Читать книгу Der Sound Gottes - Rainer Bayreuther - Страница 9

1.3 Aus dem Musikwörterbuch des Gutmenschen

Оглавление

Es könnte das Missverständnis entstehen, ich riefe zum Widerstand gegen die amtskirchliche Hoheit über die Kirchenmusik auf. Ein solcher Appell wäre billig, ja umsonst. Die souveränen Musiker haben sich nie wirklich um die Vorgaben der Amtskirche geschert. Sie haben einfach die Musik gemacht, zu der sie sich, bemerkt oder unbemerkt, von Gott hinführen ließen. Auch souveräne Hörer machen ihre religiöse Erfahrung bei welcher Musik auch immer, bestimmt nicht nur bei der kirchlich verordneten.

Die ermüdete, ausweglose Lage der Kirchenmusik krankt nicht an den Restriktionen der Amtskirche. Die Amtskirche hat den Markt der musikalischen Möglichkeiten längst freigegeben, die protestantische schon seit Luther, die katholische seit dem Zweiten Vatikanum. Nicht aus tieferer Einsicht, dass auch dort religiöse Erfahrung zu machen sei. Sondern in dem flachen Comment, dass es auf echte religiöse Erfahrung in der Musik gar nicht ankomme und es jedenfalls in dieser Hinsicht egal ist, welche Musik läuft. Ganz egal allerdings auch nicht, die Kirche hat noch Interessen und Existenzangst. Sie muss sich ihrer selbst und ihrer Relevanz vergewissern. Sie muss ihre Mitglieder bei der Stange halten und um neue werben. Dort ist das Gebiet für die Rettungseinsätze, in die sie die Kirchenmusik schickt. Dort irgendwo tief verschüttet liegt das Elend.

Die Lage der Kirchenmusik ist verkeilt in Widersprüchen. Irdisch, aber auch ein bisschen himmlisch; ganz bei mir, aber auch ein bisschen beim Anderen; heilig, aber auch ein bisschen profan; erlöst, aber nicht so richtig. Ihre Lage ist eine unmögliche. Die Pathogenese ist vorgezeichnet. Vielleicht macht uns das nachsichtiger damit, dass sie nicht aus dem Ohrensessel kommt.

Wir haben jedenfalls ein gewisses Verständnis für den Musikwortschatz, den sich der gute Christenmensch in seiner misslichen Lage zurechtlegt. Die Einträge darin sind teils alt und greifen zurück auf das, was in den Apostelbriefen zur Musik gesagt wird. In der Masse und in dem auf den religiösen Bildungsmarkt zielenden Zuschnitt aber ist sie eine Erscheinung der letzten zwanzig, dreißig Jahre.

Die guten Wörter der Kirchenmusik sind erst denkbar, sagbar und praktizierbar im Bausteinprinzip. Das Bausteinprinzip bricht die unmögliche Lage der Kirchenmusik herunter auf kleinteilige Arbeitsaufträge, im Kirchensprech: Dienste. Auf Dienst am Anderen, Dienst an der Familie, an der Umwelt, am Frieden, am Ich, an der Psyche, am Körper, an Gott und so weiter. Mit einem Mal wird die Kirchenmusik wieder konkret. In der Verzahnung mit den anderen gottesdienstlichen Aktivitäten übernimmt sie Dienste aus der To-do-Liste. Sie kann plötzlich wieder genau sagen, was sie selber ist und was zu tun ist. Die Müdigkeit ist für den Moment verflogen.

Das Ungeheure der Begegnung des Menschen mit Gott im Klang passt in den Workshop eines kirchlichen Bildungszentrums. Diese erstaunliche Erkenntnis machen wir, wenn wir das Riesenhafte der h-Moll-Messen, Messiasse und Regerfugen in ästhetische und ethische Dienste portionieren. Wir werden dann gute Christenmenschen, mit Arbeit und Dienst beladene zwar, aber das sind eben die zwei Seiten der Medaille. Und es ergeben sich wie von selbst die Formeln des Denk- und Sagbaren der Kirchenmusik.

Stellen wir uns einen solchen Workshop vor. Dort begegnen uns die Einträge im Musikwörterbuch des evangelischen Gutmenschen. Ich habe die kirchenmusikalischen „items“ vorsortiert und die bunten Karteikarten aus dem Consultingkoffer schon mal vorbeschriftet.2 Auf den roten Karteikarten notieren wir die Bausteine zum Thema „Von Gott zum Ich“, auf den blauen „Vom Ich zum Du“, auf den grauen „Kirchenmusik als Transportmittel“, auf den gelben „Kirchenmusik als Therapie“ und auf den grünen „Kirchenmusik als Fördermaßnahme“.

Die roten Karten

– Musik als gute „Gabe Gottes“, so schon Martin Luther frei nach Jakobus 1,17, ein Vers, den man auch als Liedstrophe und Tischgebet kennt. Die Musik reiht sich damit ein in andere Gottesgaben wie dem Apfel aus dem Garten Eden, dem Feuer oder dem Sex. Man kann sie zum Guten und zum Schlechten gebrauchen. Daher immer den Jakobusvers mitbedenken, dann werden sie Heil und Segen stiften.

– Musik als Talent. Gute Gaben sollen, siehe Matthäus 25,14ff. und Lukas 19,12ff., aber bitte auch genutzt werden und nicht aus lauter Angst brach liegen bleiben.

– „Überall drücken sich in Musik tiefste Sehnsüchte, Hoffnungen und Ängste aus.“ Dieser Gedanke hat seinen rechten Platz auf den roten Karten, auch wenn das nicht gleich in die Augen springt. Die tiefen Sehnsüchte weisen aus, dass der Mensch unbedingt auf Gott bezogen ist (Schleiermacher). Andererseits ist der Mensch radikal von Gott getrennt (Karl Barth). Ein echtes Dilemma, mit dem die dicksten Theologenbücher in Verlegenheit zu bringen sind. Aber Gott sei Dank hat der Herr ein Schlupfloch gelassen. Die Musik. Und zwar „überall“.

– „Die evangelischen Kirchen in Deutschland sind musikalisch reiche Kirchen.“ Reichtum, ein rundum sorgenfreies Thema. Bevor wir uns auf ihm ausruhen dürfen, müssen wir noch ein paar Fragen stellen. Was zum Beispiel ist mit den Präludien und Fugen im XXL-Format, die uns der Heilige Sebastian geschenkt hat? Die seinerzeitige Thomaskirchenleitung wollte sie gar nicht in der Kirche haben. Manche Stücke sind einfach zu reich für die Kirche. Was ist mit dem Orgelschatz, wie ein gewisser Carl August Kern im 19. Jahrhundert gleich sechs Bände mit anspruchslosesten Orgelstückchen nannte? Das ist der Reichtum einer dicken Sammelbüchse mit Kleingeld, die am weitesten verbreitete Vermögensstruktur der Kirchenmusik. Woher stammen so wertstabile Assets wie Schütz, Bach, Händel und Mendelssohn? Schütz hat die italienische Oper beerbt, Bach und Händel schreiben von sich selber ab, der schmächtige Mendelssohn steht auf den Schultern des Riesen Mozart. Woher die Sakropopsternchen ihren Pop haben, fragen wir lieber nicht so genau nach. Wenn man unter Reichtum auch die Dividende aus lukrativen Beteiligungen gelten lässt, dann ist die evangelische Kirchenmusik ein Big Player am Markt.

– Der „reiche Schatz der Kirchenlieder“: Mit dieser Floskel landet man besonders viele Treffer im evangelischen Schrifttum. Dürfen wir es wagen zu fragen, wie es um den Wohlstand derer steht, die den Schatz erarbeitet haben? Die vielen Kirchenlieddichter sind nun wirklich anständig entlohnt worden: als Pfarrer (Paul Gerhardt), Gymnasiallehrer (Nikolaus Herman), Theologieprofessor (Dietrich Bonhoeffer). Da kann man nicht meckern. Von Geburt reiche Frauen wie Henriette Catharina von Gersdorff stellten ihr Dichtertalent, das sie nicht vergruben, der Kirche kostenlos zur Verfügung. Achtsam sein sollten wir freilich für die Lage derer, die den musikalischen Teil der Kirchenlieder beisteuerten. Also die Musik im engeren und eigentlichen Sinn. Da sieht es prekär aus: Hilfslehrer (Friedrich Silcher), Hauslehrer (Georg Neumark), lausig besoldete Kapellmeister (Johann Balthasar König, Adam Krieger, Johann Hermann Schein), freischaffende Chorleiter und Lektoren (Paul Ernst Ruppel). Wohl den Pfarrern, die im auskömmlichen Theologenstand komponierten (Kurt Rommel, Samuel Rothenberg, Otto Riethmüller, Dieter Trautwein).

Die blauen Karten

Auf der blauen Überschriftenkarte steht „Vom Ich zum Du“. Wenn Ihnen das zu gestelzt vorkommt, schreiben Sie „Gemeinsam singen“.

– Das g-Wort fällt in jedem Gottesdienst, meistens auch beim Singen. Die Gemeinsamkeit ist dem Singen vorgeordnet. Aber nicht nur dem Singen, es gibt „auch gemeinsame passive Praktiken wie das Hören, das Hier-Sitzen und das Schweigen“.

– Zugleich ist das Gemeinsame dem Singen nachgeordnet. Kirchenmusik „schult eine elementare Hör- und Ausdrucksfähigkeit, die immer auch Hör- und Ausdrucksfähigkeit füreinander ist“. Dass beim Singen das herauskommt, was wir einen Spiegelstrich weiter oben in das Singen hineingesteckt haben, sollte nicht weiter beunruhigen. Es ist oft so in der Theologie, dass man mit viel Hallo und Halleluja die Ostereier findet, die man vorher selber versteckt hat.

– Beim Thema Corona empfehle ich vorerst abzuwiegeln. Es bringt nichts, jetzt schon das Pest-oder-Cholera-Dilemma zu thematisieren, in dem die Kirche steckt, entweder mit dem Gemeinschaftsmantra aufzuhören oder Corona zum Teufelswerk zu erklären.

Die grauen Karten

– Wieder macht Luther den Aufschlag: Kirchenmusik ist eine „Lehrmeisterin“. Weniger altmodisch gesagt, sie „nimmt einen Bildungsauftrag wahr“. Man internalisiert alles sofort und ohne Zeigefinger. „Musik beeinflusst unser Fühlen und Denken, sie kann Worte und Ideen weitertragen.“ Sieht man die Sache so, dann kommt es freilich darauf an, welche Worte man der Musik auf die Pritsche packt. Daher sollte man die Kirchenmusik nie nur den Musikern überlassen. Denen ist das nämlich herzlich egal.

– Kirchenmusik „kann auch zum äußeren Frieden beitragen.“ Dieser Klassiker aller musikalischen Sonntagsreden darf in der Kirche nicht fehlen. Aber das ist freilich mit Arbeit verbunden. „Die kirchenmusikalischen Arbeitsformen beteiligen sich vielfältig an dieser friedensstiftenden Kulturarbeit.“ Auch der Krieg allerdings ist ein beliebter Reiter der Musik. Sogar einer, der weniger Arbeit macht.

– „Musik ist nicht selbst göttlich, sie dient Gott – und sie dient darin zugleich den Menschen.“ Das „zugleich“ ist ein astreines Theologenwort. Aber bevor uns die dicken Bücher wieder in den Sinn kommen und Schläfrigkeit uns übermannt, wollen wir den Gedanken heute nicht weiter vertiefen.

– „Musik in der Kirche ist eine Form des Gottesdienstes.“ Bevor daraus jemand freche Schlüsse zieht, sei hinterhergesagt, dass „aller Einsatz von Musik daran gemessen werden muss, ob er wirklich dem Gottesdienst dient oder andere Ziele verfolgt.“ Unlogisch? Egal, wir sitzen doch im Stuhlkreis und nicht im Oberseminar Analytische Ontologie.

Die gelben Karten

– Beginnen Sie ganz niederschwellig: „Das Singen der Lieder hat eine sinnlich belebende Wirkung.“ Saul und David, Sie kennen die Geschichte. Das Thema ist perfekt geeignet, die Verspanntheit der Kirchenmusik zwischen Gott, Mensch, Himmel und Hölle herunterzubrechen auf Workshopformat.

– Die folgenden Wirkungen der Musik bedürfen gegebenenfalls der fachmedizinischen Begleitung: „Musik kann trösten, aus Verbitterung und Trauer herausreißen und zum Leben umstimmen. Sie kann […] Traumzeiten stimulieren, Verkrampfungen und Ich-Fixierungen lösen und Beziehungen stiften.“ Fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker. Und beachten Sie, dass eventuell Gebühren der Partnervermittlungsagentur anfallen.

Die grünen Karten

– Kirchenmusik „schult eine elementare Hör- und Ausdrucksfähigkeit“. Dass sich bei den Begriffen Schulen und Fördern die Propheten des Alten Testaments und gottbegnadete Musiker wie Mozart im Grab herumdrehen, können wir jetzt gelassen kontern: Wir haben das Heft des Handelns wieder in der Hand. Wir tun was, anstatt ehrfurchtsvoll und folgenlos vor den Heroen zu erstarren.

– „Musik fördert Klugheit, soziale Kompetenz, Kreativität und Gemeinschaftsfähigkeit.“ Kürzer und kirchlicher: „Lieder fördern Geist und Seele.“ Wer jetzt rückfragt, was Klugheit, Sozialkompetenz und Kreativität nochmal genau mit dem Christentum zu tun haben, dem antworten Sie: Selbstverständlich sind diese Skills auch im normalen Leben von Vorteil. Es geht um Dienst. Es geht darum, sie in den Dienst Gottes und des Gottesdiensts zu stellen. Und dazu dient am Ende auch die Musik. Musik wäre hier also ein Gottesdienst-Dienst-Dienst.

– Musik für den Weltfrieden, zu hoch gegriffen? Dann brechen wir es halt herunter. Das ist doch der Sinn der bunten Kärtchen. „Musik als ein in vielfacher Hinsicht ganzheitliches Tun kann auch zum äußeren Frieden beitragen. Das geschieht vorrangig indirekt, indem Musikerziehung solche Persönlichkeitsmerkmale fördert und ausbildet, die als Grundkompetenzen friedvollen Verhaltens gelten können: die Fähigkeit, einander zuzuhören, sich in andere einzufühlen (Empathie), überhaupt Gefühle zeigen und ausdrücken zu können, dabei auch die Verschiedenheit der Menschen und der Begabungen auszuhalten und sich in gemeinsame Projekte einzuordnen.“

Der Sound Gottes

Подняться наверх