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Da stimmt doch was nicht im Gehirn

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Wer von der Quantenphysik nicht schockiert ist,

hat sie nicht verstanden.

Niels Bohr

Das Nervensystem lebender Organismen folgt dem Gesetz von Reiz und Reaktion. Eng verbunden sind Reiz und Reaktion beim einfachen Reflex. Zum Beispiel beim Patellarsehnenreflex zeigt sich, dass die Leitungsgeschwindigkeit auf den Nervenbahnen ziemlich langsam ist. Der Arzt schlägt mit dem Hämmerchen unter die Kniescheibe des Patienten. Der Reiz wandert zur Wirbelsäule hinauf und kehrt zurück zur Muskulatur des Oberschenkels. Der Unterschenkel schlägt nach oben aus.

Was geschieht bei komplexeren Vorgängen, bei denen das Gehirn eingeschaltet ist? Das Zentralnervensystem ist ja, was oft vergessen wird, primär eine Gemeinschaftseinrichtung der Sinnesorgane, wo die Reize abgeglichen und an das Reaktionsorgan weitergeleitet werden. Hier müsste die Reiz-Reaktions-Verzögerung viel größer sein als beim ohnehin langsamen Reflex. Wir beobachten und messen das Gegenteil. Blitzschnell erfolgt Reaktion auf Reiz. Bei schnellen Sportarten kann man sogar eine Gleichzeitigkeit von Reiz und Reaktion feststellen. Dies ist neurophysiologisch unmöglich, findet aber statt. Und, ganz unglaublich: Manchmal „erfolgt“ die Reaktion vor dem Reiz. Nur so kann man sich das rasend schnelle Tischtennisspiel erklären.

Die Umkehr der Zeitrichtung gehört zum Forschungsalltag der theoretischen Physik. Schon Albert Einstein degradierte die Zeit zur veränderlichen Größe. Der Physiker John A. Wheeler sieht in der Zeit nicht mehr als eine psychologische Hilfsfunktion: „Zeit ist, was verhindert, dass alles auf einmal passiert.“ Überhaupt: Quantenphysik zerstört die Logik. Hätten die Physiker ein Maskottchen, dann wäre es die lächelnde Katze aus dem Märchen von Lewis Carroll „Alice im Wunderland“. Wenn die Katze verschwindet, dann bleibt, wenn sie es will, ihr Lächeln zurück. Die Quantenphysik ist wie ein Messer ohne Klinge, an dem der Griff fehlt. Ein Teilchen ist kein Teilchen, weil es eine Welle ist; eine Welle ist keine Welle, weil sie ein Teilchen ist.

Zeit ist Illusion. Irrsinn! Die Katze schmunzelt und nimmt gelassen zur Kenntnis, dass Ursache auf Wirkung folgt, was zum Beispiel Experimente mit Photonen demonstrieren. Photonen sind klein und unanschaulich, deshalb verwandeln wir sie in einem Gedankenexperiment in Lastwagen.

Ein Lastwagen nähert sich der Station, in der für Lastwagen zwei Kassenschalter geöffnet sind. Dieser Lastwagen ist nicht irgendein Lastwagen, es ist ein seltsamer Super-Lastwagen, der sich in zwei Lastwagen aufspalten kann. Wenn die Schalter nicht besetzt sind, was gelegentlich vorkommt, dann passiert nur der Super-Lastwagen die Station, ohne zu bezahlen. Wenn sie besetzt sind, dann spaltet sich der Super-Lastwagen in zwei Lastwagen auf, die jeweils Maut bezahlen müssen. Der Finanzchef der Autobahngesellschaft gibt nun eine Dienstanweisung: Sollte der Super-Lastwagen, ohne die Maut zu bezahlen, die Station passieren, weil beim Schichtwechsel die Schalter gerade nicht besetzt sind, dann sollten die Schalter auch dann noch blitzschnell besetzt werden, wenn der Super-Lastwagen soeben die Sperrlinie überquert hat. Die Kassierer befolgen die Anweisung und siehe da: Der Trick des Finanzchefs funktioniert, die Maut klingelt in beiden Kassen, weil nun zwei Lastwagen die besetzten Schalter passieren. Der Trick hat den Super-Lastwagen aus der Zukunft, in die er sich weiterhin bewegt, auf rätselhafte Weise in die Vergangenheit zurückgeholt. Die Zeit ist zurückgelaufen.

Zurück zum menschlichen Gehirn, in dessen Synapsen, den Verbindungsplatten zischen den Nervenzellen, sich Prozesse in der Nähe des Quantenniveaus vollziehen. Auch hier kann man die Drehung der Zeitrichtung experimentell messen. 1979 führte der Physiologe Benjamin Libet ein Experiment durch, das Philosophen und Naturwissenschaftler in helle Aufregung versetzte. Völlig überrascht registrierte er im Elektroenzephalogramm, dass die Entscheidung zu einer Körperbewegung auf die tatsächliche Bewegung folgte. Im Mittelpunkt der Diskussion stand nun die Frage: Hat der Mensch einen freien Willen, wenn der Wille Resultat des Ziels ist?

Aus quantenphysikalischer Sicht stellt sich diese Frage nicht, weil sie auf einer naiven Zeitvorstellung beruht. Hätte Libet gefolgert, dass im Zentralnervensystem die Gesetze der Quantenphysik gelten, dann wäre der Zweifel am freien Willen beseitigt. In einer Welt, in der das Gesetz von Ursache und Wirkung nicht verletzt ist, lebt der Mensch unfrei, eingezwängt in das deterministische Korsett von Reiz und Reaktion. Die Quantenphysik löst die strenge Kausalität auf und ermöglicht so freie willentliche Entscheidungen.

Das Gehirn erweist sich als Instrument des freien Willens. Beherbergt es auch das Lebensgedächtnis, die biografische Identität?

Randnotiz:

Computerprozesse laufen getaktet nur in eine Zeitrichtung. Eine Umkehr der Zeitrichtung ist in der Informationstechnologie unmöglich.

Seelenreise

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