Читать книгу Seelenreise - Rainer Sörensen - Страница 8

Wenn das Ich die Sprache verliert

Оглавление

Was ein Wort bedeutet, kann ein Satz nicht sagen.

Ludwig Wittgenstein

Visuelle Eindrücke sind sehr verstärkt,

und das Auge gewinnt einiges von der unbefangenen

Wahrnehmungsweise der Kindheit wieder,

in welcher das durch die Sinne Wahrgenommene

nicht sogleich und automatisch

dem Begriff untergeordnet wurde.

Aldous Huxley

unter Einwirkung von Meskalin

Eine Grenzlinie zwischen physischem Gehirn und der immateriellen Sphäre der Persönlichkeit deutet sich an, wenn, bedingt durch eine Hirnschädigung, die Fähigkeit zur sprachlichen Kommunikation beeinträchtigt ist.

Sprache transportiert Information. Diese Aussage ist vordergründig, denn Information ist nicht gleich Information. Es gibt messbare Information und es gibt Information, die man nicht messen kann. Ein Telefongespräch mag dies verdeutlichen.

Messbare Information:

Länge des Gesprächs: 25 Sekunden

Anzahl der Wörter: 48

Nicht messbare Information:

A: Hör zu, versteh mich nicht falsch, du solltest auf deine Tochter aufpassen. Sie ist da in eine Clique hineingeraten, in der nicht nur Haschisch geraucht wird.

B: Große Güte, wie recht du hast, sie lässt nicht mit sich reden. Seit zwei Tagen ist sie unterwegs. Ich weiß nicht wo.

Die nicht messbare Information besteht aus Bedeutungen. Bedeutungen hoher Intensität sind Gefühle. Die Wörter der Sprache transportieren Bedeutungen, dürfen aber mit ihnen nicht verwechselt werden. Wörter sind nur Aufkleber. Poesie ist ein virtuoses Spiel mit Aufklebern, bei der sich die Differenziertheit der Bedeutungen von plumpen Worthülsen und Sprechblasen befreit. Wörter behindern, im Sinne Ludwig Wittgensteins, den Zugang zur geistigen Dimension. Im weiteren Verlauf des Buches wird deutlich werden, dass Bedeutungen ohne Aufkleber, ohne Sprachverfälschung kathartische Wirkung haben.

Wenn ein Mensch nach einem Schlaganfall oder einer Hirnverletzung seine normale Sprachfähigkeit verloren hat, diagnostizieren die Mediziner häufig eine Aphasie. Ärzte und Hirnforscher gehen davon aus, dass im Gehirn bestimmte Regionen beschädigt wurden, die für die Sprachfähigkeit verantwortlich sind.

Das Begreifen von Bedeutungen geht aber bei der Aphasie nicht verloren, denn die Bedeutungen sind nicht im physischen Gehirn gespeichert, sind also von der Hirnschädigung nicht betroffen.

Wenn Aphasiker sich mitteilen wollen, wissen sie, was sie sagen wollen, können es aber sprachlich nicht ausdrücken, es fehlen nur die Wörter, die Aufkleber. Sprachbildung und Wortfindung sind also Funktionen des materiellen Zentralnervensystems. Poesie, Rhetorik und Linguistik sind im Grenzgebiet zwischen physischem Gehirn und der immateriellen Welt der Bedeutungen angesiedelt.

Es gibt auch einen physiologischen, nicht krankhaften Abbau der Sprachfähigkeit, der sich im Verlauf des Alterns vollzieht und fälschlich als Intelligenzverlust gedeutet wird. Ebenso wie die Leistung der Sinnesorgane nachlässt, sinkt auch im Zentralnervensystem das Leistungsniveau. Es fällt zunehmend schwer, eine fremde Sprache zu erlernen; selbst in der eigenen Muttersprache kommt es gelegentlich zu Wortfindungsstörungen. Unberührt von normalen Degenerationsprozessen bleibt das erworbene Wissen, der Erfahrungsschatz, der in der Hauptdimension der Persönlichkeit, der immateriellen Sphäre gespeichert ist.

Randnotiz:

Junge Menschen brillieren mit Schnelligkeit und Taktik, Senioren mit Erfahrung und Strategie. Die Hochachtung der Weisheit des Alters in asiatischen Kulturen spiegelt die Wechselwirkung zwischen dem physischen Gehirn – gemäß Eccles und Popper „Welt eins“ – und der geistigen Dimension („Welt zwei“). In der üppig gewachsenen „Welt zwei“ des Seniors entsteht ein stimmiges Gesamtwerk, dessen Details vom Junior umgesetzt werden.

Seelenreise

Подняться наверх