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Möhra

Zur Quelle

Man kann das Leben Martin Luthers mit einem Fluss vergleichen. Mal wild und sprudelnd in den Kämpfen der jungen Jahre, dann wieder in sich ruhend dahingleitend an hellen Sonnentagen, wenn das „Evangelium seinen Lauf“ von ganz alleine tut. Reißende Stromschnellen und gefährliche Untiefen, wenn er wie ein Getriebener hastend fortgerissen wird vom Gefälle der sich verändernden Zeiten. Zum Ende hin dann ein breiter Strom, eine fast melancholische Schwere. Das Fließen wird langsamer, manchmal wie träge stehendes Wasser. Doch es gibt kein Zurück.

Da sind die vielen Rinnsale und Bäche, die den Fluss auf den Weg gebracht haben: eine herausfordernde Erziehung durch die Eltern, die gründliche Schulausbildung, klärende Zeiten im Kloster und an der Universität. Da sind menschliche und geistliche Lernerfahrungen, welche die ausgetrockneten Bachläufe seiner Existenzfragen tropfenweise angefüllt haben. Und dann die große Unterbrechung, wie ein vulkanisches Geschehen unmittelbar aus dem Herzen Gottes heraus: Er entdeckt die voraussetzungslose Gnade des himmlischen Vaters. Er macht die bestürzende Grunderfahrung des geschenkten Daseins. Für Luther war das nicht nur ein geistiges, sondern vielmehr ein alle Lebensadern umfassendes schöpferisches Ereignis. Er hat das Paradies erlebt und zittert vor glücklicher Erschütterung. Als ob ein Erdbeben ihm ein ganz neues Flussbett aufgerissen hätte, den Weg in die herrliche Freiheit der Kinder Gottes.

Dieser Strom verändert die deutsche Landschaft. Er ordnet mit seiner Fließrichtung die ganze Welt neu. Wie eine Kultur schaffende Lebensader ziehen Luthers Leben und Denken die Menschen in ihren Bann. Die Reformation prägt die westliche Gesellschaft über Jahrhunderte hinweg. Flüsse stiften Identität.

Vergleicht man also Luthers Leben mit einem Fluss, dann liegt hier im beschaulichen Möhra dessen Quelle. Hier fängt seine Familiengeschichte an. Hier steht das Stammhaus der Luthers.

Zur Welt gekommen ist der kleine Martin zwar woanders. In Eisleben, im östlichen Harzvorland, rund 160 Kilometer nordöstlich von hier. Sein Vater Hans war dort mit der Familie auf der Suche nach einer neuen beruflichen Existenz kurzzeitig untergekommen. Im Mansfelder Land boomte damals das frühindustrielle Wirtschaftsleben. Mit seiner hochschwangeren Frau war er hier angelangt. Eisleben ist eher zufällig zum Geburtstort geworden. Die Beziehungen dorthin gehen nicht in die Tiefe. Ein dort ansässiger Onkel der Mutter ist der Anknüpfungspunkt. Die Bande zu diesem Ort sind eher oberflächlich episodenhaft.

Gezeugt jedenfalls könnte Martin Luther hier in Möhra geworden sein, der jahrhundertelangen Heimat seiner Vorfahren. Frisch verheiratet haben seine Eltern wohl noch manche Zeit im Haus des alten Vaters Heine Luder verbracht, bevor sie sich auf den Weg in die weite Welt gemacht haben ins Mansfelder Land. Hier in Möhra, auf der Westflanke des nördlichen Thüringer Waldes, ist der Lebensraum des Lutherclans. An den Quellen dieser Landschaft wurzelt ihr starker Stamm.

Bereits um das Jahr 1300 herum findet sich in Möhra ein Wigand von Lüder. Ritter soll er gewesen sein und aus Großenlüder bei Fulda stammen. Ist er zum Ahnherrn des Reformators geworden? Eine adlige Herkunft? Namen erschlossen sich im Mittelalter nicht vom Schreiben, sondern vom Hören her. Es gab keinen Duden, der die orthographische Richtigkeit eines Begriffes bestätigte. Die meisten Menschen konnten nicht lesen. Ob Lüder, Luder, Ludher oder Luther, ob hessisch, thüringisch oder sächsisch – je nach Mundart klang es stets ein wenig anders, aber alle wussten: Das ist ein und dieselbe Person. Auch Martin Luther selbst hat seinen Namen mindestens auf drei verschiedene Weisen geschrieben. Und das Wörtchen „von“ charakterisierte damals nicht unbedingt eine adlige Herkunft. Es hatte vor allem einen ortsanzeigenden Charakter und konnte auch sagen: Wigand, der „von“ dem Ort „Lüder“ herstammt.

Auch Ortsnamen veränderten sich. Möhra hieß früher einfach nur „Moor“. Das erinnert an die namensgebende geologische Landschaft, ein ausgedehntes Feuchtgebiet, das auch im Namen der heutigen Großkommune weiterlebt. „Moorgrund“ nennt sich der Gemeindeverband, zu dem Möhra mit seinen rund 600 Einwohnern seit 1994 gehört.

Durch seine Nord-Südlage liegt das Mittelgebirge des Thüringer Waldes wie eine 150 Kilometer lange Staumauer frontal zur Hauptwetterseite. Es regnet überdurchschnittlich viel. Aus Sümpfen werden Moore. Die kargen Böden können nur wenige Menschen ernähren. Der mühevolle Lebenskampf, der manchmal wie ein Fluch auf dem Land lastete, konnte aber auch Segen bedeuten. Zum einen sagt Luther einmal rückblickend: „Anstrengungen machen gesund und stark.“ Segen ist nicht nur das Geschenkte, sondern auch das Erworbene, auch die Erfahrung des Bewältigens von Problemen durch eigene Kraft. Und dann: Wer angesichts solcher herausfordernden Lebensbedingungen freiwillig hierher zieht, dem muss man schon etwas bieten. Von der Grundherrschaft her müssen attraktive Autonomie- und Besitzrechte garantiert werden, die das Siedeln und Bleiben in diesem herben Gebiet fördern.

So entstand im Thüringer Wald eine relativ freie, selbstbewusste Bauernschaft, die nur einen weltlichen Patron über sich kannte, den sächsisch-thüringischen Kurfürsten. Die hiesigen Landwirte mussten nicht vielen Herren dienen, wie ihre Berufskollegen in Süddeutschland, von woher im späteren Bauernkrieg die stärkste revolutionäre Sprengkraft kam. Sie waren keine Leibeigenen, die von den Erwartungen ihrer Besitzer schier erdrückt wurden. Der Kurfürst verlangte nicht viel mehr als den jährlichen Gulden für ein Zugviehgespann, eine Art Maschinensteuer. Dazu eine überschaubare Abgabe für Haus und Hof. Das war bezahlbar. Der Freibauer war nicht am Fürsten festgekettet. Er durfte den Wohnort wechseln und besaß das damals nicht selbstverständliche Recht, sich die Ehefrau ohne obrigkeitliche Mitsprache aussuchen zu dürfen. Eigenständig waren die hiesigen Bewohner auch in der Bewirtschaftung der Allmenden, der gemeinsamen kommunalen Güter. Wald, Weide und Wasser wurde ohne Zutun des Grundherrn untereinander verteilt. Auch kleinere Rechtssachen durften auf gemeindlicher Ebene entschieden werden. Ein Dorf mit einem hohen Maß an politischer Selbstbestimmung.

Bei aller Freiheit, die den Möhraer Bauerngeschlechtern gewährt wurde: Eine juristische Bedingung gab es. Das Erbe durfte nicht geteilt werden. Der Hof musste am Stück an die nächste Generation weitergegeben werden. Erbberechtigt war immer der jüngste Sohn.

Nur wenn der Hof beieinanderbleibt, kann eine Familie davon existieren. Und dass gerade der jüngste Sohn erben sollte, war weitsichtig. Die Eltern konnten somit den Hof relativ lange selber bewirtschaften und die Kinder als Arbeitskräfte in ihrer Obhut behalten. Dadurch war es ihnen möglich, sich um deren weitere Versorgung nachhaltig zu kümmern. Denn von welchen Gütern leben die übrigen, die nicht-erbberechtigten Geschwister?

Wer nicht auf andere Bauernhöfe „einheiraten“ oder sich eine eigene kleine Existenz aufbauen konnte, der diente als Knecht oder Magd beim Bruder auf dem elterlichen Hof. Einige der leer ausgegangenen Geschwister verließen aber auch ihre Heimat auf der Suche nach Arbeit und Brot. Der Abwanderungsdruck war groß in Gegenden, in denen das so genannte Anerbenrecht herrschte.

Diese harte Erbregelung war der Preis dafür, dass den bestehenden Höfen eine effiziente, wirtschaftliche Existenz bewahrt wurde und führte dazu, dass die Familien über Generationen hinweg sehr beständig auf ihren Höfen saßen. Die Sippschaft des Reformators zeigt sich als eine überaus ortsgebundene Familie. Im Jahr 1531 sind es mindestens vier Familien „Luder“, die in Möhra wohnen. Sie halten ihre Stammhäuser jahrhundertelang in Familienbesitz. Auch in den umliegenden Gemeinden ist der Name vertreten. Martin Luther sagt einmal, dass seine Verwandtschaft „fast die ganze Gegend einnehme“. Und dieser Eindruck gilt bis heute. Waren in vielen Regionen Deutschlands durch den Dreißigjährigen Krieg ganze Bauerngeschlechter ausgelöscht oder von ihren Dörfern vertrieben worden, so haben sich die Luthers am Ort behauptet. Im Telefonbuch des Jahres 2013 findet man für die Gemeinde Moorgrund noch neun verschiedene Anschlusspartner mit dem Namen „Luther“.

Zur bodenständigen Stabilität kommt die finanzielle Solidität. Aus Steuerlisten geht hervor, dass Luthers Großvater Heine und die mit den Luthers verschwägerten Familien Ziegler, Parchelt, Eckhardt und Kehr zu den sieben reichsten Bauern des Dorfes gehören. Innerhalb der örtlichen Honoratiorenschicht verehelicht man sich untereinander. Es geht nach dem Motto frommer Lebenstüchtigkeit: „Gott hat sie zusammengeführt, aber die Äcker liegen auch beieinander.“ Aus deren Häusern kommen die Entscheidungsträger des Ortes: ehrenamtliche Bürgermeister, Räte und Dorfrichter. Martin Luther bekennt einmal, dass er selber, wenn sein Vater nicht nach Mansfeld gezogen wäre, in diesen Tätigkeiten seine Bestimmung gefunden hätte: „Ich hätte eigentlich ein Vorsteher, Schultheiß und was sie sonst im Dorf haben, irgendein oberster Knecht über die anderen, werden müssen.“ In solchen Familien ist man gewohnt, Verantwortung für das Gemeinwohl zu übernehmen, Entscheidungen zu treffen und Vorbild für andere zu sein.

Martins Vater Hans war nicht erbberechtigt. Er scheint der älteste der vier Luder-Buben gewesen zu sein. Heinz war der jüngste Sohn des Heine, der designierte Hoferbe. Was bekam der Erstgeborene? Gab es für ihn eine berufliche Perspektive?

Aufschlussreich ist, dass die Familie Eigentumsanteile an einer Mühle besaß, die zwischen Möhra und Ettenhausen lag. Ursprünglich war es eine Kupfermühle. Zahlreiche aufgelassene kleine Bergwerke zeigen, dass es durch das ganze Mittelalter hindurch Versuche gab, im Thüringer Wald Eisen, Kupfer und andere Mineralien zu gewinnen. Doch die Bemühungen blieben meistens enttäuschend. Die Erträge deckten oft nur die Binnenbereiche des regionalen Eigenbedarfs ab. Das Kupfererz war von schlechter Qualität. Es lohnte sich nicht mehr. Als das Mühlengebäude später verkauft wird, ist zu erfahren, dass in den 1480er Jahren aus der ehemaligen Kupfer- eine Getreidemühle geworden war. Die Umwandlung von der Metall- zur Kornverarbeitung geschah ungefähr zu der Zeit, als Hans ins Mansfelder Hüttenrevier ausgewandert ist. Ist das ein Zufall? Hat er sich vielleicht bereits als junger Erwachsener in einer Art Nebenerwerbstätigkeit den Geschmack und die Kenntnisse geholt für sein weiteres berufliches Fortkommen als Bergmann? Hätte er vielleicht, bei guten Umständen, die Mühle und das Hüttengewerbe übernommen? Und wollte er nun dorthin, wo der Kupferabbau lukrativer zu sein schien? Das junge Ehepaar verließ jedenfalls die Gegend. Der zukünftige Reformator wurde im Mutterleib davongetragen.

Aber Martin Luther ist später gerne hierher zurückgekommen. Er hat sich seines Möhraer Familienclans nicht geschämt. Als er die weiterführende Schule besucht und zu diesem Zweck ins nahe Eisenach umzieht, pflegt er Kontakt hierher. Ein dreistündiger Sonntagsspaziergang führt den Lateinschüler von seiner Lehranstalt aus leichtfüßig zu seinen Cousins und Cousinen hinter dem Wald. Vorbei an der Wartburg steigt ein Seitenpfad des Rennsteigs munter hinauf in den Thüringer Wald. Nobelpreisträger Thomas Mann schwärmt davon, dass die Natur hier „immer schöner, bedeutender und romantischer“ wird. Man gelangt durch das Dickicht des Gehölzes in die Weite des Moorgrundes. Der Wanderer wird von „freundlichen Haufendörfern aus Fachwerkhäusern“ sonnig begrüßt. Für den städtischen Teenager ist es eine fröhliche Landpartie. Ein Stück Heimat abseits des fernen Mansfelder Elternhauses.

Luther redet positiv über seine Verwandtschaft. Seinem Landesherrn bekennt er später, dass die hiesige Familie ihm „geholfen hat“. Selbst als er bereits deutschlandweit bekannt ist, stellt er sich vorbehaltlos zu seinen bäuerlichen Angehörigen und verwendet sich beim Kurfürsten für den in finanzielle Schwierigkeiten geratenen Onkel Heinz. Dieser würde gewiss „tun, was er für diesen Hof schuldig ist“. Luther bürgt für ihn und macht deutlich: Ich kenne ihn. Er wird seinen fälligen Kredit baldmöglichst begleichen. Offenbar war Heinz durch außergewöhnliche Umstände in Zahlungsrückstand geraten.

Am besten dokumentiert ist Luthers Aufenthalt in Möhra am 4. Mai 1521. Diese Sternstunde der Ortsgeschichte ereignet sich auf dramatischem Hintergrund. Mit dem Pferdewagen vom Rhein herkommend hat er bewegende Erlebnisse im Gepäck. Auf dem Wormser Reichstag hatte Luther öffentlich das Evangelium bezeugt, sich geweigert, seine Lehren zu widerrufen und war verurteilt worden. Vom Papst gebannt und vom Kaiser geächtet befindet er sich nun fast schutzlos auf der Rückfahrt nach Wittenberg. Unterwegs erreicht ihn eine durch Boten überbrachte Einladung zum Besuch seiner Verwandtschaft. Wer steckt dahinter? Gibt es eine kurfürstliche Regieanweisung für diesen Umweg? In Eisenach verlassen er und seine immer weniger werdenden Begleiter den breiten Heerweg, die Hauptstraße nach Gotha. Der Wagen biegt ab Richtung Südosten. Auf unübersichtlichen Seitenpfaden geht es weiter durch baumreiches, bergiges Gelände. Möhra kommt in Sicht. Von dort aus würde er morgen weiterreisen. Bei der Steige des Steinbacher Glasgrundes, zwei Wegstunden entfernt von hier, wenn die Pferde langsamer werden, würden sie ihn dann in Schutzhaft nehmen und auf die Wartburg bringen. Die Bergfeste seines Landesherrn würde zum Kavaliersgefängnis, zum rettenden Exil werden. Aufregende letzte Stunden vor der geplanten Hilfsoperation seines Schutzherrn Friedrichs des Weisen. Wie gut tun einem in Zeiten der Anfechtung die vertrauten, kampffreien Räume. Der Hof des Onkels. Ein warmes Willkommen. Das stärkende Essen. Eine sichere Schlafstatt. Wohltaten für Leib und Seele. Als ob sich der prominente Durchreisende in dieser Heimatlosigkeit noch einmal seiner Wurzeln versichern wollte, ein Rasten des Hastenden. Er holt sich Kraft an der erfrischenden Quelle des familiären Zusammenhaltes.

Und er versammelt sie alle um sich. Am nächsten Morgen hält er eine Predigt unter freiem Himmel. Auf dem Dorfplatz wollen ihn Hunderte hören. Man kennt sich und weiß voneinander. Es ist ein Heimspiel. Luther steht im Nachrichtenzentrum des Ortes, direkt unter der mächtigen Dorflinde. Hier wurde früher Gericht gehalten. Auch manch politischer Friedensschluss ist unter dem Baum bekannt gegeben worden. Der berühmt gewordene Wittenberger Professor – freilich ein Aufsteiger, aber doch auch „einer von uns“ – verkündigt unter dem Baldachin des Blätterdaches das Evangelium: das Gericht über fromme Werkgerechtigkeit und den Frieden für verängstigte Seelen. Ganz Möhra steht hinter ihm in diesen schweren Stunden vor seiner fingierten Gefangenahme.


Luther predigt in Möhra

Was ist von dieser innigen Beziehung geblieben? Wie stellt sich der Ort dem heutigen Besucher dar?

Die Dorflinde gibt es seit 150 Jahren nicht mehr. Da, wo Luther einst predigte, steht seit dem Jahr 1861 sein fünfeinhalb Meter hohes Bronzedenkmal. Es ist der augenscheinliche Ausgangspunkt einer „neueren“ Luthererinnerung des 19. Jahrhunderts. Die Welt hat in den davorliegenden Jahrhunderten nicht viel von Möhra gewusst. Luthers Stammort lag im Windschatten der Geschichte. Man war hier evangelisch geworden, nicht aus Lokalpatriotismus, sondern weil es der zuständige Kurfürst angeordnet hatte. In manchen eingesessenen Familien mag das Luthergedächtnis wach geblieben sein, aber die Augen der gebildeten Gesellschaft richteten sich auf andere Lutherstätten, vorrangig nach Wittenberg. Die Universität an der Elbe wurde zum blühenden Anziehungspunkt vieler protestantischer Studenten. Über zweihundert Jahre hinweg prägte sie geistiges Leben im reformatorisch gesinnten Europa.

Erst am Ende des 18. Jahrhunderts verändert sich die akademische Wahrnehmung. Der Blick geht weg von den alten Griechen und ihren klassischen Vorbildern. Wissenschaftler und Künstler entdecken die eigene Nation. Die nun einsetzende Zeit der Romantik sucht ihre Ideale nicht mehr im antiken „ausländischen“ Götterhimmel, sondern im Wurzelwerk germanisch-mittelalterlicher Mythen. Das „Kind aus dem Volk“ mit seiner authentischen Reinheit wird zum Gegenstand forschenden Interesses gegen alles „Verbildete“. Das sich emanzipierende Bürgertum sucht seine Identität im eigenen Herkommen. Die Werte der überschaubaren Welt des bäuerlichen Dorfes werden verklärt gegenüber der vermeintlich dekadenten, städtischen Lebensweise des Adels. Das 19. Jahrhundert ist eine Zeit der Ausgräber und Quellensucher. In der Gegenbewegung zur aufkommenden Industrialisierung entdeckt man den „deutschen Wald“ als Ur-Ort des Lebens. Man sucht den geheimnisvollen Zauber verwunschener Plätze in Mooren, Bachläufen und Bergschluchten. „Ad fontes“, der humanistische Ruf „zu den Quellen“, wird in der Romantik zu einem Appell, die Wahrheit nicht in den Tempeln von Peloponnes, sondern im kulturellen Wurzelgrund des eigenen Landes zu finden. Der schwäbische Musikpädagoge Friedrich Silcher notiert die Lieder des einfachen Volkes. Die hessischen Gebrüder Grimm veröffentlichen alte Erzählungen, die die Großmutter noch wusste. Es entstehen gedruckte Sammlungen von Liedern und Sagen. Es ist, als würde ein verschütteter Quelltopf wiederentdeckt, ausgegraben und neu für die Menschen gefasst.

Aus diesem Geist heraus entsteht auch das berühmte „Deutsche Märchenbuch“. Es stammt von dem Meininger Apotheker und Sagenforscher Ludwig Bechstein. Der herzogliche Kabinettsbibliothekar ist ein Universaltalent und wird auch zum Hauptinitiator des Möhraer Lutherdenkmals. Die romantische Sehnsucht braucht Pilgerorte und Symbole, deutsche Helden wie Martin Luther, die aufs Podest der Bewunderung gestellt werden. Bechstein geht voran und ruft eine Spendenaktion ins Leben. Zum 300. Todestag des Reformators 1846 soll die bronzene Skulptur fertig sein. Bechsteins Freund, der Meininger Hofbildhauer Ferdinand Müller, hat sie entworfen. Aber es zieht sich hin. Zwischen ungestümer Anfangsbegeisterung und praktischer Umsetzung liegt der meist lange Weg finanzieller und handwerklicher Realitäten. Als die überlebensgroße Darstellung 1861 in Anwesenheit fürstlicher Vertreter und unter Absingen des Chorales „Ein feste Burg ist unser Gott“ feierlich enthüllt wird, ist Ludwig Bechstein bereits gestorben. Seine Dichterworte aber fassen die Gefühle der Festgesellschaft zusammen und klingen als Rezitation übers Land:

O Möhra, so beglückt und so verlassen.

Du hast ein Recht zu jubeln und zu klagen.

Der arme Bergmann ist davon gezogen.

Im fremden Land vielleicht das Glück zu fassen.

Dir – ward dein Stern im Mutterschoß enttragen.


Lutherdenkmal neben dem Stammhaus

Ist dieses Ehrenmal mit seiner hel- denhaften Gestik und den im Sockel dargestellten biographischen Schlüsselszenen ein idealisiertes Lutherbild, eine überhöhte Heiligendarstellung? Zumindest ist es ein Trostpflaster für die entgangene Ehre, der Geburtsort dieser einmaligen Persönlichkeit geworden zu sein. Den bronzenen Reformator jedenfalls ließen sich die Einwohner Möhras nicht mehr nehmen. Als das Denkmal während des Zweiten Weltkriegs zu Kanonenfutter verwandelt und eingeschmolzen werden sollte, gab es mutige Ortsverantwortliche und gewiefte Beamte,die mit einer behäbigen Verzögerungstaktik die in Berlin befohlene Ablieferung zu verhindern wussten. Diesmal haben sie sich ihren Luther nicht „enttragen“ lassen.

Die Ortsbesichtigung beginnt man am besten hier, im Zentrum des Dorfes, auf dem Lutherplatz, Auge in Auge mit dem denkmalgewordenen Glaubenszeugen. Auf den ersten Blick sieht man schon das Wichtigste:

Luthers rechte Hand zeigt auf ein typisch thüringisches Fachwerkhaus am Lutherplatz Nr. 1. Es ist „Dr. Martin Luthers Stammhaus“. Aller Wahrscheinlichkeit nach war er in diesem Haus des Großvaters mehrfach zu Gast. Es ist der mutmaßliche Geburtsort seines Vaters. Das Gebäude wurde nach einem Brand 1618 von einem Georg Luther wieder neu aufgebaut. 1982 wurde bei einer Renovation der ursprüngliche Zustand wiederhergestellt. Das Haus ist nicht zu besichtigen, aber zu bewohnen. Wer rechtzeitig bucht, kann in einer der Ferienwohnungen unterkommen.

Am hinteren Ende des Platzes steigt man zum Kirchberg hinauf und betritt durch eine unauffällige Gartentüre den Kirchhof. In freundlicher Anmut steht dort ein ländliches Gotteshaus. Eine kleine Ausstellung befindet sich im Inneren der Kirche. Um das Jahr 1700 erhielt das Gebäude seine heutige Gestalt. Dem Turm wurde die typische „Thüringer Haube“ als Dach aufgesetzt. So schön die Vorstellung gewesen wäre, dass Hans und Margarethe Luder hier geheiratet haben, so fand deren Vermählung tatsächlich wohl aber in der stattlichen Wehrkirche im Filialort Ettenhausen statt, der damaligen Hauptkirche des Kirchspiels. Sie stand für Brautmessen größerer Familien zur Verfügung. In Möhra selbst gab es nur eine kleine Kapelle. Ein Ort des Gebets und der Seelenmessen für Verstorbene, vielleicht auch für Taufen. Dieser bescheidene Andachtsort entsprach in der Größe ungefähr dem heutigen Chorraum. Die steinerne Tischplatte auf dem Altar mit den fünf eingehauenen Weihekreuzen stammt noch aus dieser Zeit. Viel später dazugekommen sind die bunten Bleiglasfenster, die ein Medizinalrat Luther aus Luckenwalde gespendet hat. Dass man sich auf Lutherland bewegt, zeigt auch der Gang über den angrenzenden Friedhof. Wer die Namen der Verstorbenen liest, wird fündig werden.

Die Höhepunkte des Ortes sind schnell erfasst: Lutherplatz, -denkmal, -haus und -kirche. Fehlt nur noch das 2002 eingerichtete Lutherzimmer. Es findet sich im Dorfgemeinschaftshaus, wenige Gehminuten vom Ortszentrum entfernt an der Hauptstraße. Ein nett gemachtes Museum, das einführt in die historischen Verbindungen Luthers hierher. Am eindrucksvollsten ist das große Bild, das Möhras geschichtsträchtigste Stunde zeigt: den predigenden Mönch unter der Dorflinde. Nach der Besichtigung lädt eine Bäckerei im unteren Stockwerk ein zum kulinarischen Nachklang bei Kaffee und Kuchen.

Das heutige Möhra ist noch immer ein kleiner Flecken, der von landwirtschaftlichem Leben geprägt zu sein scheint. Bellende Hofhunde und aufmerksame Nachbarn verfolgen den Weg des fremden Besuchers. In das beschauliche Bild passt der Geflügelpark, der auf Initiative des örtlichen Rasseflügelzüchtervereins gegründet wurde. In Volieren und Teichen sind heimische Geflügelrassen wie Steinbacher Kampfgänse und Thüringer Barthühner zu bestaunen. Luther hätte sich daran gefreut. Immer wieder nimmt er Bilder aus dem Tierreich auf und benützt sie als rhetorische Gleichnisse. Dem faulen Schüler rät er zum Beispiel: „Liebes Kind, lernst du wohl, wirst du gebratner Hühner voll, lernst du aber übel, so geh mit den Säuen über den Kübel.“

Ob Luther auch das buddhistische Karmazentrum gefallen hätte, mag dahingestellt bleiben. Ein wachsendes „Unternehmen“: Über dreißig neue Wohneinheiten sind am Ortsrand geplant. Im Angebot sind Kontemplation und Achtsamkeitswochenenden, Lebenshilfe und buddhistische Sterbebegleitung. Das Kloster auf Zeit lädt den Besucher ein, durch tibetische Meditation seine eigenen spirituellen Wurzeln zu finden. Bewusst wurde ein abgelegener Ort der Stille gewählt. Was würde Luther dazu sagen? Er hat ja sein Ordensgewand abgelegt und geäußert, dass „alle Klöster und Stifte ausgewurzelt“ werden sollten. In seinem mönchischen Ringen hat er erfahren: Wer in sich geht, trifft immer auf den Sünder. Im Lied zeichnet er sein dramatisches Erleben nach: „Die Angst mich zu verzweifeln trieb, dass nichts denn Sterben bei mir blieb, zur Hölle musst ich sinken.“ Empfände Luther diese karmasuchende, friedliche Lebensgemeinschaft als Untergangszeichen für das abendländische Christentum? Eine Rückkehr zu längst überwunden Geglaubtem? Oder könnte er darin vielleicht auch ein geistliches Suchen entdecken? Ein erster Schritt auf dem Weg zum Evangelium? Sicher würde er uns eine wahrnehmende und gleichzeitig kritische Gelassenheit empfehlen. Und uns an das Versprechen Jesu erinnern, dass seine Gemeinde nicht von den Pforten der Hölle überwunden wird.

Mit diesem den Menschen zugewandten Gottvertrauen hat Christoph Martin Neumann von 1988 bis 2009 seinen Dienst als evangelischer Pfarrer in Möhra getan. Das Pfarrhaus steht neben der Kirche. Als Neumann in Pension ging, wurde es gründlich renoviert. Trotz kirchlicher Stellenreduzierungen soll die Möhraer Pfarrstelle mit Rücksicht auf die kirchengeschichtliche Bedeutung des Ortes erhalten bleiben. Neumann, der hier die Zeit der politischen Wende erlebt hat, lobt die positive Haltung der Menschen zur Kirche. So wurde der örtliche Kindergarten in den 1990er Jahren in die Obhut der Kirchengemeinde übergeben. Die christlichen Erzieherinnen wirken heute auch in Familien hinein, „die nicht mehr viel vom lieben Gott wissen“. Ein hoher Anteil der Bevölkerung ist nach wie vor evangelisch. „Die Tradition wirkt nach“, sagt der beliebte Seelsorger, dem eine „zu den Leuten hingehende Gemeindearbeit“ wichtig war. Manche Kritiker würden die örtlichen Bewohner zwar als „lutherische Dickschädel“ bezeichnen. Er jedoch habe seine Gemeindeglieder als vielleicht „bedächtig, aber immer offen und liebenswert“ erlebt. „Viele sind bereit, sich mit ihren Gaben in die Kirchengemeinde einzubringen.“ Seinen interessanten Dienstort empfand er als ein „Dorfpfarramt mit dem Blick zur Welt“. Auch im Ruhestand bringt er vielen Reisegruppen in humorvoller Lebendigkeit die Geschichte des Lutherstammortes nahe.

Was bleibt nun, wenn wir weiterziehen? Warum ist das unspektakuläre Möhra so wichtig für ein vollständiges Lutherporträt? Was ist die Mitgift dieses Ortes für Erben, die den Reformator verstehen wollen?

Vielleicht hilft uns dabei der Blick auf einen ganz anderen, einen lutherischen Theologen der Neuzeit. Eberhard Bethge, der Freund und Biograph Dietrich Bonhoeffers, schildert in seiner Lebensbeschreibung die „reiche Welt der Vorfahren“ Bonhoeffers, der wegen seines mutigen Widerstandes gegen die Nazis zum Märtyrer geworden war. Seiner familiären Herkunft verdanke er „eine Sicherheit des Urteils und des Auftretens, wie sie nicht in einer Generation erworben werden kann“. Bethge sieht im verwandtschaftlichen Wurzelgrund einen entscheidenden Faktor für die Souveränität und Unerschrockenheit Bonhoeffers: Wer auf sicherem Boden steht, kann sich weit aus dem Fenster lehnen.

Ist es nicht gerade diese innere Freiheit, mit der uns viereinhalb Jahrhunderte zuvor auch Luther in seinen entschlossenen Stunden begegnet? Luther kommt nicht aus großbürgerlichen Kreisen. Er hat keine Ratsherren, Generäle und Universitätsprofessoren in der Ahnenreihe. Seine Vorfahren gehören zum „gemeinen Volk“. Er sagt auch, dass „stolze Esel aus den Söhnen der Helden werden, die sich ihrer Tüchtigkeit rühmen“. Für ihn ist es ein „närrischer Traum“, wenn man meint, man würde der geistlichen Gaben „durch fleischliche Abstammung teilhaftig“.

Er hat einen völlig anderen persönlichen Hintergrund als Bonhoeffer, aber dennoch gibt es auch in seiner Familie ein unbeugsames Autonomiebewusstsein. Man sieht sich nicht als rechtlose Klasse, die mit devotem Sklavengeist passiv dahinvegetiert. Der starke Stamm dieser Thüringer Sippe gestaltet aktiv die Welt. Martin Luther ist geprägt von einem Selbstverständnis, das nicht nur über die eigene Leistung definiert wird, sondern auch aus dem Herkommen der Väter. Eine Standesehre, die „nicht in einer Generation erworben werden kann“.

Luthers Vater war in seinem zweitgelernten Beruf Bergmann. Das war eine industrielle Tätigkeit, kein Bauerntum. Martin hat von Kindheit an in kleinstädtischen Verhältnissen gelebt, nicht auf dem Land. Dennoch stellt er sich entschieden zu seiner dörflichen Herkunft. Nur im Nachsatz zählt er fast leidenschaftslos die berufliche Erwerbstätigkeit des Vaters auf. Geradezu bekennerhaft dagegen stellt er fest: „Ich bin eines Bauern Sohn, mein Vater, mein Großvater, mein Urgroßvater sind rechte Bauern gewesen.“ Aus bäuerlicher Herkunft heraus entwickelt er sein erdiges Selbstverständnis. Hier in Möhra geht es um Luthers Identität.

Alte Heimatbücher schildern den Volkscharakter der Thüringer Waldbewohner. Sie beschreiben die „einladende Distanzlosigkeit“ und „fehlende Zimperlichkeit“ der örtlichen Bevölkerung. Im Ringen um das tägliche Brot wird ihre Kraft gestärkt. Im Moorgrund stellt man sich kampfesmutig den Widrigkeiten des Lebens, die nur mit ausdauernder Arbeit besiegt werden können. Es findet sich etwas Entschlossenes, Handgreifliches. Man ist aktiv und konservativ. Man kämpft gegen Ungerechtigkeiten, neigt aber nicht zu Revolutionen. Auch heute noch. Im örtlichen Gemeinderat bestimmt die CDU mit absoluter Mehrheit die kommunalen Geschicke. Die lebensnahe Orientierung am Machbaren entzaubert den künstlichen Schein weltfremder Ideologien. Es findet sich ein ausgeprägtes Rechtsgefühl, das im landwirtschaftlichen Herkommen und den Traditionen der Alten wurzelt. In manchem Beschriebenen mag man Luthers Wesen und Eigenarten wiedererkennen.

Da ist Luthers Nähe zum Kreatürlichen, das oft den Duft des Ackers in sich trägt. Der Landwirt erfüllt unmittelbar den biblischen Befehl des Schöpfers an den Menschen. Sein Ur-Beruf ist das „Bebauen und Bewahren“ der Erde. Auftrag und Erfüllung, Wort und Antwort sind beim mittelalterlichen Bauern ungetrennt beieinander. In jeder eingebrachten Weizenähre und mit jedem gepflückten Apfel erfährt er handgreiflich die „väterliche, göttliche Güte und Barmherzigkeit“, durch die wir „reichlich und täglich versorgt werden mit allem, was Not tut für Leib und Leben“. Luther hat sich das dankbare Staunen des erntenden Landwirts bewahrt, wenn er appetitanregend bemerkt: „Darf Gott gute, große Hechte und gute Rheinweine erschaffen, so darf ich sie wohl auch essen und trinken.“

Entschlossene Arbeit macht hungrig. Dass dabei im Überschwang der Freude auch manches Maß verloren geht, sieht man an der üppigen Körperfigur des verheirateten Luthers. Ein verwandter Großneffe wird in den Analen als „Georg der Dicke“ beschrieben. Offenbar liegt auch etwas Maßloseses, Ungebremstes in den Genen der Familie, ein Hang zur Leibesfülle.

Der Bauer kennt das Ernteglück, aber er weiß auch um die andere Seite, den „Fluch“, der die Schöpfung durchzieht. Eine schöne und gleichzeitig schwere Welt, die dem Schöpfer wie ein tönernes Gefäß durch menschlichen Hochmut entglitten zu sein scheint. Das Wunder zeigt sich dem Landwirt nun in einer eigentümlichen Gebrochenheit: Ernte und Hunger, Sonne und Hagel, Kraut und Unkraut, Geburt und Tod. Er erlebt die Sünde nicht als harmlosen moralischen Defekt, sondern als wirkmächtige Tatsache, die der ganzen Schöpfung wie eine Klette „am Hals“ liegt. Ein substantieller, bäuerlicher Realismus, der Luther in seinem Reden und Denken prägt.

Luthers Sprache ist alles andere als „professoral“. Er schaut „dem Volk aufs Maul“. Er neigt zu emotionsgeladenen Formulierungen, zu drastischen Bildern aus dem ländlichen Umfeld. Sein Vokabular ist reich an beleidigenden Ausdrücken. Nichts für den Hörsaal. Die Hölle vergleicht er mit einer „Kloake“, dem Teufel will er nicht „einen Furz schenken“ und die Kardinäle sind für ihn schlichtweg „Scheißdreck“. Das ist nicht die feine englische Art, sondern ätzende Fäkalsprache aus der untersten Schublade. Steckt dahinter eine schlechte Kinderstube? Ist er eben doch „ein ungehobelter Bauer“? Nein, es ist gezielte Absicht. Seine anschauliche Sprache erreicht die Menschen über Milieugrenzen hinweg. Die leibhaften Formulierungen geben den Sprachlosen eine Stimme. Mit Analrhetorik macht er das Abgründige seine Gegner plastisch. Durch das Fassbare seiner Sprache macht er deutlich: Das Beschriebene ist ekelhafte Realität. Man spürt seine Schmerzen. Es ist Kampfvokabular gegen den Teufel und all diejenigen, die mit ihm im Bunde stehen. Sein theologisches Erkennen wird im Leiblichen festgemacht. Die australische Historikerin Lyndal Roper fasst es so zusammen: „Luther denkt durch seinen Körper hindurch.“

Und wenn Luther das christliche Ethos beschreibt, wenn er feststellt, dass ein Christ „niemandem untertan“ ist im Glauben, aber „allen untertan“ durch die Liebe, wenn er Freiheit und Verantwortung zu Zwillingsschwestern erklärt, sieht er da nicht seinen Großvater vor sich? Ein unabhängiger Bauer, der nur einem Herrn verpflichtet ist. Diese Beziehung zu dem einen Herrn macht ihn frei gegenüber den Ansprüchen der vielen kleinen „Herrlein“. Diese Beziehung verpflichtet ihn aber auch zur Schuldigkeit gegenüber jedermann, zum gerechten Umgang mit seinem Nächsten.

Der Weg nach Möhra ist der Weg zur Quelle. Ein Ort, an dem Unterirdisches ans Tageslicht kommt und Verborgenes offenbar wird. Wie groß ein Fluss auch werden mag, die Quelle lebt doch stets in ihm weiter.

Ich komm, weiß wohl woher!

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