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GLEICHBERECHTIGUNG KYNISCHER FRAUEN?

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Die Gleichheit von Mann und Frau ist für die Kyniker unstrittig. Sie ist Teil ihres Weltbildes. In einem der legendären Briefe der Kyniker schreibt Krates an Hipparchia (Brief Nr. 28): „Frauen sind von Natur aus nicht schlechter als Männer.“ Dann schreibt er weiter (Brief Nr. 29): „Führe also ein kynisches Leben mit uns – du bist ja nicht schwächer als wir, ebenso wenig wie Hündinnen nicht schwächer sind als Rüden“ (zit. nach Bernhard Lang 2010, 94).

In einem Gespräch mit einem jungen Mann setzt sich der Stoiker Epiktet (3, 22) später gründlich mit dem Kynismus auseinander und gibt eine auf Diogenes passende Charakterisierung eines echten Kynikers:

Aber wie ist es möglich, glücklich zu leben, wenn man nichts hat, nackt, ohne Haus und Herd im Elend sein Dasein fristet, ohne Diener und ohne Heimat auskommen muss? Siehe, da hat euch Gott einen Mann gesandt, der durch die Tat gezeigt hat, dass es möglich ist. „Seht mich an: Ich habe kein Haus, keine Heimat, keinen Besitz, keinen Diener. Ich schlafe auf dem blanken Boden. Ich habe keine Frau, keine Kinder, keinen schäbigen Gouverneurspalast, sondern nur die Erde, den Himmel und einen armseligen Rock. Was fehlt mir denn? Lebe ich nicht ohne Leid und Angst? Bin ich nicht frei? Wann hat einer von euch gesehen, dass ich etwas ohne Erfolg begehrte oder dass ich dem verfallen bin, was ich ablehnte? Wann habe ich einem Gott oder einem Menschen jemals gezürnt? Wann habe ich jemandem Vorwürfe gemacht? Hat mich etwa einer von euch mit finsterer Miene gesehen? Wie trete ich denen gegenüber, die ihr fürchtet und bewundert? Etwa anders als einfachen Sklaven? Wer meint nicht, wenn er mich sieht, seinen König und Herrn zu sehen?“ – Ja, das sind die Worte eines echten Kynikers, ja, das ist sein wahres Wesen, ja, das ist sein Lebensplan (Epiktet 3, 22, 45–50).

Die folgende Anekdote (D. L. 6, 37) veranschaulicht das Ideal des einfachen Lebens durch Konsumverzicht:

Als Diogenes einmal ein Kind sah, das aus der hohlen Hand Wasser trank, riss er seinen Becher aus dem Ranzen und warf ihn weg mit den Worten: „Ein Kind ist mein Meister geworden in der Genügsamkeit.“ Auch seine Schüssel warf er weg, als er eine ähnliche Beobachtung bei einem Knaben machte, der sein Geschirr zerbrochen hatte und nun seinen Linsenbrei in der Höhlung eines Brotstückes barg.

Becher und Schüssel sind für Diogenes Symbole eines überflüssigen Luxus, auf den man verzichten kann. Indem er den konsequenten Ausstieg aus der Zivilisation des Überflüssigen fordert und vorlebt, protestiert er gegen die in seinen Augen widernatürliche Lebensweise seiner Mitmenschen, die sich zum Sklaven ihrer künstlichen Bedürfnisse gemacht und die Selbstbestimmung der Fremdbestimmung geopfert haben.

Seneca verwendet in seinem 90. Brief an Lucilius (14–15) Diogenes als Chiffre für das einfache Leben:

Wie – ich bitte dich – passt es zusammen, dass du sowohl Diogenes als auch Dädalus bewunderst? Beide scheinen dir weise zu sein? Derjenige, der sich den Riegel ausdachte, oder jener, der sofort seinen Becher aus dem Ranzen nahm und zerbrach, als er gesehen hatte, wie ein Junge aus der hohlen Hand Wasser trank, und sich selbst vorwarf: „Wie lange schon hatte ich Tor überflüssiges Gepäck bei mir?“, dann sich in einem Fass zusammenrollte und dort schlief? Wen hältst du denn heute für weiser? Denjenigen, der entdeckte, wie man safranfarbenes Wasser aus verborgenen Röhren in eine gewaltige Höhe pressen kann, der Kanäle durch plötzlichen Wasserdruck füllt oder trocken werden lässt und bewegliche Kassettendecken von Speisesälen so zusammenfügt, dass sie ihr Aussehen nach und nach wechseln und sich so oft verändern wie die Gänge des Gelages? Oder denjenigen, der anderen und sich selbst zeigt, wie die Natur uns nichts Hartes und Schwieriges auferlegt hat, sodass wir ohne Marmorkünstler und Bauhandwerker wohnen können, dass wir uns anziehen können ohne Seidenhandel, dass wir besitzen können, was für unsere Bedürfnisse notwendig ist, wenn wir uns nur mit dem begnügen, was uns die Erde auf ihrer Oberfläche zur Verfügung gestellt hat? Wenn das Menschengeschlecht auf diesen Philosophen hört, dann wird es wissen, dass bei ihm der Koch genauso überflüssig ist wie der Soldat.

Diese Einstellung wird später wieder bei Diogenes Laërtios (6, 104) zum Ausdruck gebracht:

Den Kynikern gefällt es, einfach zu leben. Sie nehmen nur bescheidene Speisen zu sich und tragen nur schlichte Kleidung. Von Reichtum, Ruhm und guter Familie halten sie nichts. Zuweilen ernähren sie sich nur von Kräutern und trinken grundsätzlich nur kaltes Wasser. Sie benutzen den erstbesten Unterschlupf und auch Fässer wie Diogenes, der zu sagen pflegte, es sei göttlich, nichts zu benötigen, und gottähnlich, wenn es wenig ist.

Im 2. Jh. n. Chr. zeichnet Lukian in seiner Schrift Das Leben des Demonax das Bild eines kynischen Philosophen, das seine Leser dazu anregen konnte, einen philosophischen Lebensweg einzuschlagen. Demonax, so Lukian, stammte aus einer angesehenen Familie auf der Insel Zypern. Er fühlte sich aber zu Höherem berufen, und es zog ihn zur Philosophie:

Doch Demonax wurde von niemandem dazu ermuntert. Er tat dies aus eigenem Antrieb zum Guten und aufgrund seiner ihn von Jugend an beseelenden Liebe zur Philosophie. Er verachtete alles, was die Menschen sonst für gut hielten, widmete sich ganz der Freiheit und Offenheit und führte ein aufrechtes, gesundes und einwandfreies Leben. Mit seinen Überzeugungen und seiner philosophischen Gradlinigkeit war er für alle, die ihn sahen und hörten, ein Vorbild. ... Er war gebildet und mit der Literatur vertraut. Mit den philosophischen Lehren hatte er sich intensiv auseinandergesetzt. Er trieb auch intensiv Sport und härtete seinen Körper ab, um Ausdauer zu haben und unabhängig zu sein. ... Er legte sich nicht auf eine bestimmte philosophische Richtung fest. Aber mit Sokrates schien er besonders vertraut zu sein, und Diogenes war in seinem äußeren Erscheinungsbild und mit seinem einfachen Lebensstil sein Vorbild. Aber ansonsten lebte er unauffällig (Lukian, Demonax 3–5).

Demonax war nach Lukian ein rundherum angenehmer, bescheidener, hilfsbereiter und liebenswürdiger Mensch. „Das Wesen seiner Philosophie war freundlich, menschlich und heiter“ (9). Allerdings hatte er sich durch seine Unabhängigkeit und Offenheit (eleuthería und parrhesía) ebenso viel Hass zugezogen wie Sokrates, ohne dass er jedoch dasselbe Schicksal erleiden musste wie dieser. Er wurde fast hundert Jahre alt.

Die Menschlichkeit und Leichtigkeit dieses Kynismus zeigt sich besonders deutlich in der Antwort des Demonax auf die Frage, welcher Philosoph ihm am meisten gefalle:

Alle sind gewiss bewundernswert. Ich aber verehre Sokrates, bewundere Diogenes und liebe Aristipp (62).

Moderne Schlagworte wie Konsumverzicht, Widerstand gegen den Konsumismus, Askese, Comeback des einfachen Lebens verweisen zweifellos auf den antiken Kynismus und scheinen einen aktuellen Neo-Kynismus zu begründen. Allerdings dürfen die tiefgreifenden Unterschiede zwischen antiken und modernen Lebensbedingungen nicht übersehen werden. Wenn Diogenes das Ideal des einfachen Lebens vertritt und vorlebt, dann geht es ihm nicht um die Beendigung eines umweltzerstörenden Konsumverhaltens. Im 4. vorchristlichen Jh. waren die Möglichkeiten zu einem exzessiven Konsum ungleich geringer als in unserer Zeit. Die antike Gesellschaft war keine Überflussgesellschaft von existenzbedrohendem Ausmaß auf dem Weg in die Katastrophe. Das einfache Leben wurde nicht aus ökologischen Gründen angestrebt. Vielmehr war die Erwartung, durch Konsumverzicht und einfaches Leben Freiheit und Selbstbestimmung zu gewinnen, die Grundlage der kynischen Askese. Diogenes ist zwar nicht unter dem ökologischen, aber doch unter einem psychologischen Aspekt als Vorläufer oder sogar als Leitfigur eines modernen Anti-Konsumismus anzusehen.

Wer auf überflüssigen Besitz verzichtet und sich mit dem unbedingt Lebensnotwendigen begnügt, entzieht sich nicht nur den Zwängen ökonomischer Verfügungsgewalt und Fremdbestimmung. Er leistet auch einen Beitrag zur Schonung natürlicher Lebensgrundlagen. Wer sein Leben lang nur einen einzigen Mantel trägt und diesen zugleich als Bettdecke und Matratze benutzt (D. L. 6, 22), ist für die entsprechenden Industrien ein ökonomisches Nichts. Wer kein Haus baut, sondern in einem Fass lebt, ist für Kreditinstitute uninteressant. Wer sich im Sommer auf glühend heißem Sand umherwälzt und im Winter schneebedeckte Säulen umarmt, um sich abzuhärten (D. L. 6, 23), ist ein für die Arzneimittelindustrie uninteressanter Zeitgenosse. Wer selbst im Winter mit nackten Füßen herumläuft (D. L. 6, 34), dürfte, wenn dieses Verhalten Schule machte, die Schuhindustrie ruinieren. Raffael hat schon in vorindustrieller Zeit die Anstößigkeit und Respektlosigkeit des kynischen Lebensstils in Szene gesetzt: In dem monumentalen Gemälde der Schule von Athen (1509) rekelt sich Diogenes demonstrativ auf den Treppenstufen vor Platon, Aristoteles und den anderen würdigen Herrschaften.

Nicht zu vergessen sind auch Diogenes und die bösen Buben von Korinth . In dieser lustigen Bildergeschichte erzählt Wilhelm Busch die Geschichte eines friedlich in seinem Fass ruhenden Philosophen. Zwei Knaben, die ihn zu ärgern versuchen und sein Fass zum Rollen bringen, finden ein erbärmliches Ende:

Diogenes der Weise aber kroch ins Fass und sprach: „Ja, ja, das kommt von das!“

Peter Sloterdijk ist in seiner Kritik der zynischen Vernunft (1983, 302) auch auf Diogenes und den antiken Kynismus eingegangen.

Als Antitheoretiker, Antidogmatiker, Antischolastiker sendet er einen Impuls aus, der überall wiederkehrt, wo Denker sich um eine „Existenz für freie Menschen“, auch frei von Schulzwängen, bemühen. ... Es ist eine Linie des Philosophierens, die den Esprit de serieux aufhebt.

Die Anekdote von der Begegnung zwischen Alexander und Diogenes ist das Urbild der Emanzipation der Philosophie von der Politik, des Geistes von der Macht. Diogenes in der Tonne lebt bis heute in der politisch-gesellschaftlichen Karikatur weiter, um gegen die Leere des „Schöner Wohnens“ und die Nichtigkeit des Komforts zu demonstrieren.

Heureka!

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