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Einführung

Und dennoch Luther

In meinem Amtszimmer hängt ein Porträt Martin Luthers aus dem 19. Jahrhundert. Das unzeitgemäß wirkende Bild entstammt dem Nachlass eines pietistischen württembergischen Kinderheimes. Es zeigt eine vollständig vergoldete Lutherstatue auf schwarzem Hintergrund. Als glorifizierter Glaubenszeuge steht Luther auf einem Steinsockel, in dem das trutzige Pauluszitat aus dem Römerbrief eingraviert ist: „Wenn Gott für uns ist, wer mag wider uns sein?“ Die Bibel fest in der Hand thront der Reformator auf erhöhtem Podest und schaut, Bismarck gleich, entschlossen nach vorne.

Nicht nur schwäbische Waisenkinder sind mit diesem verklärten „Heiligenbild“ groß geworden. Generationen von Protestanten waren von einer geradezu schwärmerischen Lutherverehrung geprägt. In den kritischen 1970er Jahren hat die damalige Heimleitung das Gemälde entsorgt. Es war nicht mehr zeitgemäß. Vom Speisesaal aus gelangte es zunächst in den Speicher und nach einem Frühjahrsputz auf den Flohmarkt. Der neue Zeitgeist hat historische Autoritäten hinterfragt und vermeintliche Helden vom Sockel der Unangreifbarkeit geholt. Hierarchisch Überhöhtes passte nicht mehr zu einer emanzipierten, offenen Gesellschaft. Im Gold eines undifferenzierten Lutherporträts sah man die Schatten überdeckt, im Rausch des Weihrauchs den realen Menschen gefälscht. Unser modernes Lutherbild ist distanzierter, filigraner, vielleicht auch farbiger. Es nimmt zu Recht die grellen, aber auch die dunklen Seiten des Reformators wahr. Luther selbst hätte sicher nichts gegen die Entschleierung seines Denkmals gehabt. Mit scharfem Verstand und drastischer Zunge hätte er jeden Personenkult schnell enttarnt und zur Strecke gebracht. Ich habe mir dieses ausrangierte Lutherporträt dennoch ins Büro gehängt.

Es ist nicht nur das eigenwillig Surreale, das die Darstellung für mich anziehend macht. Und es ist auch nicht bloß das Vergangene, das als Entmachtetes wieder exotisch zu wirken beginnt. Die goldene Lutherikone bringt in ihrer kindlichen Einseitigkeit eine Saite meines eigenen „Luthergefühls“ zum Schwingen. Ein malender Pfarrkollege kam einmal zu Besuch und hat das Bild eingehend betrachtet. Als er die Stirn in Falten legte, fragte ich ihn: „Dir gefällt es wohl nicht?“ Er antwortete ganz offen: „Man muss Luther mögen, um das Bild zu mögen!“

Ich mag Martin Luther. Sein Aufstieg vom Handwerkersohn zum Akademiker spiegelt sich in meiner eigenen Biographie wider. Seine inneren Kämpfe kenne ich: Er ist hin- und hergerissen zwischen Tradition und Aufbruch, zwischen Wurzeln und Wachsen. Das Gesetz des Müssens fordert und überfordert ihn. Er ringt um existentielle Annahme und Überwindung der Daseinsangst. Durch seine unverstellte Art wirkt er gelegentlich wie ein Elefant im Porzellanladen. Calvin und viele Feingeister hat das erschreckt. Ich finde es glaubwürdig und attraktiv, dass Klarheit ihm wichtiger ist als politische Correctness. Er schwadroniert nicht mit staatstragenden Floskeln, sondern trägt munter sein Herz auf der Zunge. Die Bücherregale können die Fülle seiner pulsierenden Schriften kaum fassen. Wie bei einer im innersten Wesen Gottes entsprungenen Quelle sprudeln die Worte aus ihm heraus. Obwohl das ordnende Kriterium „was Christum treibet“ alles intellektuelle Erkennen leitet, fehlt eine schriftliche Dogmatik, die systematische Zusammenfassung seines Denkens. Seine Schlussfolgerungen entziehen sich der berechenbaren Zwangsläufigkeit. Sein Blick ist offen für Gott. Seine dynamische Theologie bleibt im Fluss und bewässert unverbraucht die Felder unserer Gegenwartsfragen. In seiner Sprache fließt Strom von oben. Auch Luthers Persönlichkeit ist mit systematisierendem Schubladendenken nicht zu fassen. Er ist der ganz eigene, zutiefst geniale und zutiefst schwache Mensch. Sein Reflektieren, Predigen und Beten geschieht in kindlicher Unmittelbarkeit vor Gott. Ob er zitternd erschrickt vor dem Dunkel des eigenen Lebens oder ob er sich überschwänglich freut über die leckeren Hechte im Rhein: Der Schöpfer ist immer präsent. Unterschiedliches geht bei Luther noch zusammen: Kopf und Herz, Wort und Tat, Begriff und Bild, Bibel und Bier. Seine ethischen Äußerungen wirken lebendig und überraschend. Seine „Denkschriften und Verlautbarungen“ sind keine im Voraus berechenbaren Gebetsmühlen. Man hört ihm noch zu. Und trotz dampfwalzenartiger Leidenschaft kann er sich einfühlen in Andersdenkende. Dass er dem Gegner Johann Tetzel an dessen Sterbebett einen ergreifenden Trostbrief schickt, zeigt die seelsorgerliche Wärme. „Die Geister lasset aufeinander prallen, aber die Fäuste haltet stille.“ Luther kann hart kämpfen, aber auch vergeben. Wie kaum ein anderer besitzt er ein Gefühl für die wunderbare Bedeutung des Wortes „Gnade“. Natürlich ist da die „gratis“ geschenkte Erlösung zum ewigen Leben, die „Rechtfertigung allein aus Gnaden“. Aber er erlebt sie bereits in der Schöpfung. Dass wir leben und atmen und da sein dürfen, dieses täglich zu erfahrende Geschenk ist spürbare Gnade. Noch in seinen letzten Lebenstagen freut er sich über die köstlichen Eislebener Forellen und den guten örtlichen Wein. Bis zum letzten Atemzug lebt er unmittelbar aus der Hand seines Schöpfers als dankbares Gotteskind. Wo das Leben schon in dieser Welt zu seiner Bestimmung gelangt, triumphiert für ihn göttliche Gnade. Für Johann Wolfgang von Goethe war es besonders „Luthers Charakter“, der „der Menge imponiert“, alles Übrige sei „verworrener Quark“.

Mir erging es anders. Auch ich war als Jugendlicher begeistert von Luthers dramatischer Biographie, wie er als kleines „Mönchlein“ die Welt aus den Angeln gehoben hat. Aber mehr noch faszinierte mich später seine reformatorische Theologie. Aus manchen Verwirrungen heraus hat sie mir die Pforten ins Verstehen der Schrift geöffnet. Erst die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium hat mir die Bibel lieb gemacht. Das Studium seiner Abhandlung „Vom gefangenen Willen“ hat mich in meinem Gottesbild erschüttert und mir schlaflose Nächte bereitet. Es kränkt den Menschen, wenn sein Heil zu hundert Prozent an Gottes Willen hängt. Aber am Ende stand ein befreites Aufatmen und Staunen über die verlässliche Liebe Gottes. Ich empfinde Dankbarkeit für das, was Martin Luther durch sein Vorbild und seine Lehre mir wurde.

Allerdings gibt es auch die düstere Seite. Das offene Visier Luthers macht auch die Schwächen sichtbar. Sein ungebremstes Auftreten hat einen Preis. Die theologische Eindeutigkeit löst in einer multikulturellen, um Toleranz bemühten Gesellschaft Widerspruch aus. Manche seiner Briefe strotzen geradezu vor Beleidigungen. Manche Hetzformulierungen wären nach heutigem Gesetz strafbar. Im Internet kann sich der User mit Lutherworten persönlich beschimpfen lassen. Die kämpferische Forschheit hinterlässt bei Gegnern tiefe Verletzungen, denn „nichts wird langsamer vergessen als eine Beleidigung“. Die Ökumene wird belastet durch entwürdigende Ausfälle Luthers gegen den Papst und die römische Kirche. Wirkt er manchmal nicht rechthaberisch? Seine krankhaft hasserfüllten Äußerungen über die Juden sind unentschuldbar. Hat er dem Antisemitismus nicht die Sprache geliefert? Sein obrigkeitsorientiertes Denken wirkt anachronistisch. Friedrich Engels sieht in ihm einen „Bauernverräter“. Schaden Luthers „Heftigkeit, Wildheit und Zorn“ (Calvin) nicht dem reformatorischem Werk? Kritische Fragen rütteln heute am Denkmal. Mit Recht wird am Glanzlack des Lutherbildes gekratzt. Luther hat das selbst auch schon getan. Er sah sich nicht als heiliges Vorbild oder gar Kirchenpatron. Auf die Frage, ob man seine Anhänger „lutherisch“ nennen sollte, antwortete er: »Wie käme denn ich armer stinkender Madensack dazu, dass man die Kinder Christi mit meinem heillosen Namen nennen sollte?“ Warum wird er dennoch im Rahmen einer eigenen Reformationsdekade gefeiert? Warum gehört er dennoch laut Umfragen zu den „größten Deutschen“? Finden wir in diesem schwachen Gefäß nicht doch am Ende eine Perle, die strahlt? Gibt es in der Bewertung seiner Person und ihres Werkes nicht doch am Ende „mehr Licht als Schatten“ (Paul Dieterich)? Wenn Großes entsteht, sind die Spötter nicht weit, denn „wo Christus seine Kirche baut, baut der Teufel seine Kapelle daneben“. Ganz klar: Wer die Stacheln einer Blume nicht beachtet, wird sich daran stechen. Wer aber ausschließlich auf die Dornen schaut, wird die Rose nie blühen sehen. Was ist das Gold, das uns in Luther entgegenglänzt?

Im Rahmen einer Familienfreizeit in der Wittenberger Elbregion wollte unsere Urlaubergruppe eine alte Klosterkirche besichtigen. Sie befand sich unweit unseres Freizeitheims. Das dazugehörige Dorf hatte vielleicht 120 Einwohner. Das einstige Pfarrhaus war vermietet, die Kirche verschlossen. Als Kontaktadresse wurde im Schaukasten der Kirche das Büro der Superintendentur angegeben. Die Leitung des Kirchenkreises war für die Verwaltung der Kirche zuständig. Wir interessierten uns für eine Kirchenführung. Bei der telefonischen Anfrage wurde uns allerdings mitgeteilt, dass es niemanden gäbe, der uns die Kirche öffnen und erklären könne: „Im Dorf gibt es keine aktiven Gemeindeglieder mehr!“ Wir waren betroffen von dieser Information. Ist der evangelische Glaube hier ausgestorben? Gibt es niemanden mehr, der sich mit dem Gotteshaus identifiziert? Wie konnte am Quellort der Reformation der Strom des Glaubens derart versiegen? Nach ein paar Stunden erreicht uns ein überraschender Rückruf. Am Apparat ist das Kirchenkreisbüro: „Eine Kirchenbesichtigung ist nun doch möglich. Der Superintendent selbst wird Sie führen.“

Was wir nun in der Kirche erleben, ist ein Feuerwerk der Worte und Gefühle. Der erwartete Kirchenfunktionär entpuppt sich als leidenschaftlicher Geistlicher und mitreißender Prediger. Nüchtern schildert er uns die Situation seiner ostdeutschen Heimat: „Es wächst jetzt die dritte Generation ohne Gott heran. Sozialismus und Nationalsozialismus haben die Menschen gegen die Gottesfrage immunisiert. Viele haben Gott nicht nur vergessen: Sie haben vergessen, dass sie Gott vergessen haben. Der Atheismus ist zum Alltagsgefühl der Menschen geworden. Man definiert sich nicht als evangelisch oder katholisch. Man sieht seine Konfessionslosigkeit als sinnvoll und normal an. Unsere Kirchgemeinden sind oftüberaltert. Die Jüngeren sind in den Westen gezogen. Der Genosse Trend der Kirche heißt immer noch Rückzug. Manche Kollegen haben resigniert.“ Doch statt in dieser Beschreibung mutlos aufzugehen, strömt uns sprühende Zuversicht entgegen. Der Superintendent erinnert uns an die vielen Wunder, die geschehen seien: dass bei der friedlichen Revolution die Kerzenlichter stärker waren als die Kanonenrohre der DDR-Panzer. Dass die Kirche den harten Gegenwind dieser Jahrzehnte überlebt habe und heute in vielen Dörfern als verlässlicher gesellschaftlicher Partner von den Kommunen geschätzt werde. Dass sich neue Möglichkeiten ergeben im Bereich von Religionsunterricht und Schulgründungen. Dass konfessionslose Menschen ganz selbstverständlich bei der Renovierung ihrer Dorfkirche mithelfen. Dass es neben harter Gleichgültigkeit doch auch Bewegung gäbe: Erwachsenentaufen und Kircheneintritte. Wie ein Steuermann, der kraftvoll gegen den Sturm segelt, erzählt er:

„Diese Klosterkirche stand kurz vor dem Abbruch. Es gab hier keine Gemeindegottesdienste mehr. Niemandem schien sie mehr wichtig zu sein. Doch die Wende kam genau rechtzeitig. Mit westlicher Finanzhilfe konnten wir sie erneuern. Örtliche Hände haben sich motivieren lassen zur Mithilfe. Heute gibt es ein wöchentliches Friedensgebet, regelmäßige Konzerte, vierteljährliche Gottesdienste. Die Kirche beginnt wieder zu arbeiten. Ich bin dankbar für den Wohlstand, der aus dem Westen kommt, aber er wärmt nicht die Herzen. Auch unsere Seelen brauchen eine Heimat. Die Menschen werden wiederkommen. Hier wurde achthundert Jahre lang Gottes Wort verkündigt, und ich bin gewiss, dass dies auch noch in achthundert Jahren so sein wird.“

Und dann erinnert er uns an die reformatorische Tradition und an das reiche Erbe dieser Region, und es war, als wäre es in ihm lebendig geworden, als gehöre er zu denen, die das Feuer des Glaubens weitertragen, weil er mit Luther weiß: „Wir sind es doch nicht, die da die Kirche erhalten könnten. Unsere Vorfahren sind es auch nicht gewesen. Unsere Nachfahren werden’s auch nicht sein; sondern der ist’s gewesen, ist’s noch und wird’s sein, der da sagt: ‚Ich bin bei euch alle Tage bis der Welt Ende. ‘“ Aus den hoffnungsvollen Augen dieses Mannes hat ein trotziges Dennoch gefunkelt, das an Luther erinnert. Plötzlich leuchten die Steine, und durch den Staub der Geschichte funkelt das Gold des Evangeliums. Der glaubensgewisse Superintendent hat uns bei seiner Kirchenführung die toten Steine lebendig gemacht. Was zu kalter Leblosigkeit geronnen erschien, begann plötzlich durch seine Worte zu wärmen.

Dasselbe Anliegen verfolgt dieses Buch. Auf dem Hintergrund seiner Wohnorte wird Luthers Leben erzählt. Dem schweigenden Vergessen wird das „Schreien der Steine“ (Lukas 19,40) entgegengestellt. Luthers Lebensstationen sollen transparent werden für seine theologischen Entdeckungen und die aktuelle Relevanz seiner Gedanken.

Bei Luther lernen wir, dass religiöse Gleichgültigkeit keine moderne Erscheinung ist. In einer Predigt über die Freude auf das ewige Leben zitiert Luther ein Stammtisch erprobtes mittelalterliches Gedicht von Martinus von Biberach. Es nimmt das unbekümmerte Lebensgefühl vieler Zeitgenossen auf und wurde später von Bertolt Brecht zitiert:

Ich komm – weiß nit, woher.

Ich geh – weiß nit, wohin.

Mich wundert, dass ich fröhlich bin.

Luther lehnt diesen Spruch als „Reim der Gottlosen“ ab. Die Christen lebten doch genau in der umgekehrten Situation. Sie kennen Ursprung und Ziel ihres Lebens. Und trotzdem hätten sie oft Angst in der Welt. Deswegen hat Luther daraus ein ermutigendes Gegengedicht gemacht:

Ich komm – weiß wohl, woher.

Ich geh – weiß wohl, wohin.

Mich wundert, dass ich traurig bin.

Deswegen gefällt mir mein vergoldeter „Büro-Luther“. Die Worte des Reformators sind für mich wie ein erquickender Strom mitten in Wüstenzeiten, ein Aufruf zur Zuversicht, wenn die Anfechtung groß ist.

Vorschläge für Stadtrundgänge von Möhra bis Eisleben sind mit einem grauen Strich auf den jeweiligen Seiten markiert.

Ich komm, weiß wohl woher!

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