groß, weil der endlich große Markt nach immer neuem Material verlangt. Die Bausteine in den Slots sind nicht nur im Prinzip austauschbar, sie wollen realiter ständig ausgetauscht werden, weil sich die Erde mal wieder ein Stück weitergedreht hat. Das Kennzeichen dieser Warenwelt der Gottesdienstbausteine ist ihre Janusköpfigkeit aus Neuigkeit und Individualität auf der einen Seite und durchkonfektionierter Produktförmigkeit auf der anderen. Das entspricht exakt der Janusköpfigkeit des Slots, wie ich sie theoretisch umrissen habe: einerseits ein fixes Set von Eigenschaften, andererseits mit immer neuem Content zu befüllen. Bausteine für den Gottesdienst, das sind leere Hülsen, die in Slots – also ebenfalls leere Hülsen – eingesetzt werden.

Der Sound Gottes

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