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DURCH DAS NIEDERRHEINISCHE NACH KÖLN
ОглавлениеNach dem Frühstück verlasse ich das Hotel »Nibelungen Hof«, in das ich mich standesgemäß einquartiert hatte, und begebe mich auf meine Nibelungenwanderung. Es ist Ostermontag und der Marktplatz von Xanten ist noch frei von Autos und fast menschenleer.
Xanten liegt weit im Westen Deutschlands, am Niederrhein, dort, wo man eigentlich schon die Holländer vermutet. Im Nibelungenlied heißt es, dass Xanten (Sántén) »im Niderlande« liegt, aber das darf nicht mit den heutigen Niederlanden verwechselt werden.
Xanten ist der Geburtsort unseres Helden und Drachentöters Siegfried. Nur – er war gar kein Burgunde, kein Nibelunge. Weshalb also meine Nibelungenwanderung in Xanten beginnen? Es ist ganz einfach: Siegfried freite erfolgreich die burgundische Königstochter Kriemhild aus Worms und kehrte mit ihr als seine Gemahlin und spätere Königin nach Xanten zurück. Jahre später reisten Siegfried und Kriemhild gewissermaßen zu einem Familientreffen nach Worms, so dass Xanten sehr wohl als Ausgangspunkt des Weges der Nibelungen gelten kann. In Worms kam es bekanntlich erst zum Streit zwischen den Königinnen und schließlich zur Ermordung Siegfrieds.
Xanten wurde im Jahre 98 nach Christus von den Römern als Colonia Ulpia Traiana, kurz »CUT«, gegründet, nachdem es dort schon seit 12 vor Christus ein römisches Militärlager namens Vetera gab. Die Besatzung von Vetera musste im Jahre 9 nach Christus einen hohen Blutzoll entrichten. Zwei der drei römischen Legionen, die in der sogenannten Varusschlacht von Cheruskern unter der Leitung von Arminius (Hermann der Cherusker) vernichtet worden waren, stammten aus Vetera. Moderne Historiker sehen in Arminius gar die Vorlage für den Sagenhelden Siegfried. Der Drache (Lindwurm) symbolisiert demnach den Heereswurm der drei Legionen des Feldherrn Varus. Siegfrieds Schwert Balmung sei gleichzusetzen mit dem hochwertigen römischen Kurzschwert, welches Arminius als römischer Präfekt und Auxiliaroffizier sicherlich auch besaß. Den Nibelungenschatz soll die Beute aus der Varusschlacht darstellen.
Mir erscheint dies ziemlich weit hergeholt, dem deutschen Fernsehen war es 2010 immerhin zwei Abendsendungen wert.
Die Stadt Xanten präsentiert heutzutage die Relikte aus der Römerzeit auf hervorragende Weise im Archäologischen Park Xanten mit dem neuen Römermuseum. Die Römer sorgten Anfang des 4. Jahrhunderts dafür, dass Xanten auch einen Märtyrer bekam, nämlich den Heiligen Viktor, zu dessen Verehrung der das Stadtbild beherrschende Dom errichtet wurde. Xantener Lokalpatrioten wollen denn auch in Viktor den Helden Siegfried erkennen, indem sie »Siegfried« aus dem Wort für »Sieger« herleiten, welcher auf Latein eben »Victor« heißt. Der Grund dafür ist verständlich, denn in Xanten deutet rein gar nichts auf Siegfried und sein Königreich hin. Lediglich die Kriemhildmühle aus dem 18. Jahrhundert hielt durch ihren Namen für lange Zeit allein die Erinnerung an Siegfried und Kriemhild wach.
Auf dieser Mühle hätte ich vor etlichen Jahren in Begleitung einer jungen Isländerin beinahe den Kopf verloren. Jedenfalls kam es uns so vor. Als wir nämlich die Windmühle außen auf der Galerie umrunden wollten, versperrte uns ein gespanntes Seil den Weiterweg. Neugierig reckten wir uns weit darüber, um zu sehen, was hinter der nächsten Ecke war und – Wusch! – rauschte ein Windmühlenflügel knapp vor unseren Köpfen vorbei. Erschrocken fuhren wir zurück, froh, dass uns das Schicksal der Nibelungen erspart geblieben war.
An der Stadtmauer neben der Kriemhildmühle zeigt eine Bronzetafel drei Szenen aus dem Nibelungenlied, offensichtlich nicht in der richtigen Reihenfolge. Aber immerhin taucht hier das Nibelungenlied erstmals auf.
Inzwischen hat sich Xanten werbewirksam der Nibelungen bemächtigt und im Herbst 2009 das Museum NIBELUNGEN[H]ORT eröffnet. Außerdem gibt es vor den Mauern der Stadt auch eine Siegfriedmühle, die aber noch nicht vollständig renoviert ist. Diese späte Erinnerung an die mythische Vergangenheit Xantens als »Siegfriedstadt« mag wohl auch an deren Verklärung in der Zeit des Nationalsozialismus liegen. Es begann 1934 mit der Ausgrabung des römischen Ruinenfeldes, der CUT-Grabung, publizistisch werbewirksam auch als »Siegfriedgrabung« bezeichnet. Während die Ausgräber um wissenschaftliche Neutralität bemüht waren, erhoffte sich das deutschtümelnde Umfeld die Aufdeckung der Burg Siegfrieds, des »Edelsitzes« von Siegfried. Als dies nicht der Fall war, kürte man gar das ausgegrabene römische Amphitheater zur »Jungsiegfried-Kampfbahn der Hitlerjugend«. Es ist nur allzu verständlich, dass sich zunächst niemand mehr mit den Nibelungen hervortun wollte.
Die Kriemhildmühle in Xanten
Das Museum NIBELUNGEN[H]ORT suchte ich am Vortag zunächst vergeblich, denn dieser Name taucht auf keinem Haus auf. Dafür sah ich an einem Gebäude in großen Lettern »Das Siegfried Museum«, und eine Schrottplastik an der Gebäudewand sollte Siegfried mit dem Drachen darstellen. Weil ich den Eingang zum Museum nicht finden konnte, fragte ich im Museumsshop nach und erfuhr, dass er hier versteckt war. Im Museum erwartete mich eine absolut sehenswerte Ausstellung. Dies ist umso bemerkenswerter, als es ja keine Hinterlassenschaften der Nibelungen gibt.
Eine Replica von Siegfrieds Schwert Balmung lieferte mir eine Vorstellung, wie dieses Sagenschwert ausgesehen haben könnte. Von der Form her war es eine Spatha, ein Langschwert, wie es schon die Kelten in vorrömischer Zeit benutzten und wie es bis ins 12. Jahrhundert in Gebrauch war. Wie Siegfrieds Schwert aussah, ist im Nibelungenlied beschrieben: ein goldener Griff und im Knauf ein Jaspis, »grüner als Gras«.
Mich interessierte im Museum aber ganz besonders die große Schautafel, welche die Schauplätze des Nibelungenlieds zeigte. Diese Schautafel gab es im Museumsshop auch als Postkarte zu kaufen. Ich erhielt sie dort als Geschenk, als ich erzählte, dass ich genau den auf der Karte gezeigten Weg gehen wollte.
Ich gehe also über den Marktplatz und dann weiter auf einer Straße, die mich Richtung Alpen führen soll. Damit sind nicht die Berge im Süden Deutschlands gemeint, sondern ein Ort am Niederrhein. Ich sehe hier auch Markierungen und Wegweiser des Europäischen Fernwanderweges und des Jakobsweges, die beide über Köln führen sollen. Da ich aber deren Verlauf nicht kenne, bleibe ich bei der von mir gewählten Route. Der einfachste Weg nach Köln und dann weiter nach Worms wäre, den Rhein entlang auf dessen Deich zu gehen. Zur Zeit der Nibelungen konnte man aber mit großer Wahrscheinlichkeit nicht dem Verlauf des Rheins folgen, denn damals gab es noch viele tote Flussarme, und es lässt sich vermuten, dass die Flussniederung sumpfig und mit Schilf bestanden war. Deshalb entschließe ich mich für eine Route, welche dem Rhein in einem westlichen Abstand von 10 bis 15 Kilometern folgt. Damit umgehe ich später auch die größeren Städte wie Duisburg, Krefeld oder Neuss.
Hinter dem Ortsausgang von Xanten fällt mir völlig unpassend Goethes Osterspaziergang ein:
»Vom Eise befreit sind Strom und Bäche
Durch des Frühlings holden, belebenden Blick,
Im Tale grünet Hoffnungsglück;
Der alte Winter, in seiner Schwäche,
Zog sich in rauhe Berge zurück […]«
Trotz Ostermontag unpassend, weil schon seit gut zwei Wochen in Deutschland sommerliche Hitze herrscht, und auch heute steigen die Temperaturen schnell auf nahezu dreißig Grad. Diese Hitze spüre ich umso mehr, weil mein Weg auf asphaltierten Radwegen durch eine Landschaft verläuft, welche keinerlei Abwechslung bietet, ausgenommen die vielen Pferde auf den Weiden. Auf einer Koppel zähle ich gar 72 Stück. Glücklicherweise ersparen mir einzelne Baumgruppen und Wäldchen oft den trostlosen Ausblick. Auch schränken vereinzelnde Hügel und Hügelketten, maximal sechzig Meter hoch, den Fernblick ein. Diese Hügel heißen hier in maßloser Übertreibung »Berg«. Zum Ausgleich werden dafür Schlösser meist nur als »Haus« bezeichnet. Vor dem Ort Alpen studiere ich das Angebot des »Hundetreff Alpen«, welches eher an das Programm eines Sportvereins erinnert. Da gibt es Vormittagsgruppen, Junghundgruppen, Sport-Spiel-Spaß, Einzeltraining, Seminarabende und vieles mehr. Alpen scheint eine sehr aktive Hundepopulation zu haben. Der Ort selbst, obwohl historisch nicht unbedeutend und wohl schon im 7. Jahrhundert existent, erweist sich als reichlich nichtssagend. Immerhin gibt es eine Eisdiele, wo ich bei Eiskaffee Pause mache.
Nach acht Stunden komme ich schließlich in Kamp-Lintfort an, wo ich mich von meinem Navi zum nächstgelegenen Hotel führen lasse. Es ist ein großes, vornehmes Haus, und die Eingangshalle glänzt durch vollkommene Leere. Erst nach einiger Zeit taucht eine verhuschte Rezeptionistin auf, die auf meinen Wunsch nach einem Zimmer hin erst umständlich lange den Computer befragt. Völlig überflüssig, wie ich am nächsten Morgen beim Frühstück feststelle, denn es gibt nur vier Gäste. Offenbar mache ich keinen zuverlässigen Eindruck, denn ich muss das Zimmer gleich bezahlen. Beim Duschen spüre ich aufkeimenden Muskelkater, und Sonnenbrand habe ich auch.
Abends ist das Hotelrestaurant recht gut besucht. Ich wähle auf der Speisekarte aus der Rubrik »Typisch Niederrhein« Welsfilet in der Senfkruste auf Kartoffelpüree mit gebratenen Apfel- und Blutwurstscheiben und roter Zwiebelmarmelade. Diese in meinen Augen unmögliche Kombination hat mich neugierig gemacht. Im Nachhinein kann ich nur hoffen, dass selbiges Rezept auch in Zukunft auf den Raum Kamp-Lintfort beschränkt bleibt oder, noch besser, ganz in Vergessenheit gerät.
Der heutige Wandertag sieht mich wieder auf schattenlosen Radwegen und Landstraßen und in gesichtslosen, backsteinbraunen Orten mit stets gleich aussehender Kirche. Nur das »Haus Eyll«, eine ehemalige Wasserburg und alter Rittersitz in idyllischer Lage, bietet etwas Abwechslung.
Als ich einmal nicht aufpasse, weiche ich vom gewählten Weg ab und gerate dadurch, welch ein Glück, zur Tönisberger Mühle. Diese Mühle ist eine Besonderheit, denn es handelt sich um eine Kastenbockmühle, bei der die gesamte Mühle passend zum Wind gedreht wird. Die meisten Windmühlen in Deutschland sind Holländermühlen, bei denen nur die Haube mit den Flügeln gedreht wird, wie zum Beispiel bei der Kriemhildmühle in Xanten.
Als ich wieder auf meiner Planroute bin und lustlos die schnurgerade Straße vor mir in der Hitze flimmern sehe, steige ich in den gerade nahenden Linienbus und bin in wenigen Minuten in Kempen, meinem heutigen Zielort. Es ist ein überraschend nettes Städtchen mit vielen denkmalgeschützten Häusern aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Natürlich darf auch eine Windmühle nicht fehlen. Die autofreie Zone ist belebt von schwarzen Hollandfahrrädern, auf denen die Radler völlig aufrecht sitzen, einige sogar mit leichter Rücklage. Für mich aus München, wo Mountainbikes überwiegen, ein ungewohnter Anblick. Manche Frauen sehen in dieser Haltung fast schon sexy aus. Zumindest in meinen Augen.
Am nächsten Tag hat eine neue Marotte von mir Besitz ergriffen: Ich lese Busfahrpläne. Nicht, dass ich ständig einen Bus benutzen will. Aber es verleiht mir ein bestimmtes Gefühl der Sicherheit, zu wissen, wann ein Bus in meine Richtung fährt. Umgekehrt erhöht es meinen Stolz, auf eine günstige Fahrgelegenheit zu verzichten und stattdessen zu Fuß zu gehen. Wie gesagt: eine Marotte, die ich nebenbei bis zum Schluss beibehalten habe.
Die Morgenluft ist kühl und da wäre ein langärmliges Outdoorhemd, wie in einschlägigen Geschäften oft zu hohen Preisen angeboten, die richtige Kleidung. Da ich aber nicht alle Trends mitmache, fällt meine Wanderkleidung sehr einfach aus: T-Shirt und bei Bedarf Regenjacke. Als ich daheim meinen Rucksack packte, stand ich vor der Wahl, meine sündhaft teure High Tec-Allzweckjacke mitzunehmen oder ein älteres Modell, in Form und Farbe längst nicht mehr aktuell. Trotzdem fiel meine Wahl aus einem sehr einfachen Grund auf letzteres Stück: es ist 150 Gramm leichter als die High Tec-Jacke. An einem kühlen Tag wie heute hat meine einfache Kleiderordnung zur Folge, dass ich an den nackten Armen friere. Aber für die Jacke ist es weder ausreichend kalt noch nass genug. Den Rücken wärmt ohnehin der Rucksack. Ich habe mit dieser Kombination die gesamte Nibelungenwanderung ausgezeichnet überstanden. Tiefe Bräune an den Armen ist das Ergebnis.
Bald komme ich auf einen schattigen, unbefestigten Radweg, so wie ich ihn mir die letzten zwei Tage gewünscht hätte. Aber prompt meldet sich schon mein Navi mit einem Piepston um mich darauf aufmerksam zu machen, dass ich zwanzig Meter vorher hätte abbiegen müssen. Also wieder nichts mit unbefestigten Wegen, sondern weiter auf asphaltierter Straße. Ab und zu komme ich an großen Bauernhöfen vorüber, die wie Trutzburgen wirken und in die man nur durch eine einzige Toreinfahrt gelangt. Auf den ausgedehnten Ländereien werden hier statt Pflanzen für Diesel und Superbenzin noch Produkte für den menschlichen Verzehr angebaut, wie zum Beispiel auf schier endlosen Feldern grüner Salat. Statt »Brot zu Benzin« werden hier noch ganz offensichtlich Arbeitsplätze für Erntehelfer geboten.
Ich lese inzwischen nicht nur Busfahrpläne, sondern auch die Inschriften auf Gedenksteinen, Wegkreuzen und Infotafeln. Auf einer Infotafel des Pumpwerks Tönis erfahre ich deshalb im schönsten Amtsdeutsch, was man bei »größeren Regenereignissen« unternimmt. Ein solches Ereignis ereilt mich dann in Sankt Tönis, und der restliche Tag verläuft einigermaßen feucht. Es gibt hier viele Fasane, und wenn ich auch nicht alle zu Gesicht bekomme, so höre ich doch die lauten Rufe der Hähne. Irgendwann höre ich auch meinen ersten Kuckuck in diesem Jahr.
In der Nähe von Krefeld befasse ich mich längere Zeit mit dem Studium eines Denkmals, welches zur Erinnerung des Sieges der Truppen unter Prinz Ferdinand von Braunschweig über die Franzosen am 23. Juni 1758 errichtet worden war. Diese Schlacht war einer der Höhepunkte im Rheinland während des Siebenjährigen Krieges 1756 bis 1763. Beide Seiten hatten so viele Truppen zusammen gezogen (die Alliierten 32 000 Mann, die Franzosen 47 000 Mann), dass man erst einen geeigneten Platz suchen musste, um das Gefecht auszutragen.
Hierfür bot sich der Großraum um Krefeld an, der damals noch geräumiges Heideland mit wenigen Bäumen war. Im Gegensatz zu heute, wo hier ausgedehntes Waldgebiet vorherrscht. Man stelle sich vor, die Feldherren hätten kein passendes Gelände gefunden – was dann? Das Los entscheiden lassen oder wieder heimziehen? Nun, hier hatten sie also genug Raum für die übliche Schlachtordnung, die da hieß: sich einander gegenüberstellen und dann so lange aufeinander schießen, bis einer genug hat. Ferdinand von Braunschweig war jedoch so unfair, dass er den Gegner einfach umgangen und von hinten angegriffen hat. So also kam es zum Sieg über die zahlenmäßig überlegenen Franzosen und zu diesem Denkmal, dessen Adler finster nach Westen blickt.
Das letzte Stück meines Weges nach Korschenbroich muss ich mir im Regen mit Autos auf einer Bundesstraße teilen, auf der mich eine Leitplanke daran hindern würde, im Notfall auszuweichen. Vor meinen geistigen Augen sehe ich mich mit zerquetschten Beinen an der Leitplanke kleben. Wie sehr wünsche ich mir die Radwege zurück!
Der Weg ab Korschenbroich beginnt mit Wald, einem sehr schönen Laubwald voller Vogelstimmen. Die wenigen Spaziergänger, die mir begegnen (meist mit Hund), erwidern meinen Gruß nur unwirsch. Von rheinischer Fröhlichkeit ist hier nichts zu spüren.
Ich komme zuerst durch Liedberg, einem netten Ort mit Burgruine und Schloss. Letzteres leider eingerüstet, wie derzeit so viele öffentliche Gebäude in Deutschland, als Folge des staatlichen Konjunkturpaketes. Der Hügel, auf dem Liedberg liegt, war schon bei den Römern bekannt, denn sie bauten hier Quarzit ab.
Bei leichtem Nieselregen mache ich einen Umweg über das Haus Fürth, welches ein sehenswertes Wasserschloss sein soll. Was ich dort aber vorfinde, ist geradezu ein Märchenschloss! Ich darf zwar nicht den Schlosshof betreten, denn hier ist Privatbesitz, aber ein Schild erlaubt ausdrücklich, über die Wiese des gepflegten Parks zu gehen, um so das Schlösschen aus Backsteinen und Fachwerk besser betrachten zu können. Es ist die letzte im Rheinland erhaltene, in Fachwerk errichtete Wasserburg, die auf der Toreinfahrt schlicht als »Wasserumwehrter Gutshof aus dem 15. bis 17. Jahrhundert« bezeichnet wird. Ich bin trotz Nibelungenwanderung kein Mittelalterfan, aber in diesem Wasserschlösschen möchte ich gerne einmal wohnen.
Das nächste Wasserschloss auf meinem Weg ist Schloss Dyck, eine wuchtige Anlage mit neunhundertjähriger Geschichte. Aus der einst einfachen Befestigungsanlage ist heute ein Zentrum für Gartenkunst und Landschaftskultur geworden – das eigentliche Schloss ist leider teilweise eingerüstet. Dafür bekomme ich im Besucherbistro Kaffee und Kuchen und kann mir Gedanken über meinen geschwollenen, schmerzenden rechten Fuß machen. Vielleicht sind die Wanderschuhe, die ich für diese Tour gewählt hatte doch nicht gut geeignet. Daran lässt sich jetzt nichts mehr ändern und so gehe ich weiter nach Grevenbroich, das sich »Bundeshauptstadt der Energie« nennt. Hier liegen einige der riesigen Kraftwerke des rheinischen Braunkohlereviers, deren Kühltürme ich schon von weitem sehen konnte. Standesgemäß ziert den Ortseingang ein großes Laufrad einer Dampfturbine. Zum Verweilen lädt der Ort nicht gerade ein und so gehe ich weiter, auf Fuß- und Radwegen und, so will es mir erscheinen, stundenlang an einem Aluminiumwerk entlang. Da sehe ich einen Jungen zu einer Bushaltestelle eilen. Weil ich heute schon 23 Kilometer gegangen bin und keine Übernachtungsmöglichkeit sehe, gehe ich auch schnell zur Haltestelle, und wenige Minuten später sitze ich im Bus nach Rommerskirchen. Ich ärgere mich etwas, als der Bus nach nur etwa einem Kilometer an einem großen Landhotel vorbei fährt – bis dahin hätte ich ja noch locker gehen können! In Rommerskirchen frage ich einen Taxifahrer nach Hotels. Er erwähnt als Erstes dieses Landhotel, meint aber, das sei immer ausgebucht durch die vielen Monteure, die in den Kraftwerken arbeiten. Mein Ärger verfliegt und ich mache mich gemeinsam mit dem Taxifahrer auf Hotelsuche, die bald von Erfolg gekrönt ist. Nach meiner Ankunft in Hotels oder Gasthäusern spule ich inzwischen immer die gleiche Prozedur ab:
Duschen,
Hinlegen und die Beine ausstrecken oder vorher noch die Sehenswürdigkeiten des Ortes aufsuchen,
Abendessen so spät wie möglich, um den Abend zu verkürzen,
Frühstücken, in der Regel zwischen sechs und sieben Uhr
Abmarsch deshalb zwischen sieben und acht Uhr
Meinen Rucksack packe ich schon vor dem Frühstück, sodass ich immer schnell abmarschbereit bin. Tagsüber esse ich nichts, sofern ich nicht zufällig an einem Café vorbeikomme. Mein Trinkvorrat besteht lediglich aus knapp einem halben Liter Leitungswasser. Das erscheint wenig, aber ich bin daran gewöhnt und gehe davon aus, meine Trinkflasche bei Bedarf nachfüllen zu können (was sich schon früh als Irrtum erweisen sollte). Der Vorteil ist, dass ich nicht so viel tragen muss.
Der Weiterweg nach Köln verläuft zwischen Feldern, mit ständigem Blick auf die Kraftwerke und auf Hügel, die etwa zweihundert Meter hoch sind und hier nicht mehr »Berg« sondern »Höhe« heißen. Zu Siegfrieds und Kriemhilds Zeit gab es diese »Höhen« noch nicht, denn es handelt sich um Abraumhalden des Braunkohletagebaus.
Bald schon sehe ich in der Ferne die Türme des Kölner Doms und die Windmühle von Stommeln. Und dann taucht der Kirchturm von Brauweiler auf.
Brauweiler liegt gewissermaßen schon vor den Toren Kölns. Die Nikolauskirche, die ich schon von weitem gesehen hatte, gilt als einer der »bedeutendsten Bauten der rheinmaasländischen Romanik«. Die danebengelegene ehemalige Benediktinerabtei muss sich nicht dahinter verstecken, wurde sie doch bereits 1024 gegründet. Mit ihrer Auflösung unter Napoleon begann eine wechselvolle Geschichte als Bettleranstalt, Arbeitsanstalt, KZ und Gestapogefängnis und psychiatrisches Landeskrankenhaus. Heute ist sie Sitz verschiedener Landesbehörden. Unbeeindruckt davon wuchert im Abteipark seit angeblich mehr als tausend Jahren ein Maulbeerbaum. Mir waren Maulbeerbäume bislang nur als Futter für Seidenraupen bekannt, aber dieser Baum ist wohl nur wegen seiner Früchte angebaut worden. Bei dem Wort »Baum« erwartet man eigentlich ein Gewächs mit einem ordentlichen, aufrechten Stamm, aber nicht so der Brauweiler Maulbeerbaum: schlangenartig kriecht sein Stamm nahe am Boden. Es hat für mich fast den Anschein, als wäre der ihn umgebende Metallzaun nur dazu da, ihn daran zu hindern, von Brauweiler fortzukriechen. Zu meinem Leidwesen hindert mich dieser Zaun daran, den Stamm zu berühren. So wie andere Menschen das Bedürfnis haben Tiere zu streicheln, habe ich das Verlangen, besondere Bäume anzufassen. Paolo Coelho beschreibt in seinem Buch Auf dem Jakobsweg, dass ausgewachsene Bäume imstande sind, Harmonie auf den Menschen zu übertragen. Er lehnte sich deshalb erschöpft mit nacktem Oberkörper an einen Baum und fühlte sich schon nach wenigen Minuten besser. Das musste ich natürlich auch einmal ausprobieren. Geeignetes Versuchsobjekt war vor einigen Jahren eine etwa dreitausend Jahre alte Zypresse im tiefsten Süden Algeriens. Das Ergebnis meines Experiments waren verständnisloses Kopfschütteln der Reisegruppe und ein heftiger Juckreiz am Rücken. Mehr war nicht. Aber vielleicht befand ich mich mental nicht auf der richtigen Ebene. Daheim hat ein Versuch mit einer alten Fichte zu einem besseren Ergebnis geführt.
Ich mache es mir gegenüber der Abtei in einem Eiscafé gemütlich und rufe bei meiner Tochter in Köln an, um mich abholen zu lassen. Ich hätte auch den Vorortbus nehmen können, aber als Vater kann ich auch einmal Ansprüche stellen, und sei es nur eine kurze Fahrt nach Köln.
Als Siegfried und Kriemhild nach Köln kamen, war die Römerherrschaft am Rhein bereits beendet, lediglich Köln war noch so etwas wie eine römische Enklave. Aber auch nicht so richtig, denn seit Mitte des 4. Jahrhunderts wechselten sich Franken und Römer in der Stadtherrschaft ab. Es war möglicherweise diese wechselhafte Geschichte, die den Kölschen Klüngel hervorbrachte, den Konrad Adenauer sehr präzise definierte: »Mer kennt sisch, mer hilft sisch.« Egal welche Partei gerade das Sagen hat.
Anfang des 5. Jahrhunderts gab es in Köln bereits Märtyrerkirchen, eine davon die der Heiligen Ursula. Zu Siegfrieds und Kriemhilds Zeit aber waren es erst elf Jungfrauen, die zusammen mit Ursula den Märtyrertod erlitten hatten. Erst später wurde daraus die unvorstellbare Zahl von Elftausend Jungfrauen, als deren Mörder man im Laufe der Jahrhunderte die Hunnen und sogar Attila (Etzel) persönlich verantwortlich machte. Zwar waren weder die Hunnen und schon gar nicht Attila jemals in Köln, aber für ein derartiges Massaker gaben sie die idealen Sündenböcke ab.
Mit der inflationären Zunahme der Zahl der getöteten Jungfrauen, deren Gedenktag der 21. Oktober ist, stieg auch deren Verehrung in den katholischen Ländern Europas. Als Magellan 1520 in Südamerika die Einfahrt zu der später nach ihm benannten Meeresstraße erreichte, schrieb man gerade den 21. Oktober. Deshalb gab Magellan der dort gelegenen Landzunge den Namen »Cabo Virgenes«, also »Kap der Jungfrauen«. So wurden die elftausend Kölner Jungfrauen zu Namenspatroninnen eines einsamen Kaps im fernen Feuerland.
Siegfried und Kriemhild haben Köln wegen der hier herrschenden, unklaren Machtverhältnisse vielleicht gar nicht betreten, sondern sind westlich davon vorbei geritten. Dort, wo heute der Ortsteil Weiden ist, in den auch ich komme. Dabei haben die beiden möglicherweise einige Kilometer vor dem Westtor Kölns die Reste eines römischen Gutshofes gesehen, von dem heute noch eines der kuriosesten römischen Bodendenkmäler erhalten ist: die Grabkammer von Weiden. Kurios wegen der Art und Weise, wie man hineinkommt. Ich klingle am Haus Aachener Straße 1328, und gegen den Eintrittspreis von einem Euro wird mir der Zugang zur Grabkammer aufgeschlossen (mein dringender Rat: aktuelle Öffnungszeiten im Internet nachsehen). Ich steige hinab in den düsteren Raum, der Verkehrslärm verebbt und ich bin allein mit den Seelen verstorbener Römer, den Marmorbüsten, den Steinsesseln und dem wuchtigen Sarkophag aus Marmor. Alles noch original! Als Weintrinker gefällt mir besonders die Kelterszene an der Vorderseite des Sarkophags, auf der drei Eroten in einem Trog Weintrauben einstampfen. Pralles Leben im Angesicht des Todes!
Ich kehre zurück ans Tageslicht, melde mich bei der Kustodin im Haus 1328 ab und »eines der bedeutendsten Denkmäler römischer Zeit in Europa nördlich der Alpen«, so Rudolf Pörtner in seinem Buch Mit dem Fahrstuhl in die Römerzeit, versinkt hinter mir wieder in seinen Dornröschenschlaf an der Aachener Straße.
So endet ein fauler Tag mit nur 15 Kilometer Fußmarsch, drei Eroten und einem Grillabend in Köln-Weiden.