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Kapitel 1
ОглавлениеAuf dem Rückweg zur Festung versuchte ich, mir so viel wie möglich von der Gegend einzuprägen.
Jenseits des grünen Tales ritten wir durch eine Landschaft, die sich wenig von der kargen und menschenfeindlichen Gegend unterschied, durch die Arabicus uns hergeführt hatte. Mein Vater erzählte, dass es immer wieder von weithin unbekannten Wasserstellen gespeiste Oasen gab. Lagen sie geschützt oder günstig, entstand manchmal mehr als ein grüner Flecken daraus – so etwa im Tal der Festung oben in den Bergen oder in der Ebene des Anwesens meiner Eltern. Derartige Stellen wurden schnell in Besitz genommen und waren heiß umkämpft. Manche entwickelten sich zu Handelsposten. In der Wüste gab es viele solcher Quellen, aber die meisten blieben ausschließlich den Nomaden bekannt.
Wir machten einen Umweg, um eine dieser Oasen zu besuchen. Raimund hatte darum gebeten, alter Erinnerungen wegen. Vorsichtshalber trug er ein Beduinentuch, wie üblich bei den Arabern so um den Kopf gewickelt, dass nur ein Sehschlitz frei blieb.
Es wäre fatal, wenn ihn jemand erkennen sollte!
Andererseits mochte ich ihm den Wunsch auch nicht abschlagen. Die Zeit im Kerker war lang gewesen. Außerdem wusste niemand, was die Zukunft brachte. Der Ausflug würde schon niemandem schaden.
Die Wache schloss auf, und unsere Gruppe ritt gemächlich weiter.
Am Ziel angekommen, tränkten wir zuerst die Pferde.
Anschließend blieben drei Männer bei ihnen zurück; alle anderen schlenderten mit uns an den Zelten und Hütten vorbei.
Die Bewohner hatten nicht viel zum Leben, nutzten aber sämtliche zur Verfügung stehenden Möglichkeiten. Mit den Reisenden ließ sich immer Geld verdienen. Die brauchten Wasser und kauften Kleinigkeiten, sobald der Durst gelöscht war. An sämtlichen Hütten und Zelten gab es kleine Stände. Obst, Brot, Zaumzeug, bunte Tücher – man bekam alles für die Weiterreise.
Raimund sog den Anblick regelrecht auf. Er wirkte konzentriert und sah sich jede Kleinigkeit genau an. Manchmal war unter dem Tuch ein tiefes Durchatmen zu hören. Ich fragte nicht, aber augenscheinlich gab es mehr als eine Erinnerung an alte und schöne Zeiten, die zurückkam, während wir weiterliefen. Die Oase wirkte nicht sonderlich groß. Schnell hatten wir ihr Ende erreicht, drehten um und hielten uns Richtung Brunnen. Noch etwas trinken, die Wasserbeutel füllen – dann stand der Ritt nach Matlahat bevor.
Am Brunnen zwängten Raimund und ich uns in eine lange Schlange. Gefahr schien nicht im Verzug zu sein. Außerdem konnten wir kaum darauf hoffen, die Wasserstelle irgendwann allein für uns zu haben. Dazu blieb der Andrang zu groß. Vorsichtshalber verharrten zwei Leibwächter eine Mannslänge von uns entfernt; die anderen Gefährten sicherten die Umgebung. Während die Menschen geduldig dem nächsten vollen Eimer aus der Tiefe entgegenstarrten, beobachtete ich eine junge Frau zwischen Raimund und mir, die einen schreienden Säugling auf dem Arm hielt. Unermüdlich versuchte sie, ihn durch Wiegen und leise Worte zu beruhigen. Der Versuch, das Gesicht des Kindes zu sehen, zog für einen Augenblick meine gesamte Aufmerksamkeit auf sich.
In diesem Moment spürte ich von hinten eine leichte Berührung. Jemand in der Schlange der Wartenden hatte wohl einen Schritt zu weit nach vorne gemacht. Instinktiv drehte ich mich um die eigene Achse und machte mit den Armen eine Abwehrbewegung von unten nach oben. Dabei stieß ich die Frau an, und der Säugling begann sofort wieder zu schreien. Die Wachen und Raimund drehten sich herum und griffen zu den Waffen, ohne genau zu sehen, was passiert war. Ich schalt mich einen Narren.
Welch überzogene Reaktion! Durch diese Ängstlichkeit schrie ein Kind!
In den Gedanken hinein folgte blanke Erstarrung. Die wild rudernden Arme trafen eine Männerfaust direkt vor meinem Bauch!
Ein Attentäter!
Neben uns fiel gleichzeitig ein Nomade zu Boden. Der Mörder hatte ihn wohl umgestoßen, um sein Opfer erreichen zu können – mich. Dabei war es zu der Berührung gekommen. Sie hatte mir das Leben gerettet! Das Messer schoss seinem Ziel entgegen. Instinktiv schlug ich die geballte Faust zur Seite und umklammerte sie dann.
Nicht wie im Kloster!
Bei dem Mordanschlag damals hatte der Attentäter genauso vor mir gestanden, als er zustieß. Nicht noch einmal, jetzt, wo sich gerade das Schicksal zum Guten wendete!
Vor mir tauchte ein buntes Beduinentuch auf. Der Meuchelmörder hatte es so um den Kopf geschlungen, dass lediglich ein Sehschlitz frei blieb. Zusammengekniffene Augen starrten kalt herüber, während der Fremde verbissen versuchte, die Hand mit dem Messer zu befreien. Er war größer, schwerer und auch stärker. Mit aller Kraft versuchte ich vergeblich, die Waffe aus der behaarten Faust zu drehen und gleichzeitig mit der anderen Hand meinen Dolch zu ziehen.
Ich bekam die eigene Waffe lediglich noch aus dem Gürtel. Mit der freien Hand packte der Unbekannte meinen Unterarm und hielt ihn fest. Von oben drückte er sein Messer nun herunter, während ich mich von unten zuzustoßen bemühte. Raimund versuchte verzweifelt, in den Kampf einzugreifen. Die Angst, zusehen zu müssen, wie der einzige Sohn umgebracht wurde, verzerrte sein Gesicht fürchterlich. Immer wieder setzte er an, um uns auseinanderzuziehen. Genauso oft riss mich der Attentäter ohne sichtbare Anstrengung hoch und stellte meinen Körper wie einen Schutzschild vor Raimund. Ich war dagegen machtlos, während wir weiter ineinander verkrallt zusammenhingen. Blanke Todesangst kam von tief unten aus den Eingeweiden herauf. Ringend torkelten wir durch die umstehenden Menschen, fielen hin und standen wieder auf, ohne einander loszulassen. Die Leibwache umringte uns längst, bereit, sofort zuzuschlagen, sobald sich eine Möglichkeit ergab. Doch dazu kam es nicht. Der Unbekannte und ich kämpften zu nahe miteinander. Als wir an den Brunnen taumelten, schlug er meine Faust kräftig auf die Kante der Umrandung. Schmerzerfüllt ließ ich den Dolch fallen. Sofort griff er mit der zweiten Hand zu, um seinen Waffenarm zu befreien. Aus der Not heraus versuchte ich, ihn am Burnus nach unten in den Brunnen ziehen.
Unmöglich!
Der Mann war nicht nur deutlich kräftiger, sondern auch eingeölt. Die gesamte Kleidung, seine Arme – nirgendwo ließ er sich richtig greifen oder lange festhalten. Überall rutschte man ab. Äußerst mühsam konnte ich die Hand mit dem Dolch weiterhin umklammern, während er sich gegen den Sturz in die Tiefe wehrte. Hier ging es weder um Geschick oder Kniffe, sondern allein um rohe Gewalt!
Wir taumelten vom Brunnen zurück. Mit aller Macht versuchte der Angreifer, mir das Messer in die Brust zu stoßen. Seinen Arm herunterdrückend, brachte ich ihn unverhofft durch eine Drehung zu Fall. Dabei riss er mich mit um. Im Fallen streckte ich mich seitwärts. Kaum eine Armlänge entfernt lag mein Dolch!
Im Liegen zog mich der Mörder scheinbar mühelos mit einer Hand heran und stach zu. Der Umgang mit einem Spielzeug konnte kaum schwerer sein! Mühsam wich ich der Attacke aus und trat ihn weg. Überdeutlich gingen mir endgültig die Kräfte aus. Meine Niederlage war unabwendbar!
Das war kein einfacher Choleriker, der irgendeine Beleidigung rächte. Der Unbekannte hier hatte den Angriff genauestens vorbereitet. Mehr noch – er war sich seines Erfolges dermaßen sicher, dass er sein Opfer selbst inmitten dessen eigener Männer ermorden wollte!
Welche Überheblichkeit!
Ich torkelte hoch. Sofort stand mein Gegenüber ebenfalls wieder. Dem Schlag in das verhüllte Gesicht folgte ein Hechtsprung zur Seite, und dann hielt ich wieder den eigenen Dolch. Eine Täuschung mit der linken Hand, dazu eine Körperfinte, und schon stieß die Klinge von oben auf den Attentäter herunter. Geschickt verhinderte er jedoch einen Treffer und griff wieder zu. Wie ein Kind wurde ich vor ihm hergeschoben.
Der Mann ließ sich einfach nicht bezwingen!
Krachend schlug mein Rücken kurz darauf gegen den Stamm einer Palme. Schwindel setzte ein, und auch der Atem blieb weg. Benommen zog der Blick in die Höhe.
Jetzt war es soweit!
Mühelos richtete er den keuchenden Körper vor sich hoch auf. Eine würgende Hand an der Gurgel drückte mich gleichzeitig erbarmungslos an den Baum. Ein befriedigtes Grunzen zeigte deutlich, was nun folgen sollte. Während eine Hand mich hochhielt, zog die andere hastig das Messer für einen kraftvollen Stoß zurück. Einen Wimpernschlag, bevor die Waffe vorschoss, rammte ich ihm mit letzter Kraft in den Unterleib. Vielleicht entsprang das Knirschen nur der Einbildung eines völlig Erschöpften, der auf den Tod wartete … Mit einem lauten Gurgeln brach er zusammen. Schwer atmend beugte ich mich über den Ohnmächtigen und trat sein Messer weg. Die Leibwache stürzte mit gezogenen Schwertern heran.
»Nicht töten! Wir brauchen ihn lebend. Er muss Antworten geben!«
Ich reagierte nicht. Meine Lunge schien zu platzen. Das Blut pochte in den Ohren, und der Schwindel nahm nicht ab. Sämtliche Knochen im Leib taten weh. Vier Wachen hatten mich umringt und ließen kaum eine halbe Armlänge Platz zwischen uns. Der Schrecken war ihnen maßlos in die Glieder gefahren. Alle umstehenden Menschen starrten angsterfüllt herüber, doch wir ignorierten sie. Die anderen Leibwächter hatten den weiterhin bewusstlosen Attentäter gefesselt und bewachten ihn ein Stück abseits des Brunnens.
Maßlose Wut kochte hoch. Hörte es denn nie auf? Ich würde dem Treiben gleich ein Ende bereiten! Wenn der Mann zu sterben bereit war, konnte man ihm dabei helfen! Vorher musste er jedoch reden!
Blanker Hass ergriff mich und ließ keinen anderen Gedanken mehr zu. Ohne die anderen zu beachten, riss ich den Mörder hoch, legte ihn quer über ein Pferd und stieg wortlos auf. An den Gardisten vorbei galoppierten wir in die Wüste. Außer Sichtweite hielt ich an und warf den mittlerweile zu Bewusstsein Gekommenen auf den Boden. Nach dem Entfernen des Tuches zeigte sich ein ausdrucksloses Gesicht, das scheinbar ohne jede Angst einer ungewissen Zukunft entgegensah. Der anschließende Blick auf seine Unterarme brachte Gewissheit. Unlesbare Zeichen, von unten nach oben eintätowiert, deren Bedeutung nur Eingeweihte kannten.
Ein fidawi, ein Angehöriger der Mördergruppe der Assassinen!
Also war er gekommen, um gezielt ein einzelnes Opfer zu töten!
So erschreckend der Gedanke vordergründig schien, folgte ihm doch schnell ein erleichtertes Durchatmen. Der Angriff allein auf mich zeigte, dass die Sekte von der Freiheit Raimunds noch nichts wusste, sonst hätten sie wenigstens zwei Attentäter geschickt!
Meine Geduld war am Ende.
Schon bei den Zisterziensern auf Malta hatte man mich aus einem unbekannten Grund umzubringen versucht. Seitdem waren Monate vergangen, und nichts stellte sich mehr so dar wie früher. Nun, im Orient, mitten in der Wüste und scheinbare Ewigkeiten später, kämpfte ich immer noch gegen einen unbekannten Feind, ohne zu wissen, warum. Dieser Mann musste Antworten bringen, um jeden Preis!
Keine Rücksicht mehr, auch wenn eine derartige Einstellung gegen alles im Kloster Gelernte und jede Moral verstieß! Ansonsten würde ich der nächste Tote sein!
Her mit den Lederriemen, die das Gepäck am Sattel hielten!
Der Gefangene sah mich fast höhnisch an, als ich vor ihn trat. Scheinbar fürchtete er sich nicht vor dem Kommenden.
Nun war es an der Zeit für einen speziellen Teil der Templerausbildung …
Mein Vater und die Wachen galoppierten heran. Raimund sprang vom Pferd. Seine Augen zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen.
»Was habt Ihr vor?«
Der Tonfall des Älteren klang bedrohlich. Er missbilligte deutlich, was ich vorhatte!
»Schweigt und reitet zurück zur Festung, alter Mann! Ihr seid hier überflüssig! Es sind nun allein Antworten auf die Frage nötig, warum ich erneut umgebracht werden sollte. Der Assassine hat sie zu geben, sonst steht ihm ein langer Tag bevor!«
»Nicht foltern, Falko! Bringt keine Schande über unsere Familie!«
»Beim ersten Attentat existierte die noch nicht!«
»Nun habt Ihr eine und seid unseren Werten verpflichtet. Unterlasst Euer Vorhaben! Wir schicken den Gefangenen zur Festung. Dort wird er reden, ohne dass Ihr Euch schuldig macht!«
Raimund verhinderte auch den geringsten Widerspruch, indem er mich einfach zur Seite schob. Die Wachen lösten sämtliche Verschnürungen außer den Fesseln und hoben den Assassinen in den Sattel. Es durfte keine Entzweiung mit meinem Vater geben, kaum dass wir uns gefunden hatten! Mürrisch ließ ich also die Männer gewähren, obwohl mir der Sinn nach Anderem stand.
Wir ritten eilig zurück zur Festung.
Nurim runzelte nur die Stirn und bekam einen finsteren Gesichtsausdruck, als er den Assassinen sah.
Ein herrischer Wink brachte sofort einige Soldaten heran. Sie rissen den Gefangenen vom Pferd und warteten auf den nächsten Befehl. Die Menschen auf dem Platz hinter den Mauern schwiegen. Alle wussten anscheinend um das Bevorstehende. Nurims Auftreten unterdrückte auch den geringsten Zweifel. Der Fatimidenanführer würde sich gegen jeden Widerspruch durchsetzen!
Raimund verharrte einen Moment, griff dann aber nicht ein und schwieg eisern. De Moncadrieuxs Freund schien das gleiche Problem wie ich in der Wüste zu haben. Sollte er sich mit einem seiner engsten Angehörigen wegen eines Mörders überwerfen? Noch dazu vor der Bevölkerung Matlahats, die absolute Einigkeit für den weiteren Kampf dringend benötigte?
Finstere Blicke zwischen Nurim und Raimund zeigten deutlich, dass sie unterschiedlicher Ansicht über die Befragung von Gefangenen waren. Keiner der beiden wich bei diesem stillschweigenden Kräftemessen. Regungslos standen sie voreinander. Die schweigende Auseinandersetzung von Gesicht zu Gesicht wurde dafür umso heftiger ausgetragen. Mein Großvater unterbrach den Zweikampf, indem er das Wort ergriff.
»Es passiert trotzdem, ob mit oder ohne Eure Zustimmung, Raimund! Ihr seid wie ein Sohn für mich, deshalb lasse ich nicht die mindeste Rücksicht gegenüber jemandem walten, der dem Mann meiner Tochter oder unserer Familie an das Leben will! Wenn die Möglichkeit ungenutzt verstreicht, Informationen von diesem Hund zu bekommen, werden die Mordversuche an Falko nie enden und irgendwann erfolgreich sein! Auch Ihr seid dann eines der nächsten Ziele! Überlegt Euch, wer später noch leben soll – Euer Sohn oder ein verschonter Assassine!«
Der Angesprochene schwieg lange und nickte schließlich nur deutlich. Als hätten sie darauf gewartet, brachten die Soldaten den Gefangenen weg.
Nun ging es darum, Antworten zu erhalten!
Jedem in der Festung blieb bewusst, dass der Attentäter keineswegs vom Himmel gefallen war.
Wenn der Assassine mich in der Oase unweit der Festung hatte aufspüren können, würden bald schon andere folgen. Unser Versteck und das Leben sämtlicher Menschen hier waren in Gefahr! Die undichte Stelle, von der Broderik vor der Abreise auf Malta gesprochen hatte, arbeitete nach wie vor und dies gut. Oder existierte in Matlahat ebenfalls ein Verräter?
Gedankenverloren stierte ich auf eine Ecke des Platzes, wo unentwegt Gruppen von Soldaten übten. Man sah deutliche Fortschritte. Mittlerweile kämpften alle mit scharfen Waffen. Trotzdem schenkten sie sich nichts bei den Auseinandersetzungen. Die Bogenschützen hatten die Entfernungen vergrößert und benutzten kleinere Zielscheiben. Jeder gewonnene Tag verbesserte unsere Aussichten auf Erfolg.
Wenn ich dann noch lebte …
Scheinbar gab es keinen Flecken auf der Welt, der ausreichend Schutz vor einem dieser Mörder bot!
»Nicht sorgen, Falko! Der Gefangene wird reden, und anschließend beenden wir die Jagd auf Euch!«
Mein Großvater legte beruhigend den Arm um meine Schultern. Unwillkürlich folgte eine abwehrende Bewegung. Ich blieb dem Fatimidenanführer nach wie vor kaum wohlgesonnen nach seinem Ausbruch, trotz der Entschuldigung. Er ließ sofort los, als ihm der Widerstand bewusst wurde.
»Gibt es weiterhin Schwierigkeiten zwischen uns? Jegliches Missverständnis schien doch geklärt. Was verlangt Ihr noch an Wiedergutmachung?«
»Es ist vorbei! Trotzdem lassen sich nach dem Geschehenen manche schwarzen Gedanken nicht einfach zur Seite schieben!«
Ich betrachtete ihn streng und forschend an. Nurim hielt dem Blick stand.
»Ihr habt Recht mit Euren Überlegungen. Ich würde genauso denken. In Eurem Alter wäre ich wohl fortgeritten. Aber das Bleiben spricht für die Reife meines Enkels! Was machen wir beiden nun? Ohne weitere Möglichkeit vermag ich mich kaum zu beweisen. Ansonsten wird mein Jähzorn so gut wie möglich beherrscht.«
»Genau das ist zu wenig!«
»Soll ich mich in diesem Alter noch völlig ändern? Unmöglich!«
»Nur darum unmöglich, weil Ihr es nicht versucht. So bekommt niemand Vertrauen!«
Er lächelte ernst.
»Falko, diese Festung konnten wir allein deshalb aufbauen und versteckt halten, weil vor allem Anderen etwas stand – Vertrauen!
Meine Anhänger gingen damals blind davon aus, dass ich die richtigen Entscheidungen treffen und ihnen ein Leben in Ruhe und Sicherheit bringen würde. Heute ist die stillschweigende Verpflichtung beherrschend, dass durch mich ihr Ziel erreicht wird – Rache an Malik al Charim!
Ich dagegen erwartete von Anfang an einfach nur, dass sie mir folgen und nichts durch Verrat zerstören, insbesondere als ihre Zahl sich endlich wieder vergrößerte. Gegenseitiges Vertrauen war sowohl bei den Menschen in Matlahat erfolgreich als auch während meines ganzen Lebens. Ohne diese Grundeinstellung selbst nach einem Fehler werdet Ihr ein einsames Leben ohne Freunde vor Euch haben, Enkel!«
»Ihr hättet mich vor kurzem umgebracht, wenn der Wille einen Weg gefunden hätte!«
»Die Strafe dafür erhalte ich seitdem jeden einzelnen Moment neu. Meine Frau meidet mich, sämtliche weiblichen Angehörigen haben sich abgewandt und Eure Onkel reden mit mir ausschließlich über den bevorstehenden Kampf. Selbst meine Enkel sehe ich kaum noch. Die gesamte Familie hat mich ausgeschlossen! Und Euch verliere ich jetzt ebenfalls endgültig! Wollt Ihr mein Leben, wenn dafür unsere Familie zusammenbleibt? Nach dem Sturz Malik al Charims gehört es Euch!«
Ich sah ihn verächtlich an.
»Ihr seid wie sämtliche Männer in diesem Land! Immer schnell dabei, Fehler zu machen, um danach theatralisch den eigenen Tod anzubieten. Ich kenne es anders. Vorher nachzudenken ist äußerst sinnvoll – dann muss man anschließend nicht freiwillig zum Sühneopfer werden. Worte!«
Er stampfte zwei Schritte zurück, riss den Dolch aus dem Gürtel und richtete ihn gegen sich.
»Worte? Ihr glaubt, dass ich bloß rede? In diesem Fall fordert mein Leben ein, jetzt und hier!«
»Mäßigt Euch. Ihr wollt sühnen? Wirklich Buße tun? In diesem Fall gehen wir sofort zu Eurem Schwiegersohn. Erzählt ihm, was Ihr warum getan habt!«
Blankes Entsetzen spiegelte sich in Nurims Gesicht.
»Nein! Niemals! Die Situation ist schon schlimm genug!«
»Gedenkt Ihr Euch zu drücken? Doch nur Worte wie ein leises Pfeifen im Wind? Erzählt Raimund, weshalb der Großvater seinem einzigen Sohn etwas antun wollte! Unterwerft Euch danach dem Urteil des Schwiegersohnes, unabhängig von dessen Reaktion! Das ist Strafe genug und hilft der gesamten Sippe!«
»Dann bricht sie endgültig auseinander!«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Im Zweifelsfall ist das der Preis für Euer Verhalten! Ein Mann von Ehre steht ein für den begangenen Fehler!«
»Nein, wir gefährden alles!«
»Nicht wir, nur Ihr!
Bedenkt noch etwas Anderes. In solch einer Stimmung ist niemand ein guter Anführer! Die Gedanken kreisen ausschließlich um die zerstrittenen Angehörigen. Dadurch bedingte Fehler sind unbedingt tödlich! Unterwerft Euch dem Urteil Raimunds! Anschließend bleibt die Sicherheit, zumindest alles versucht zu haben. Ansonsten seid Ihr ein Feigling. An der Seite eines solchen Mannes verweigere ich jedweden Kampf! Somit betrifft das endgültige Verlassen nicht nur Matlahat!
Mein Ziel ist erreicht – Raimunds Befreiung! Warum sollte anschließend meine Hilfe jemandem zugutekommen, der mich umzubringen vorhatte?
Ich besaß vorher keine Familie, dann bleibt es jetzt eben auch dabei! Entscheidet Euch!«
Intensive Blicke schossen herüber, so flehend wie aggressiv. Der Araber in ihm zog den Freitod der Demütigung vor. Als Patriarch wusste Nurim allerdings, dass es keine Wahl gab, wenn die Familie nicht ihre inneren Bande verlieren sollte!
Langsam und mit verkniffenem Gesicht drehte er sich um und suchte mit den Augen meinen Vater. Der stand ein Stück entfernt und beobachtet uns, wohl deutlich spürend, dass das Gespräch kaum junge Pferde betraf. Zögernd ging Nurim auf ihn zu.
»Raimund, auf ein Wort. Schenkt mir einen Moment Eurer Zeit!«
Der Angesprochene nickte, und die beiden entfernten sich Richtung Haupthaus. Meine Großmutter schlenderte geradezu heran. Sie schien das Ganze mitbekommen zu haben.
»Hat Euer Großvater den Mut gefunden, den Vorfall zu gestehen? Erzählt er Raimund davon?«
Ich berichtete von dem Gespräch, und sie strahlte.
»Gott sei Dank! Endlich muss der Sultan einmal den unteren Weg gehen! Sämtliche Angehörigen schneiden ihn, bis er für seinen Fehler gebüßt hat. Für alle ist es noch aus einem anderen Grund gut, dass Ihr wieder da seid. Vorher hatte kein Mensch den Mut, sich ihm dermaßen entgegenzustellen. Ihr bewirkt viel Gutes, Falko!
Seit mehr als 20 Jahren ist unsere Familie nie mehr komplett zusammengekommen – bis zu Eurem Eintreffen. Mit dem Tod Eurer Mutter wurde auch der Lebensfaden der gesamten Sippe zerschnitten. Und nun erscheint Ihr, und alles wird wie früher! Gott wendet sich uns wieder zu!«
Unversehens versank ich in ihren Armen. Welch ein Glück, hier zu sein!
Später zogen wir uns zurück, tranken Tee und redeten.
Meine Großmutter war eine feine Frau, gebildet und an jeglicher Art von Unterhaltung interessiert. Mitten in das Gespräch hinein schlug jemand laut an die Tür. Mein Vater und Großvater platzten herein. Der Jüngere war zornesrot, aber gefasst, der Ältere dunkelrot vor Wut. Er polterte sofort los.
»Ich habe alles erzählt! Erst wollte Raimund einen Sühnekampf, dann folgte ein anderer Entschluss. Der Starrsinnige verzeiht mir, wenn ich sämtlichen Angehörigen ausführlich berichte und danach um Entschuldigung bitte. Wird sie ausnahmslos akzeptiert, sorgt er dafür, dass unsere Familie mich wieder aufnimmt. Außerdem soll ich für die Zeit nach der Machtübernahme die gesamte Nachfolge regeln und ihm helfen, seine eigenen Verwandten und Falko zusammenzubringen!«
Aliya lächelte siegessicher. Sie ließ einen Diener kommen, der die Familie zusammenrufen sollte. Raimund zwinkerte mir zu. Er wirkte äußerst angespannt. Es war sicher nicht leicht gewesen, den alten Dickkopf zu beeinflussen und dabei die eigene Wut zu unterdrücken. Aber nur so konnte er weitere Dinge auf den Weg bringen, die der gesamten Familie halfen.
Mir wurde klar, warum man Raimund früher als Diplomaten hoch geschätzt hatte …
Kurz darauf versammelten sich unsere Angehörigen, auch die Kinder.
Die Türen waren verschlossen, die Diener weggeschickt worden.
Der Fatimidenanführer schien durch die Hölle zu gehen. Der Gedanke, selbst die eigenen Enkel um Nachsicht bitten zu müssen, blieb für ihn offensichtlich unerträglich. Sobald die Anwesenden saßen, berichtete er mit leiser Stimme von dem Vorgefallenen. Als Nurim geendet hatte, wanderten seine Augen fast hilfesuchend umher. Ernste Gesichter musterten den Ältesten, aber jedwede Zuwendung unterblieb.
Eine Entschuldigung fehlte noch!
Nachdem er sie ausgesprochen hatte, lief niemand auf den Kopf. Zwar gaben sämtliche Anwesenden einzeln kurze Antworten dazu ab, aber eine Verweigerung blieb aus. Als auch der Letzte zugestimmt hatte, lasteten sämtliche Blicke auf mir. Ich nickte, stand auf und reichte Nurim die Hand. Dazu nahm ich Raimund in den Arm. Alle jubelten. Unvermittelt stürzten sie auf uns los, als sei eine große Last von ihnen gefallen. Ich musste an die Worte meiner Großmutter denken …
Ein großes Knäuel von Menschen umarmte sich und hielt einander fest. Ich fühlte mich wie bei unserem ersten Treffen.
Raimund hatte Erfolg gehabt! Die Familie war wieder vereint!
In den Trubel hinein klopfte es. Nasim öffnete. Ein Diener berichtete, dass der Assassine zu reden bereit wäre. Nurim löste sich aus dem Pulk und blickte fragend zu seinem Schwiegersohn hinüber. Der bedeutete ihm, mitkommen zu wollen. Als sie zur Tür gingen, lief ich hinterher. Rüde wurde mir verdeutlicht, dass mein Verbleib hier zu sein hätte. Das Kommende wäre kaum für alle Augen bestimmt, insbesondere nicht für die Angehörigen!
Erstaunlich, wie schnell die beiden Verwandten wieder zusammengefunden hatten, als sei nie etwas passiert!
Familienbande …
Ich beließ es dabei und ging hinaus. Wenn man mir schon die Teilnahme an der Befragung verwehrte, dann aber doch wohl nicht die Kontrolle der Soldaten!
Die Bogenschützen übten nach wie vor, bei den Kämpfern wurde gerade ein weiterer Verwundeter abtransportiert, und die Flüche der Reiter über die schweren christlichen Rüstungen hallten nach wie vor laut über den Platz.
Arabicus saß mit einigen Alten abseits und erklärte auf einem ausgebreiteten Ziegenfell Truppenbewegungen. Raimunds Freund winkte herüber, hatte aber keine Zeit für ein Gespräch. Leise setzte ich mich auf einen verwitterten Stein und sah zu.
Die Ausbildung war hervorragend. Malik al Charim würde Matlahat nicht so einfach überrumpeln können, selbst wenn er weitaus mehr Soldaten zur Verfügung hatte als wir. Das jedoch genau blieb unser größtes Problem!
Mir kam ein Gedanke.
Die schnell zusammen gerufenen Ausbilder zeigten bereits bei den ersten Worten völliges Unverständnis. Eisern blieb ich bei meiner Meinung und setzte die passenden Befehle rigoros durch. Geraume Zeit später erst hatten sich die, nach denen geschickt worden war, versammelt. Danach warfen die niederen Anführer mannigfaltige Flüche herüber. Arabicus unterbrach seine Unterweisung und hörte ihrem Schimpfen fassungslos zu. Er konnte es nicht glauben. Ich hatte sämtliche Frauen der Festung zusammenrufen lassen, um sie ab sofort wie die Männer an jeglichen Waffen ausbilden zu lassen!
Dies war mein Todesurteil!
Ein islamisches Land, in dem ein Christ Frauen zu Kämpfern machte!
Die Kriegskunst war von jeher den stolzen Männern vorbehalten. Wie konnte der Enkel des Anführers es wagen, jegliche Traditionen zu brechen?
Auch unter den Soldaten brach tumultartiger Lärm los, als sie hörten, was ich den Frauen laut erklärte. Sämtliche Krieger schwangen ihre Waffen und standen kurz davor, mich anzugreifen. Wütend schlugen die Einheiten mit allem, was Krach machte, aufeinander und schrien sich die Kehlen heiser. Arabicus brüllte über den Platz, aber zum ersten Mal schien er kaum Wirkung zu erzielen.
Die Tumulte ignorierend, stieg ich die Treppe zum Haupthaus hinauf. Links vor mir standen die Frauen, rechts davon die tobenden Gruppen der Soldaten. Ich versuchte erst gar nicht, sie zur Ruhe bringen, sondern hob allein den Arm und wartete. Der Lärm ebbte nur langsam ab.
»Männer und Frauen von Matlahat, seid ruhig! Die folgenden Worte fallen nur einmal! Hier steht nicht irgendein Christ, sondern jemand aus Eurer Mitte. Lange verschollen, ist er nun wieder da. Ich trage so wenig Schuld daran wie Ihr, dass mein bisheriges Leben woanders stattfand. Die darauf fußende unterschiedliche Ausbildung hilft jetzt jedoch den Bewohnern unseres Tals. Nutzen wir diesen Vorteil gemeinsam für den Sieg! Jammert also nicht über Änderungen oder darüber, wie schwer Ihr es unter mir habt. Dies rettet sowohl unser aller Leben als auch Matlahat!
Das Volk der Fatimiden besteht nur noch aus Wenigen, deshalb tragen unsere Frauen ab sofort ebenfalls Waffen! Sie werden das Bergtal schützen, während die Soldaten kämpfen.
Ihr habt die Wahl: Sämtliche Männer ziehen gegen den Feind und gewinnen, während die Heimat durch die Frauen gesichert ist. Oder aber unsere Krieger teilen sich. Die eine Hälfte bleibt in Matlahat, und die andere geht unter, weil sie allein zu schwach ist. Wir kämpfen und siegen alle zusammen! Ansonsten sehen die Frauen und der Christ zu, wie die Männer erst die Schlacht und danach die Heimat verlieren. Wollen wir von Malik al Charim vernichtet werden, nur weil eiserner Stolz jede Neuerung verhindert?
Entscheidet Euch – jetzt! Weiterhin die alten Regeln oder lieber den Sieg?«
Nach meinen Worten herrschte Stille. Ich hatte jeglichen Grundsatz in seinen Festen erschüttert. Die Männer mussten sich erst fassen. Arabicus riss die Arme hoch.
»Den Sieg!«
Jubel brandete auf. Matlahats Bewohner wiederholten immer wieder den kurzen Aufschrei und lärmten mit den Waffen. Bogen schlugen auf Köcher, Schwerter auf Schilde.
Die Menge hatte eine eindeutige Entscheidung getroffen!
Ich teilte die Frauen in Gruppen ein und wies sie den Ausbildern zu, während der frühere Mönch zusätzliche Führer für die Krieger bestimmte.
Als jeder seinen Platz gefunden hatte und die Übungen weitergingen, ließ ich mich nieder und beobachtete die Frauen. Auf einmal setzten sich links und rechts zwei Schatten dazu – Raimund und Nurim!
»Nicht schlecht, Falko. Ein Christ bringt die Moslems dazu, umzudenken! Ihr werdet sie führen, und alle werden Euch vertrauen! Das bedeutet den Sieg!«
Mein Vater ließ unüberhörbare Wertschätzung bei diesen Worten mitschwingen. Von der anderen Seite kam die Stimme des alten Fatimiden.
»Was macht Ihr mit unseren Kriegern? Sie fressen Euch buchstäblich aus der Hand!«
Ein breites Lächeln war in drei Gesichtern zu sehen. Es herrschte eine Stimmung wie bei unserer ersten Begegnung. Jegliche Probleme waren endgültig beseitigt.
»Trotzdem spielt Ihr mit dem Feuer, wenn die Frauen auf die gleiche Stufe gestellt werden wie die Männer!«
»Unter den herrschenden Bedingungen bestehen für mich keinerlei Unterschiede zwischen denen, die in der Lage sind, eine Waffe zu führen. Bei einer Niederlage gehen alle Menschen in Matlahat unter – ungeachtet des Geschlechts!
Wenn wir gewinnen wollen, wird jeder Arm benötigt, der helfen kann!
Die Fatimiden sind anders als ihre Gegner, also verhalten sie sich auch im Kampf entsprechend. Durch die Ausbildung der Frauen ergibt sich ein weiterer Vorteil. Sollte Matlahat überfallen werden, wird die Verwunderung der Angreifer übergroß sein!«
Nurim grinste verschmitzt bei meinen Worten. Fast vergnügt sahen wir dem Treiben auf dem Platz zu.
Sämtliche Frauen sollten zuerst an den Bögen ausgebildet werden, dann an den Langbögen, schließlich an den anderen Waffen. Vielleicht reichte die Zeit noch für eine Vertiefung der Schulungen. Die Krieger wirkten nach wie vor konsterniert, während sie ihre Übungen fortsetzten. Es unterliefen ihnen plötzlich dermaßen viele Fehler, dass Arabicus eingriff. Sorgte neue Konkurrenz etwa für Unsicherheit?
Die Ausbilder erhöhten das Tempo, damit die Gruppen sich wieder konzentrierten.
Unsere neuen Kämpfer gingen die ersten Lektionen mit großem Eifer an. Sie schienen sich der einzigartigen Situation bewusst zu sein. Noch nie hatten wohl in diesem Land Frauen neben Männern Waffen getragen, um später die gemeinsame Heimat zu verteidigen!
Ein Diener flüsterte Nurim etwas ins Ohr. Der winkte Raimund und mir.
»Unser Gefangener hat geredet. Die benötigten Antworten liegen vor, aber viele weitere werden folgen. Lasst uns dorthin gehen, wo man ungestört reden kann. Hier hören zu viele Ohren mit!«
Im Haupthaus angekommen, suchten wir einen kleinen Raum in der ersten Etage auf, der eine dicke Tür und kein Fenster hatte. Mein Großvater berichtete fast aufgeregt.
»Der Mann ist eindeutig ein Assassine. Er erhielt den Mordauftrag direkt vom Alten vom Berge, nachdem die Gruppe im französischen Kloster von Souviommes keinen Erfolg gehabt hatte. Seit Eurer Flucht von dort werdet Ihr überall gesucht. Der Gefangene hatte Arabicus und seinen Begleiter bei der Ankunft im Hafen von Askalon entdeckt, die Spur aber wieder verloren. Daraufhin wartete er bei Raimunds Gefängnis. Nach dessen Entkommen folgte der Mörder Euch hierher und nutzte die erste Gelegenheit für ein Attentat. Viel schlimmer ist, dass er in der Zwischenzeit Matlahat entdeckt hat. Der Bergpfad wie auch der Weg durch die Steinfelder sind ihm bekannt. Zurzeit finden die Soldaten heraus, ob der Assassine jemandem davon berichtet hat.
Es gibt keine Gnade! Ansonsten wird womöglich vernichtet, wofür wir seit 20 Jahren leben. Auch unser gesamtes Vorhaben steht auf dem Spiel!«
Nurim war hochgradig besorgt. Ich ergriff das Wort.
»Lasst uns umplanen! Sollte er uns bereits verraten haben oder jemand wartet vergeblich auf seine Meldung, bleiben vielleicht zwei Tage bis zu einem bevorstehenden Angriff. Die nutzt unser Volk! Sämtliche Gruppen üben den gesamten morgigen Tag nahezu ohne Unterlass. Sie müssen so geschickt wie nur möglich sein. Übermorgen bleibt noch genügend Zeit für Erholung – bis zum möglichen Angriff. Erfolgt der nicht, üben wir wieder weiter. Die Waffenmacher sollen auf Schlaf verzichten und vorerst ausschließlich arbeiten. Sie können sich in zwei Tagen, während des Kampfes, ausruhen.«
Nurim fiel ein.
»Gut, und die Vorräte werden bis morgen Abend komplett aufgefüllt. In der Zeit danach lagern die alten Männer noch ein, was zusätzlich möglich ist. Unsere Verbündeten erhalten erst Nachricht, wenn die Späher vom Eintreffen der Feinde berichten. Die Krieger können schnell hier sein."
»Wie viele Baumeister gibt es in Matlahat?«
»Sechs.«
»Sie haben sich unmittelbar nach diesem Treffen die Ränder des Tals anzusehen, außerdem die Felsen davor. Wir dichten alles ab. Jede Lücke, jedes Loch wird verschlossen. Wo immer möglich, entsteht eine Palisade oder Mauer mit Bogenschützen und Wachen dahinter. Ein Tor hier oben verschließt das Ende des Bergweges. Fallen schützen den Zugang zusätzlich.
Das Tal wird so gut wie möglich gesichert!
Bis die Feinde zu der Festung durchdringen, haben sie schon hohe Verluste erlitten. Sollten wir wegen des Assassinen den Kampf nicht mehr zu Malik al Charim tragen können, dann bekommt der ihn auf unserem Boden und zu unseren Bedingungen. Hierfür müssen noch Gräben vor den Mauern ausgehoben werden, so gut wie möglich in der kurzen Zeit!«
»Es fehlt Wasser dafür!«
Fast mitleidig sah Nurim herüber. Unwirsch fegte sein Schwiegersohn diesen Kommentar vom Tisch. Er hatte meinen Gedanken verstanden.
»Seid doch nicht so schwerfällig. Unsere Soldaten füllen sie mit Dung und Pech und zünden dann die Mischung an!«
Eilig begannen wir Pläne auszuarbeiten und Aufgaben für die Menschen im Tal zu verteilen. Den Anwesenden war bewusst, wie viel Arbeit auf sie wartete.
Erst kurz nach Mitternacht fand das Treffen ein Ende. Die Anführer verließen den Raum und gingen getrennte Wege. Jeder suchte geeignete Männer für die einzelnen Vorhaben.
Kein einziger Moment durfte ungenutzt bleiben!
Die endgültige Umsetzung der Pläne hatte begonnen.
Raimund und Nurim wollten sich um jegliche Arbeiten kümmern, die nicht die Soldaten betrafen; Arabicus sollte mit mir zusammen die Schulung der Kämpfer vorantreiben.
Wir rissen die verschiedenen Gruppen der Soldaten aus dem Schlaf und riefen sie in den großen Innenhof. Nach einer kurzen Erklärung der Situation begannen die Übungen unter deutlich verschärften Bedingungen. Als Vertreter meines Großvaters und Vaters oblag mir die Sicherung unseres Überlebens. Ab sofort führte ich sämtliche Truppen hier, und mein Wort galt. Sie hatten einfach zu gehorchen!
Männer wie Frauen übten mit äußerster Aufmerksamkeit.
Ihnen war bewusst, in welcher Lage wir steckten. Allein die Geschicklichkeit der Kämpfer würde eine drohende Niederlage verhindern, nicht bloße Kraft oder primitives Gegenhalten!
Die Waffenbauer hatten noch mehr Gehilfen zugeteilt bekommen und sollten jeden Moment der verbleibenden Zeit nutzen. Auf den Berghängen konnte man im Schein der zahllosen Fackeln ungewöhnliche Aktivitäten beobachten. Pferde zogen Wagen mit Holzstämmen aus Matlahats Lagern immer höher hinauf. Oben standen Gruppen von Arbeitern, die ankommenden Nachschub sofort verbauten. Das in dieser Gegend unendlich kostbare Material, jahrelang mühsam und unauffällig zusammengetragen oder angepflanzt, wurde nun rücksichtslos benutzt. Mein Vater schien nichts unversucht zu lassen, lückenlose Palisaden zu errichten.
Im Tal sah man viele Gruppen von Bewohnern alles Verwertbare zusammenbringen. Hier unten brannten mehrere große Feuer. Es wurden Steine gestapelt, Gras geschnitten, Obst geerntet und Sand aufgehäuft. Den gesamten Talboden hatten Halbwüchsige bereits gewässert, um einem Angriff mit Brandpfeilen zu begegnen.
Vor den Mauern schwitzten unzählige Menschen beim Ausheben eines tiefen und breiten Grabens. Die gewonnene Erde benutzte man dazu, die Dächer der Häuser zu bedecken, damit auch dort kein Feuer ausbrechen konnte. Matlahats Bewohner waren mit Eifer dabei; sie wussten, worum es ging.
Als die Arbeiten fortschritten, besprachen Raimund, Nurim und ich uns abermals. Schnell herrschte Einigkeit, abwechselnd zu schlafen, um die Fortschritte nicht stocken zu lassen. Mein Großvater legte sich zuerst hin. Niemand würde ihn wecken, auch wenn er anschließend toben sollte …
Von einem der Haupttürme am Tor aus sahen wir dem Treiben eine Weile zu.
Dann ging Raimund, um die Arbeiten an den Berghängen zu überwachen. Einige Worte schickten meinen Cousin Nasim ins Tal, um bei den Menschen noch größere Eile anzumahnen.
Arabicus schulte nach wie vor die Bogenschützen. Ich übernahm die Übungen der Frauen. Deren Fortschritte waren unglaublich. Sowohl an den Bögen als auch an den Nahkampfwaffen wuchsen gefährliche Gegner heran. Sie stellten die Männer bei weitem in den Schatten. Die geschicktesten Schützen unter ihnen wurden bald zu den besten Kriegern beordert. Jeden Widerstand sofort im Kern erstickend, war ich entschlossen, aus dieser gemischten Gruppe eine Einheit zu formen.
Einige Zeit danach legte sich auch Raimund schlafen. Er war nach seiner Gefangenschaft noch nicht wieder richtig hergestellt, und die kommende Zeit würde ihm noch genug abverlangen. Anschließend übernahm ich die Leitung Matlahats. Die Menschen winkten mir bei einem Ritt durch das Tal zu. Nirgendwo war noch Groll wegen der einen grundlegenden Entscheidung zu spüren. Wir alle wollten leben!
Die ersten Kundschafter trafen ein.
Ihren Aussagen nach war noch in keiner der nächstgelegenen Städte etwas von sich sammelnden Feinden zu bemerken. Vielleicht blieb doch mehr Zeit für die Vorbereitung als erwartet!
Mitten in der Übung der Frauen mit den englischen Bögen tippte mich jemand von hinten an.
Mein Großvater!
Missmutig, aber leise kam die Frage auf, warum man ihn so lange hätten schlafen lassen. Seine Augen schweiften finster über die gemischte Gruppe, aber jeder Kommentar unterblieb. Unwille wandelte sich zu blankem Staunen, als die Ergebnisse des Schießens mit dem Langbogen verkündet wurden.
»Wer hat die Frauen zu den Männern geschickt?«
»Ich!«
»Eine unglaubliche Entscheidung. So gewagt wie weise bei der Anzahl von Matlahats Kriegern! Wer leitete die Arbeiten, während Euer Vater und ich schliefen?«
»Ich!«
»Wie weit sind die Vorbereitungen gediehen?«
»Soweit wie möglich. Mehr ist kaum herauszuholen aus unseren Leuten, wenn sie später noch kämpfen sollen.«
»Wo ist Nasim?«
»Ich habe ihn ins Tal geschickt, um die Arbeiten zu kontrollieren!«
»Gut, Junge, sehr gut!«
Er drückte meinen Arm, und es war dabei die gleiche Wärme zu spüren wie vor dem schwerwiegenden Konflikt.
»Sehen wir nach den anderen Fortschritten!«
Abrupt wandte sich Raimunds Vater dem Keller zu, in dem der Assassine weiterhin vernommen wurde. Einige Zeit später tauchte er wieder auf, und seine eisige Miene verriet nichts Gutes.
»Der Gefangene hat gestanden, Matlahat schon länger zu beobachten als vorhin zugegeben. Seine Informationen gehen natürlich an den Alten vom Berge, aber ebenfalls an Malik al Charim. Das bedeutet, dass diese gemeinsame Sache bei der Suche nach uns machen!
Die Luft wird dünner!
Beide wissen, dass der Mörder in dieser Gegend unterwegs ist. Das nächste Treffen findet morgen statt. Erscheint er nicht, folgen sicherlich spätestens übermorgen entsprechende Maßnahmen. Malik wird dann alle Wege abriegeln und zugreifen. Sobald die Häfen abgeschottet sind, kann Kilian jedoch nicht mehr rechtzeitig zurück nach Malta. Er muss unbedingt abreisen, bevor es zu spät ist – also noch heute Abend! Ich treffe die nötigen Vorbereitungen und informiere auch unsere Männer im Hafen von Hanbar.«
Mein Nicken zeigte ungeteilte Zustimmung. Eine andere Möglichkeit blieb kaum, sollte der bisherige Plan dem Scheitern entgehen. Bislang waren sämtliche Probleme bewältigt worden, weil wir uns immer schnell genug jeder Situation anpassen konnten.
Eine bedeutende Größe für die kommenden Kämpfe blieben die alten Gefährten meines Vaters auf Malta. Es war unverzichtbar, dass sie von Kilian umgehend und genau informiert wurden!
Einer seiner Männer nahm Nurim zur Seite und redete auf ihn ein, um dann genauso schnell wieder zu verschwinden.
»Der Assassine ist ohnmächtig. Er bekommt eine Pause. Wir brauchen noch mehr Informationen. Geht nun schlafen, bevor Ihr umfallt!«
Jetzt duldete mein Großvater keinen Widerspruch.
Kurze Zeit später packte Kilian bereits seine Sachen und wartete darauf, abreisen zu können.
Ich legte mich nicht hin. Den Befehl Nurims ignorierend, folgte eine langanhaltende Überlegung mit dem Arzt bezüglich unseres weiteren Vorgehens.
Wichtig war vor allem, dass keine Missverständnisse zwischen den Truppen im Orient und auf Malta entstanden, nur weil wir etwas vergessen hatten. Außerdem bat ich ihn, eine Nachricht an Elisabeth zu übermitteln. Ein Schriftstück war zu gefährlich, sollte man Kilian gefangen nehmen. Sie durfte nicht dadurch in Gefahr geraten, dass Henry de Fontes von der Beziehung erfuhr.
Die Liebe zur Tochter des Kreuzritters brannte nach wie vor, und meine Gedanken weilten unentwegt bei ihr, auch wenn kaum Zeit für Derartiges blieb. Irgendwann gäbe es genug Zeit für uns. Hoffentlich hatte sie mich bis dahin nicht vergessen!
Vielleicht konnte ich sie später einmal meinem Vater vorstellen. Aber das lag wohl noch in weiter Ferne …
Ich begleitete Kilian zum Tor. Unterwegs stürzte Nasim heran. Er suchte Nurim und nahm uns gleich mit. Ein Bote war eingetroffen, mit einer dringenden Nachricht. Im Haus warteten wir beinahe ungeduldig, bis sich der Erschöpfte nach seinem Gewaltritt wieder eingesammelt hatte.
Auf Malta drohte die Lage zu eskalieren.
Der Statthalter hatte seinen arabischen Verbündeten Malik al Charim um Verstärkung ersucht und würde sie erhalten!
Arnauds Kreuzfahrer hatten kurz vor der Hauptstadt einen Boten abgefangen, der die Ankunft der Araber anmelden sollte. Damit sammelte sich in Kürze eine Übermacht, die sowohl Matlahats Krieger als auch die Kreuzritter oder sämtliche Templer auf Malta allein unmöglich zu besiegen vermochten!
Es fehlte auf der Insel in diesem Moment ein Anführer, der die Gruppen einen und auch den letzten Mann an die Waffen holen konnte!
Wen sollten wir auswählen?
Die Überlegung war einfach und genauso schwer. De Moncadrieux blieb so gut wie geächtet. Ihm würden keineswegs sämtliche Kämpfer folgen, insbesondere die Templer nicht. Broderik als Mönchsritter gehorchte der Verpflichtung anderer Ziele. Er durfte sich durch das Führen fremder Truppen gegen Christen ohne offizielle Weisung nicht mit dem Orden überwerfen. Kilian mochte der Anführer sein, da ihn alle achteten. Der Arzt war jedoch kein Soldat und weilte außerdem nicht auf Malta. Arabicus hätte helfen können, aber auch der frühere Leibwächter befand sich hier bei uns. Und dann blieb noch – ich. Von den alten Gefährten auf der Insel ausdrücklich als Anführer gewünscht, entstand so ein Problem. Wie Arabicus benötigte man mich hüben wie drüben dringend.
Jede Entscheidung für eine Seite wäre die falsche. Mein Großvater brauchte mich gegen einen überlegenen Feind an seiner Seite; die Malteser dagegen drohten ohne Anführer unterzugehen!
Wir beratschlagten kurz, dann erhob Raimund vehement die Stimme.
»Nurim, ich nehme meinen alten Platz als Soldat ab sofort wieder ein! Bisher schonte man mich mehr als ausreichend. Wir haben nur zwei Möglichkeiten. Entweder gehen Kilian und ich zurück nach Malta, um die Truppen zu führen. In diesem Fall kämpft Falko an Eurer Seite. Oder Falko und Kilian fahren, und Ihr führt mit mir die Krieger hier zum Sieg. Besser wäre die erste Möglichkeit, weil meine Männer auf Malta durch Himmel und Hölle gehen, wenn sie mich bei sich wissen. Und somit erhalten die Bewohner Matlahats später unbedingte Unterstützung durch starke Einheiten!«
»Unmöglich! Ihr seid bekannt, und die Feinde suchen sicherlich längst überall nach diesem einen Entflohenen. Bei einer Gefangennahme auf dem Weg nach Malta bekommen wir Euch nie wieder frei. Das würde uns entscheidend schwächen!
Die beste Wahl für den Platz des Anführers dort ist Falko. Wahrscheinlich kommt mein Enkel besser als jeder andere durch die feindlichen Linien. Außerdem werden ihm Eure Anhänger ebenfalls bedingungslos folgen. Ihr bleibt in Matlahat, und er geht! So ist allen gedient. Ansonsten ist Arabicus hier ebenfalls unverzichtbar!
Ein besserer Kompromiss lässt sich nicht finden!«
Nach kurzer Überlegung stimmten die Anführer ihm zu. Ich packte die nötigen Sachen und verabschiedete mich anschließend von der gesamten Familie. Meine Großmutter hatte Tränen in den Augen. Sie fürchtete, wir würden uns zum letzten Mal sehen. Unglaublich, wie sehr sie und die anderen mir ans Herz gewachsen waren.
Dennoch – wir mussten reiten …
Ein Führer leitete Kilian und mich aus dem befestigten Tal heraus und nach endlosen Umwegen sicher nach Hanbar.
Im Hafen wurden wir von einem Gefolgsmann meines Großvaters in Empfang genommen. Er brachte uns auf einem Schiff unter, dessen Kapitän ebenfalls zu Nurims Anhängern gehörte.
Die Überfahrt nach Malta verlief diesmal schneller, denn die Winde standen günstig und das Schiff war kaum bis zur Hälfte beladen.
Kilian und ich beschlossen, in Valletta getrennt aufzutreten, um bei einer Entdeckung eine gleichzeitige Gefangennahme zu verhindern. Treffpunkt würde Rogérs Kate sein.
Glücklicherweise gab es vor der Insel noch keine Hafenblockade, so dass wir unbeschadet in Valletta anlegen konnten. Als ich das Schiff absichtlich vor Kilian verließ, verharrten bereits einige Männer bewusst unauffällig am Hafenbecken und beobachteten alle Reisenden genau.
Die Speichellecker des Statthalters!
Eher im Hintergrund hielten sich dagegen zwei Mönche, die augenscheinlich ohne Beschäftigung waren und wohl auf jemanden warteten. Etwas weiter standen zwei Templer mit ihren Pferden in der letzten Reihe der Zuschauer und registrierten offen sämtliche Bewegung in der Umgebung. Hatte Broderik sie geschickt?
Deutlich abseits lehnte ein älterer Mann an der Ecke eines Schuppens und schnitzte völlig versonnen an einem Stück Holz. Sein Blick blieb gesenkt, als die Reisenden von Bord gingen. Er trug die einfache Kleidung eines Knechtes. Die aber lungerten nicht im Hafen herum, ohne eine Strafe ihres Herrn zu provozieren. Vielleicht war dies unser Kontakt!
Ich lud das Pferd aus und verließ langsam die Pier. Ohne auf jemanden zu achten, ging es mit dem Braunen an der Hand durch den vorherrschenden Trubel. An der Hafengrenze sprachen mich die Gefolgsleute des Statthalters an. Sie erkundigten sich eindringlich nach Namen, Herkunft und Ziel auf Malta. Die ausführliche wie gelogene Antwort erfolgte bereitwillig. Anscheinend zufrieden ließ man mich in Ruhe. Während mein Tier an einem Brunnen soff, kam Kilian an Land. Umgehend wurde er befragt. Überall auf Malta als reisender Arzt bekannt, fand die Kontrolle aber bereits nach einigen Sätzen ihr Ende.
Die Tempelritter beobachteten das Geschehen weiterhin, zeigten jedoch keinerlei Reaktion. Als die letzten Reisenden an Land standen, ritten die beiden langsam auswärts des Hafens. Kilian folgte ihnen wie zufällig mit einigem Abstand. Bald verloren sie sich in dem Gewimmel der zahllosen Menschen.
Als ich aufstieg, um aus dem Hafengebiet herauszureiten, verließ auch der Schnitzer seinen Platz. Sobald wir außer Sicht der Männer des Statthalters waren, steuerte der Fremde vorsichtig, aber gezielt auf mich zu. Auf einen Beobachter musste es wie ein unmotiviertes Wechseln der Straßenseite wirken.
»Folgt mir, ich bringe Euch zu Rogér!«
»Wie heißen seine Söhne?«
»Er hat nur einen, Eusebius. Wir treffen uns vor der Stadt, am Osttor.«
Die Antwort auf die Fangfrage brachte den Fremden nicht aus der Fassung. Er schien Rogérs Vertrauter zu sein, der einen Verbündeten abholen sollte. Langsam lief der Mittelsmann weiter, um dann gemächlich zu verschwinden. Ich zog weiter stadtauswärts, bis das Osttor fast außer Sichtweite lag. Aus der Entfernung winkte mir jemand hinter einem großen Dornenstrauch zu.
Der Fremde!
Kurz darauf begrüßte er mich aufgeregt wie einen alten Freund. Wir warteten einige Zeit, um sicher zu sein, dass keine Verfolger in der Nähe waren. Anschließend begann ein hastiger Ritt.
Auf Rogérs Territorium mussten mehrere Wachen passiert werden.
Ein Soldat eilte voraus und läutete bereits eine Glocke, als mein Führer auf die Kate zuhielt. Aus allen Richtungen liefen die Bewohner heran. Überwiegend Männer, aber auch etliche Frauen und Kinder trafen am Brunnen zusammen. Viele von ihnen trugen Waffen. Erstaunt sah ich eine für diese Kate unglaublich große Ansammlung. Wir standen vor bestimmt 200 Menschen, davon mindestens 100 Männer!
Rogér war außer sich vor Freude. Die Verbündeten hatten regelrecht gefiebert, ob uns ihre Nachricht erreichen würde. Man hoffte auf meine Rückkehr, damit ich als Raimunds Nachfolger dessen Sache fortführte.
Hier war die Situation außer Kontrolle geraten.
Die Zeichen deuteten auf endgültige Konfrontation!
Unvermittelt standen die alten Gefährten Raimunds dabei ohne einen Anführer da, der sie alle im plötzlich bevorstehenden Kampf gegen den schier übermächtigen Feind einte.
Henry de Fontes erwartete die Verstärkung durch die Araber in der kommenden Woche. Malik al Charim hatte ihm 1000 Krieger versprochen, und der Statthalter wähnte sich seitdem bereits siegreich. Bisher ging der Mörder einer offenen Auseinandersetzung mit Arnauds Männern aus dem Weg, drangsalierte dafür aber die Einwohner Vallettas, wo er konnte. Es gab neue Kopfsteuern und höhere Preise, dazu Repressalien und willkürliche Gefangennahmen. Arnauds Späher wurden beschossen, sein Lager offen bespitzelt und nachts von einzelnen Attentätern angegriffen. De Fontes ließ nichts unversucht, um die Waffenruhe zu brechen, ohne als Schuldiger dazustehen!
De Moncadrieux wahrte nur mit Mühe die bisherige Zurückhaltung. Noch fühlte sich der Kreuzfahrer dem gegebenen Wort verpflichtet. Irgendwann musste aber eine Reaktion auf derartige Provokationen folgen, wenn er nicht mindestens sein Gesicht verlieren wollte. Längst legte ihm der Statthalter die gezeigte Zurückhaltung als Schwäche oder Furcht aus. Die Zahl der Übergriffe wuchs stetig, da es an der gebührenden Antwort bisher fehlte.
Henrys Gefühl des kommenden Sieges aufgrund der bevorstehenden Verstärkung war allgegenwärtig. Einen großen Teil Maltas hatten seine Truppen bereits durchkämmt, um mögliche Gegner und Verschwörer aufzuspüren und zu vernichten. Die Männer de Fontes´ gingen mit äußerster Brutalität vor und verschonten niemanden, der ihnen verdächtig vorkam. Auch die Templer bedrängte man immer aggressiver. Reiter des Statthalters versperrten den Patrouillen den Weg und zwangen sie mit Gewalt zurück in die Komturei.
Offene Verhöhnung fand in Valletta statt. Brennende weiße Templerumhänge wurden hinter Pferden durch die Stadt gezogen und von Soldaten mit gezogenen Schwertern eskortiert. Broderik hatte längst Befehl aus dem Okzident bekommen, mit seinen Rittern die gebührende Antwort zu geben. Der Ordensritter sollte den Statthalter mit Gewalt zur Raison bringen, aber noch auf dem bisherigen Posten belassen. Diesen Befehl ignorierte der Gefährte stillschweigend, um Zeit zu gewinnen. Stattdessen wollte er endgültig zusammen mit sämtlichen alten Freunden und Verbündeten der gesamten Schreckensherrschaft ein Ende bereiten, anstatt sie lediglich zu beschneiden. Mit eiserner Disziplin entgegen der Order wurde so verzweifelt um jeden weiteren Moment gekämpft, der unserer Sache half.
Broderiks Not wuchs unentwegt. Offene Befehlsverweigerung hatte unter den Templern weitaus endgültigere Konsequenzen als in einem regulären Heer. Bald würden seine Ablösung und drakonische Strafen unabwendbar sein. Unsere Seite verlöre dann einen wichtigen Verbündeten!
Es musste unbedingt etwas passieren!
Ich beruhigte Rogér. Wir würden uns beeilen und schnell reagieren! Allein Kilian fehlte noch.
Boten wurden ausgesandt, um alle Vertrauten zu benachrichtigen. Sie sollten sich sammeln und anschließend auf den Befehl zum Abmarsch warten.
Die Getreuen waren auf der ganzen Insel zu finden – einzelne Familien wie ganze Dörfer. Alte Anhänger wie auch deren mittlerweile erwachsene Kinder warteten seit Jahren auf den Moment des Angriffs. Seit den jüngsten Ereignissen hielten sie sich wohl längst für den letzten Kampf bereit.
Raimunds alter Gefährte rief sämtliche auf seinem Land verfügbaren Männer zusammen. Mit einem Teil von ihnen wurden die Wachen abermals verstärkt. So wollte er einem möglichen Überfall durch brandschatzende Soldaten des Statthalters direkt begegnen. Die anderen machten sich kampfbereit. Binnen kürzester Zeit traten sie gerüstet an.
Ich staunte. Der Besitzer der Kate hatte eine Truppe aufgestellt und geschult, die den Templern ähnelte wie ein Ei dem anderen. Kleidung, Rüstungen, Waffen und Befehle waren komplett identisch. Lediglich die Umhänge leuchteten grün, und das Tatzenkreuz der Mönchsritter fehlte. Rogér erzählte stolz, dass einige der Elitesoldaten bereits mit ihm unter meinem Vater gedient hätten. Sie bildeten das Rückgrat der Einheit. Wenn ihr Einsatz in der Schlacht nur ansatzweise mit dem Auftreten vergleichbar war, führten wir sicherlich einen großen Vorteil ins Feld …
Kilian traf fast zeitgleich mit dem Ruf des Kochs zum Essen ein.
Unter vier Augen erhielt ich eine erste Zusammenfassung der Zeit seit unserer Trennung in Valletta. Die Templer aus dem Hafen hatten ihn in sicherer Entfernung zu den Spionen des Statthalters getroffen. Ihr Versuch, auch mich abzufangen, schlug fehl.
In der Komturei berichtete der Ankömmling von der Befreiung Raimunds und trat eine Welle der Begeisterung los. Kurz darauf befahl Broderik seinen Truppen, sich für den Kampf gegen Henry zu rüsten. Nach einem Sieg wollte er unbedingt meinem Vater und Großvater beistehen. Der Arzt drängte darauf, möglichst bald weiter zu Rogér zu reiten. Ihm war bewusst, wie knapp die verbleibende Zeit war. Broderik ließ ihn schnell ziehen und kümmerte sich um die Vorbereitungen seiner Tempelritter. Da er nicht genau wusste, wann die arabische Verstärkung einträfe, tat große Eile not.
Kilians Erzählung überraschte mich vollends.
Gleichzeitig stieg maßlose Freude auf. Bevor die Gefühle sich verselbstständigten, zügelte der Verstand das Herz. Bisher hatte der Ordensritter mir nichts persönlich versprochen!
Wir aßen zusammen mit Rogérs Getreuen. Deren Moral war mehr als gut, und sie schätzten die Situation richtig ein. Jeder brannte darauf, Arnaud zu helfen und de Fontes zu stürzen. Trotzdem gab es keinen Grund für Enthusiasmus. Allein das Zusammenspiel jeglicher verfügbarer Kräfte würde Erfolg bringen!
Zudem blieb die Schnelligkeit des Handelns entscheidend. Sollten wir erst nach dem Eintreffen von Henrys arabischen Verbündeten angreifen, bestand keinerlei Hoffnung auf den Sieg. Eine derartige Streitmacht innerhalb einer befestigten Stadt ließe sich mit unseren Truppen allein nicht bezwingen. Allerdings konnten wir nun mit den maltesischen Tempelrittern rechnen. Ihre höchstens 1100 Kämpfer – darunter 100 Ritter – würden das Zünglein an der Waage sein, selbst wenn nicht alle in die Auseinandersetzungen eingriffen!
Nach dem Essen nahm ich Rogér zur Seite und erzählte ihm von meinem Vater. Fassungslosigkeit schlug mir entgegen. Die ganzen Jahre über hatte er an Raimunds Überleben geglaubt, doch schließlich blieb nur noch die Hoffnung. Nun brachte ihn die Nachricht an den Rand eines Zusammenbruchs. Der hartgesottene Krieger zitterte am ganzen Körper und hatte Freudentränen in den Augen. Vorsichtig setzte er sich auf eine Bank und hörte zu, wie ich auch den Bewohnern der Kate die Neuigkeit mitteilte.
Einen Moment herrschte Stille, dann brach grenzenloser Jubel los, der nicht enden wollte. Nur langsam kehrte wieder Ruhe ein. Ich setzte nach und offenbarte, Raimunds Sohn zu sein, der sie führen würde. Jetzt gab es endgültig kein Halten mehr. Die meisten Männer lagen sich in den Armen. Viele weinten, während die älteren bereits vordrängten. Sie umringten Rogér und mich und überschütteten uns mit Fragen. Fast jedes dieser Urgesteine hatte unter meinem Vater gekämpft und kannte ihn persönlich. Die Krieger brannten förmlich auf den Kampf. Auch sie wollten unbedingt nach Outremer, um Raimund zu helfen!
Den Nachmittag über ließ Rogér verschiedene Gruppen Übungen ausführen, um mir ein Bild von den vorhandenen Fähigkeiten zu vermitteln. Mein Erstaunen wuchs mit jedem Moment. Die Einheiten waren derart gut geschult, dass de Fontes´ Angreifer ihnen wohl kaum etwas entgegensetzen konnten.
Bereits mittags hatten wir Boten zu Arnaud und Broderik geschickt.
Vor dem Morgengrauen des kommenden Tages sollten die Truppen zusammentreffen. Rogérs Männer würden nachts langsam losmarschieren, um dann rechtzeitig vor Vallettas Toren zu stehen. Anschließend wollten wir uns mit Arnauds Kreuzrittern und den jetzt noch auf der Insel verstreuten Gefolgsleuten vereinigen, um gemeinsam in die Stadt einzudringen. Die Templer unter Broderik würden aus ihrem Hauptquartier heraus vorstoßen und direkt in den Statthalterpalast eindringen. Erst danach sollte die Blockade des Hafens vom Land aus erfolgen.
Alles Andere erregte zu viel Aufsehen.
Funktionierte dieser Plan, würden wir vielleicht noch vor dem Eintreffen der Araber siegreich sein und uns dann gemeinsam ihrer annehmen!