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Einführung Von Christophe Büchi Schweiz, wie hast Du’s mit der Mehrsprachigkeit?

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Ausländische Gäste, welche die Schweiz bereisen und sich für die Sprachensituation unseres Landes interessieren, sind oft überrascht. Wissend, dass sie in ein offiziell viersprachiges Land gekommen sind, meinen sie, dass auch die meisten Schweizerinnen und Schweizer viersprachig oder zumindest mehrsprachig sind. Sie erwarten, dass sie sich in der Schweiz ein lustiges Sprachengemisch anhören können und stellen dann überrascht fest, dass sich dieser viersprachige Staat aus vier weitgehend einsprachigen Sprachregionen zusammensetzt; dass die Mehrzahl der Bewohner dieses Landes, wie das auch in den umgebenden Staaten der Fall ist, im Alltag meist nur eine einzige Sprache spricht; und dass die Zahl der Schweizer, die sich fliessend in mehr als einer Landessprache ausdrücken kann, weit weniger gross ist, als dies in der Ferne oft angenommen wird.

Natürlich ist dieser Befund zu nuancieren. Er trifft vor allem für die Bewohnerinnen und Bewohner der beiden grössten Sprachregionen zu, also für die Deutschschweizer und die Romands. Tatsächlich wird in der Deutschschweiz an den meisten Orten fast durchwegs Deutsch – oder genauer: Schweizerdeutsch – gesprochen, in der französischen Schweiz fast durchwegs Französisch (die Dialekte wurden hier seit Beginn des 19. Jahrhunderts erfolgreich ausgejätet). Daneben hört man auf den Strassen und den Bauplätzen der Deutschschweiz und der Romandie eine Vielzahl von Immigrationssprachen, und in den Büros mehr und mehr auch Englisch.

Die anderen Landessprachen dagegen fristen eher ein Mauerblümchendasein. Italienisch hört man in der Deutschschweiz und in der französischen Schweiz immer weniger, nicht zuletzt deshalb, weil die Kinder und Grosskinder der italienischen Gastarbeiter längst Schweizerdeutsch oder Französisch sprechen, und weil die Einwanderer aus Italien, die in den 1960er-Jahren den fremdenfeindlichen Bewegungen als rotes Tuch dienten, längst von Menschen aus weit exotischeren Ländern abgelöst wurden. Die französische Sprache, die in der deutschen Schweiz einst als chic galt, ist dort im Rückzug, weil der weltweite Siegeszug des angloamerikanisch dominierten Way of Life zum Niedergang des Prestiges der französischen Kultur geführt hat.

Die Stellung der deutschen Kultur und Sprache in der welschen Schweiz schliesslich war – hélas! – schon immer eine prekäre, zwei Weltkriege und die nationalsozialistische Barbarei haben sie noch zusätzlich und dauerhaft beschädigt. Dass Deutschland und vor allem Swinging Berlin in den letzten Jahren bei der welschen Jugend im Schwange war, hat den historischen Niedergang nicht dauerhaft gebremst. Und die welschen Abwehrreaktionen gegen die Deutschschweizer Mehrheit sowie die alemannische Liebe zu den schweizerdeutschen Dialekten tragen das Ihre dazu bei, den meisten Romands allein schon die Idee auszutreiben, dass man Deutsch wirklich lernen könnte. Versuchen Sie, in der internationalen Stadt Genf eine Auskunft in deutscher Sprache zu bekommen: Sie können es ebenso gut auf Finnisch versuchen! Dass alle Genfer Schülerinnen und Schüler flächendeckend während der obligatorischen Schulzeit mehrere Jahre Deutschunterricht verabreicht bekommen, ändert überhaupt nichts daran, im Gegenteil. Wer sich nach den Gründen für die Unkenntnis erkundigt, bekommt von Romands oft die erbauende Auskunft: «Ich kann nicht Deutsch, ich habe es in der Schule gelernt». Damit ist auch schon alles gesagt. Arme Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer. Sisyphus im Klassenzimmer …

Mit anderen Worten: In der französischen Schweiz ist Französisch im Alltag fast so beherrschend wie in Frankreich, in der Deutschschweiz ist Deutsch fast so dominant wie in Deutschland. Eine Ausnahme bilden allerdings die Agglomerationen Freiburg und Biel/Bienne, die an der «Sprachgrenze» – oder um es sympathischer zu sagen: entlang der deutsch-französischen «Kontaktzone» – gelegen sind. Hier durchmischen sich Deutsch und Französisch in einem gewissen Mass, allerdings auf sehr unterschiedliche Weise, wie der Autor der vorliegenden Darstellung im Detail nachweist. Aber selbst in diesen beiden Agglomerationen kann, so scheint mir, von einem flächendeckenden Bilinguismus nicht gesprochen werden. Und noch weniger ist dies an der Walliser Sprachkontaktzone um Sierre (Siders) der Fall, wo sich der Bilinguismus im Verlauf der Jahrzehnte eher noch zurückentwickelt hat.

Etwas anders sieht es dagegen bei den «Hyper-Minoritären» aus, will sagen: bei den Bewohnerinnen und Bewohnern der italienischsprachigen und erst recht der rätoromanischen Schweiz. Hier ist die Anzahl der Personen, die regelmässig zwischen ihrer Muttersprache und einer anderen Landessprache «switchen» und auch mehrere Landessprachen wirklich beherrschen, bemerkenswert hoch; bei den Schweizer Sprachminderheiten zeigt es sich eben – wie in anderen Ländern auch –, dass es keine bessere Sprachlehrerin gibt als die pure Notwendigkeit.

Wenn die Mehrsprachigkeit ein Identifikationsmerkmal der Swissness darstellt, kann man mit Fug und Recht sagen, dass die Angehörigen der kleinen Sprachminderheiten die besten und eigentlich die einzigen typischen Schweizer sind. Übrigens trifft dies auch auf viele Menschen mit Migrationshintergrund zu, die oft von ihrer Biografie her zur Mehrsprachigkeit «verdammt» sind. Nur wer sesshaft ist, kann es sich leisten, einsprachig zu sein.

Viersprachiger Staat, weitgehend einsprachiger Alltag? Eine weitere Einschränkung dieses etwas plakativen Befunds ist angebracht. Natürlich gibt es in der Schweiz mehr als in offiziell einsprachigen Staaten eine ganze Reihe von staatlichen, parastaatlichen und privaten Organisationen, in denen mehrere Landessprachen gesprochen und geschrieben werden. Dies gilt in der Schweiz besonders für all jene nationalen – «eidgenössischen» – Institutionen, die an das in der Bundesverfassung festgeschriebene Prinzip der Viersprachigkeit gebunden sind. Allerdings ist es eine altbekannte Tatsache, dass die vier Landessprachen, von denen drei (Deutsch, Französisch und Italienisch) als vollberechtigte Amtssprachen und eine weitere (Rätoromanisch) als «fast vollberechtigte» Amtssprache anerkannt sind, zwar im Prinzip gleich sind, einige aber etwas gleicher als andere. Konkret: In der Bundesverwaltung, aber auch im Bundesparlament und in vielen anderen eidgenössischen Instanzen, wird eine Art temperierte Mehrsprachigkeit gepflegt, bei der Deutsch dominiert und Französisch zumindest respektiert wird. Italienisch als terza lingua spielt aber eine nur sehr untergeordnete Rolle, vom Rätoromanischen gar nicht zu sprechen. Die Eidgenossenschaft ist viersprachig in ihrem Prinzip. In der Realität ist Mutter Helvetia eher zweieinhalbsprachig.

Die Feststellung, dass die Schweiz zwar ein offiziell viersprachiger Staat ist, die meisten Schweizerinnen und Schweizer aber im besten Fall zwei Landessprachen regelmässig verwenden, soll nun aber nicht bedeuten, dass sich die Bewohnerinnen und Bewohner dieses Landes nicht um Mehrsprachigkeit bemühen würden. Gerade die jungen Schweizerinnen und Schweizer, ob «AOC» oder mit Migrationshintergrund, reisen viel. Sie sprechen im Durchschnitt besser Englisch als ihre Eltern und Grosseltern, und immer häufiger beherrschen sie Spanisch, Russisch, Chinesisch und Japanisch. Studien haben gezeigt, dass viele Bewohnerinnen und Bewohner unseres Landes regelmässig mehrere Sprachen benutzen. Nur: Es sind eben nicht unbedingt unsere Landessprachen. Die Globalisierung führt zu einer sprachlichen Vielfalt, wobei immer mehr Sprachen unsere nationalen Landessprachen konkurrenzieren. Natürlich unternehmen die öffentlichen Schulen nach wie vor grosse Anstrengungen, um den Schülerinnen und Schülern die Kenntnis einer zweiten Landessprache und wenn möglich sogar einer dritten zu vermitteln. Aber der Erfolg dieser Anstrengungen ist ein beschränkter. Denn sie reiben sich an der soziologischen Tatsache, dass immer mehr Menschen sich weniger für die nationalen Sprachnachbarn interessieren als für die ferneren Kulturen dieser Welt.

Soll man dies bedauern? Ja und nein. Natürlich wäre es ein Jammer, wenn immer weniger Schweizerinnen und Schweizer sich für die anderen Sprachregionen des Landes interessieren würden. Aber gleichzeitig ist es auch gut, dass die Fenster zur Welt weit aufgemacht werden, auch in sprachlicher Hinsicht. Und selbst die viel beklagte Tendenz, sogar im Kontakt zwischen Schweizern verschiedener Sprache auf Englisch auszuweichen, muss ja nicht gleich das Ende einläuten. A tout prendre ist es besser, die Schweizer verständigen sich in Englisch als überhaupt nicht.

Aber damit es nicht so weit kommt, dass sich die viersprachige Schweiz nur noch dank einer fünften Sprache verständigen kann, sollte man sich in den an der Nahtstelle zwischen Deutschschweiz und Romandie gelegenen Agglomerationen Freiburg und Biel umsehen, wo Deutsch und Französisch in meist friedlicher Koexistenz zusammenwohnen. Diese Agglomerationen sind Labors, die zeigen, wie Schweizer Mehrsprachigkeit auch in Zukunft funktionieren könnte. Deshalb kommt das vorliegende Buch gerade zur rechten Zeit.

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