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I. Epochenbegriff 1. Rahmenbedingungen der Epochendefinition

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Epochenbegriffe als Konstruktionen

Epochen der Literatur- und Kulturgeschichte sind keine wirklich existierenden Lebewesen oder Substanzen. Es gibt sie nicht so wie etwa Tiere, Pflanzen oder anorganische Stoffe. Die realen und greifbaren Träger von Poesie sind einerseits Autoren und auf der anderen Seite Medien. Schriftsteller verfertigen als künstlerisch kreative Menschen dichterische Texte und präsentieren sie, wie auch immer, einer daran interessierten Öffentlichkeit. Als materieller Vermittler hierfür fungiert das jeweils gewählte Medium, das ebenfalls tatsächlich als Gegenstand der Erfahrungswirklichkeit sinnlich wahrnehmbar ist, sei es ein Buch, ein Flugblatt oder der Rundfunk. Epochen hingegen existieren nicht. Bei ihnen handelt es sich um nicht mehr und nicht weniger als Konstrukte der Literaturwissenschaft. Epochen sind Kategorien, mit deren Hilfe die unübersehbare Flut von überlieferten Texten in eine sinnvolle Ordnung gebracht werden kann. Damit ist nicht bloß eine chronologische Aneinanderreihung gemeint. Diese allein würde noch wenig Hilfe für die Orientierung in den Unmengen an literarischen Dokumenten zu leisten vermögen, die gerade aus den letzten Jahrhunderten auf uns gekommen sind. Epochenbegriffe bieten vielmehr die Möglichkeit, bestimmte Texte aus einem gewissen Zeitraum der Kulturgeschichte auf Grund spezifischer Merkmale, die ihnen gemeinsam sind, miteinander in einen sinnvollen Zusammenhang bringen zu können. Auf diese Weise lassen sich größere Einheiten von zusammengehörigen Texten mit einer Reihe von typischen Eigenschaften bilden. Von anderen, zeitlich früheren oder späteren Gruppen von literarischen Produkten, die unter anderen Epochenbegriffen zusammengefasst werden, unterscheiden sich diese Einheiten durch die divergenten Merkmale, die für sie als konstitutiv angesetzt werden. So entsteht eine Geschichte der Poesie als Abfolge von differierenden Epochen, ohne dass diese wirklich existieren würden. Aber das muss ja kein Nachteil sein. Epochenbegriffe sind nicht bloß Konstruktionen, sondern auch heuristisch. Das bedeutet, dass sie immer nur vorläufig gelten, so lange, bis andere, besser geeignete Konzepte für die periodische Unterteilung der Literaturgeschichte gefunden werden.

Epochenkonstrukt Expressionismus

Das gilt auch für den Expressionismus. Der Begriff ist als Epochenbezeichnung oft schon kritisiert oder gar radikal angezweifelt worden. Aber er hat sich als Sammelbezeichnung für eine spezifische Strömung der deutschsprachigen Literatur mit bestimmten epochentypischen Merkmalen dennoch über viele Jahrzehnte unangefochten in den Kulturwissenschaften gehalten, und zwar mit guten Argumenten. Deshalb ist es legitim, von der Dichtung des Expressionismus als von einem klar definierbaren Phänomen der Literaturgeschichte zu sprechen. Freilich bleibt dies grundsätzlich eine Rede auf Abruf. Jederzeit können von Wissenschaftlern alternative Konzepte der epochalen Gliederung der Literatur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts vorgeschlagen und von der scientific community begrüßt und für ihre Arbeit genutzt werden. Anders gesagt, niemand weiß, ob in zwanzig oder dreißig Jahren in neugermanistischen Lehrveranstaltungen überhaupt noch der Expressionismus behandelt werden wird oder nicht vielmehr eine anders definierte Periode der Literatur, die beispielsweise ungefähr von 1890 bis 1960 reichen könnte. Doch gerade das, der konstruktivistische Charakter von Epochenbegriffen und die ständig bestehende Möglichkeit der Veränderung geläufiger Terminologien und eingespielter Konzepte, machen die kulturhistorische Arbeit so immens spannend.

Vorgeschichte des Wortes „Expressionismus“

Der konstruktivistische Charakter von Epochen zeigt sich zuerst einmal schon daran, dass die heute gebräuchlichen Begriffe nicht von allem Anfang an oder gar erst im Nachhinein zur zusammenfassenden Bezeichnung einer spezifischen Gruppe von Texten benutzt worden sind. Auch dafür ist der Expressionismus ein typisches Beispiel (vgl. zur Begriffsgeschichte Rötzer 1976). Das Wort expressio stammt aus dem Lateinischen und bedeutet nichts anderes als einfach ‚Ausdruck‘. Seit 1850 wird der daraus abgeleitete Begriff des Expressionismus im anglophonen und im frankophonen Sprachraum immer wieder einmal, allerdings sehr selten, zur Bezeichnung von bestimmten stilistischen Tendenzen innerhalb der neueren avantgardistischen Malerei verwendet (vgl. Arnold 1966, 9). Ferner findet in einem US-amerikanischen satirischen Roman von 1878 der Terminus bemerkenswerter Weise erstmals Anwendung auf eine Gruppe junger, ästhetisch fortschrittlicher Literaten. Eine Rezeption dieses Wortgebrauchs in der alten Welt wird freilich in der Forschung als sehr unwahrscheinlich angesehen (vgl. Arnold 1966, 10f.). Viel entscheidender für die Begriffsgeschichte ist hingegen eine in einem Pariser Salon 1901 präsentierte Ausstellung mit nicht-respektive anti-impressionistischen Ausdrucksstudien unter dem Etikett des „Expressionisme“ (vgl. Arnold 1966, 11). Die Wirkung dieser Begriffsverwendung bleibt allerdings vorerst auf den frankophonen Raum begrenzt.

„Expressionismus“ im deutschen Sprachraum

Im deutschsprachigen Raum lässt sich die Bezeichnung erstmals 1911 nachweisen. Sie wird als Schlagwort für Vertreter einer jüngeren Generation bildender Künstler verwendet, zum Beispiel Georges Braque (1882–1963) oder Pablo Picasso (1881–1973), die sich in ihren Arbeiten von der Ästhetik des Naturalismus und des Impressionismus distanzieren (vgl. Anz 2002, 3). Der bislang früheste bekannte Beleg für diese Verwendung des Begriffs findet sich im Vorwort zum Katalog der 22. Ausstellung der Berliner Sezession vom April 1911. Der Terminus wird in Besprechungen dieser Bildersammlung mehrfach aufgegriffen. Bald erlangt er auch Eingang in die kunsttheoretische Diskussion und in die Essayistik (vgl. Anz 2002, 3f.). Bereits 1914 erscheint eine erste Monographie über den Expressionismus in der modernen Malerei – ein sicheres Indiz für die feste Etablierung des Begriffs in der öffentlichen kunstwissenschaftlichen Diskussion (vgl. Fähnders 1998, 136f.).

„Expressionismus“ in poetologischen Debatten

Schon im Sommer 1911 überträgt der Schriftsteller Kurt Hiller (1885–1972) den Begriff aus der Bildenden Kunst auf die Literatur. Er bezeichnet damit zunächst einmal eine Gruppe junger Berliner Autoren, denen er selbst angehört (vgl. Anz 2002, 5). Sie haben sich 1909 in einem „Neuen Club“ organisiert, aus dem dann das „Neopathetische Cabarett“ hervorgeht. Hier treffen sich regelmäßig Dichter, die sich vehement von den gängigen ästhetischen Vorstellungen absetzen, ihre poetologischen Ideen diskutieren und ihre neuesten Texte vortragen (vgl. Sheppard 1980/ 1983). Kurt Pinthus (1886–1975), maßgeblicher Publizist und einflussreicher Verlagslektor, bespricht 1913 Alfred Döblins (1878–1957) Band Die Ermordung einer Butterblume und andere Erzählungen (vgl. V.1.), eine der wichtigsten Prosa-Veröffentlichungen des Frühexpressionismus. Er leitet die Rezension mit der Feststellung ein, dass „dieselben neuen Strömungen“ der jüngsten Malerei sich nun auch in der „Dichtkunst“ entwickelten und dass sich an dem Novellenband „die Umwandlung vom Impressionismus zum Expressionismus“ zeige (Pinthus 1973, 15). Allgemein in der öffentlichen Debatte durchsetzen kann sich der Begriff allerdings erst in der zweiten Hälfte der Dekade. Der Schriftsteller Hermann Hesse (1877–1962) beispielsweise, der während jener Jahre in zahlreichen Rezensionen die aktuellen literarischen Tendenzen beobachtet, wendet bis 1916 den Terminus Expressionismus ausschließlich auf Werke der Malerei an. Auf dem Gebiet der Literatur hingegen spricht er etwa von der „‚jüngsten dichterischen Jugend Deutschlands‘“ oder von „‚futuristische[n] Bücher[n]‘“ (Bogner 2004, 103). Auch in einem der zentralen publizistischen Organe der Bewegung, in der von Herwarth Walden (eig. Georg Lewin, 1878–1941) herausgegebenen Zeitschrift Der Sturm (1910–1932), schwankt die Bedeutung des Terminus Expressionismus bis um 1915 stark (vgl. Möser 1983, 51). Zur Etablierung des Begriffs in den theoretischen und literaturkritischen Debatten tragen entscheidend zwei Publikationen bei. 1916 veröffentlicht der schillernde österreichische Schriftsteller Hermann Bahr (1863–1934), selbst kein Repräsentant der Bewegung, die erste Monographie zum Expressionismus, die sich auch mit deren Dichtung auseinandersetzt (vgl. Bahr 1916). Am 13. Dezember 1917 hält, viel wichtiger noch, der Schriftsteller Kasimir Edschmid (eig. Eduard Hermann Wilhelm Schmid, 1890–1966), einer der prominentesten Vertreter der Bewegung, eine viel beachtete Rede über den Expressionismus in der Dichtung (vgl. IV.1.), die wenig später auch im Druck erscheint und erhebliches Aufsehen auf sich ziehen kann (vgl. Anz/Stark 1982, 42–55). Der Begriff avanciert in der Folge endgültig zur Sammelbezeichnung unterschiedlicher „Autoren und Gruppierungen innerhalb der jüngsten Literatur“ (Anz 2002, 6), die seit etwa 1910 mit ihren Texten an die Öffentlichkeit gedrängt haben.

„Expressionismus“ als Selbstbezeichnung der Epoche

Zu diesem Zeitpunkt freilich tritt der Expressionismus bereits in seine Spätphase ein (vgl. Fähnders 1998, 135). Die Etablierung eines weithin akzeptierten Begriffs für die Bewegung kann demnach auch schon als Krisen- oder Niedergangssymptom gedeutet werden. Überdies entziehen sich wichtige Vertreter dieser Autorengeneration ostentativ der Etikettierung ihres Werks mit diesem Begriff, und viele von ihnen sind längst verstorben, bevor derselbe noch größere Verbreitung und Akzeptanz findet. Der Expressionismus stellt sich somit als eine Epoche der Literaturgeschichte dar, deren Bezeichnung sich in der kulturellen Öffentlichkeit nicht von Beginn an, jedoch noch während ihres Fortdauerns einbürgert, ohne allerdings völlig konsensuell von ihren Vertretern gebraucht zu werden. Für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Epoche ist die Übernahme des Begriffs in die eigene germanistische Terminologie kein Problem. Hierbei sind selbstverständlich die historischen Verwendungsweisen und Diskussionen des Begriffs zu berücksichtigen. Demgegenüber jedoch muss eine aktuelle literaturgeschichtliche Definition des Expressionismus auf der Grundlage der modernen germanistischen Theoriebildung konstruktivistisch eine eigenständige Definition der Epoche leisten.

Expressionismus als literarische Bewegung

In manchen Epochenbegriffen der Literaturgeschichtsschreibung werden außerordentlich heterogene Autoren und Werke zusammengefasst. Solche Kategorien, zum Beispiel Literatur der Reformationszeit oder Exilliteratur, vereinigen teils sehr widersprüchliche ästhetische Formen und ideologische Tendenzen in sich. Sie verbinden Schriftsteller miteinander, die niemals in Kontakt gestanden oder gar gemeinsame poetologische Ideen vertreten, sich vielleicht auch öffentlich auf Grund unterschiedlicher Ansichten heftig befehdet haben. Andere Epochenkategorien beziehen sich auf Gruppierungen von Autorinnen und Autoren, die gemeinschaftlich mit einem bestimmten innovativen ästhetischen Programm an die literarische Öffentlichkeit getreten sind, so etwa die Romantiker. In einem solchen Fall stehen das Selbstverständnis der Schriftsteller und die literarhistorische (Re-)Konstruktion in einem engen Wechselverhältnis zueinander. Der Expressionismus nun lässt sich nicht als eine einzelne Gruppe von Dichtern und Theoretikern mit einer gemeinsamen Programmatik und einem sie verbindenden, kohärenten poetischen Formwillen konstituieren. Vielmehr ist diese Epoche von einer Reihe von unterschiedlichen Zentren mit durchaus nicht gänzlich übereinstimmenden ästhetischen und politischen Zielen geprägt, sogar von einzelnen Personen, die sich demonstrativ keiner der vielfältigen Gruppierungen anschließen. Dennoch lassen sich, wenn man nur ein wenig von den jeweils im Detail divergierenden Bestrebungen dieser oder jener Schriftsteller und der sie umgebenden Zirkel abstrahiert, die Konturen einer literarischen Bewegung mit vielen Gemeinsamkeiten erkennen. Zahlreiche Autoren greifen ab einem bestimmten Zeitpunkt zu denselben innovativen Gestaltungsmustern bei der Abfassung ihrer Texte, denen ähnliche ästhetische und ideologische Vorstellungen zugrunde liegen. Sie organisieren sich darüber hinaus in zumindest vergleichbaren Kreisen, verbinden sich zu Netzwerken und nutzen spezifische Foren, um an die Öffentlichkeit zu treten. Der Expressionismus ist daher als eine Epoche der deutschsprachigen Literatur zu begreifen, deren personelle und textuelle Umrisse zu wichtigen Teilen, wenn auch keineswegs ausschließlich, einer zumindest relativ homogenen dichterischen Bewegung entsprechen.

Programme und Manifeste des Expressionismus

Texte aus vielen Epochen der Literaturgeschichte, insbesondere im 19. und 20. Jahrhundert, sind in hohem Maße von der Programmatik ihrer frühesten Repräsentanten bestimmt. Der literarischen Praxis geht in solchen Fällen eine poetologische Reflexion voraus. Autoren entwerfen in Programmen und Manifesten eine neue Ästhetik, um diese dann anschließend in dichterischen Texten umzusetzen. Dies ist gerade für unterschiedliche Ausprägungen der europäischen Moderne und Avantgarde kennzeichnend, etwa für den italienischen Futurismus und für den Dadaismus (vgl. die Materialsammlungen Asholt/Fähnders 1995; Pörtner 1960f.). Auch zur literarischen Produktion des Expressionismus legen wichtige Vertreter der Epoche eine große Zahl von programmatischen Essays und proklamatorischen Abhandlungen vor (vgl. die Dokumentensammlung Anz/Stark 1982; vgl. auch Best 1976). Dabei handelt es sich allerdings eher um theoretische Texte, welche die Bewegung und ihre ästhetischen Innovationen und Experimente begleiten, als um Manifeste, auf deren vorgängiger Grundlage die Autorinnen und Autoren erst eine literarische Praxis ausbilden (vgl. Stark 1997, 239). Zwar liegen aus der Zeit um 1910 durchaus einige programmatische Aufsätze von Repräsentanten der sich eben entwickelnden, neuen literarischen Bewegung vor. Kurt Hiller zum Beispiel veröffentlicht eine Reihe von Artikeln – etwa über Die Jüngst-Berliner und den Begriff Expressionismus –, in denen er eine Selbstverständigung der jungen Schriftstellergeneration über ihre Anliegen und Ziele zu unternehmen versucht (vgl. Anz/Stark 1982, 33–37). Andere Autoren beschäftigen sich in kunsttheoretischen Traktaten mit der jüngsten italienischen Avantgarde, die sich selbst den Namen des Futurismus gegeben hat (vgl. Demetz 1990; Schmidt-Bergmann 1991). Auch liegen Manifeste zu einzelnen Neugründungen von poetischen Zirkeln oder publizistischen Organen der Bewegung vor, beispielsweise Franz Werfels (1890–1945) Werbetext zur Eröffnung der Buchreihe Der jüngste Tag (vgl. Anz/Stark 1982, 359–361). Die zentralen theoretischen Äußerungen expressionistischer Dichter zur Ästhetik und zu den ideologischen Grundlagen ihrer dichterischen Texte datieren jedoch aus den späteren Jahren der Bewegung, unter anderem von Kasimir Edschmid, Paul Hatvani (eig. Paul Hirsch, 1892–1975), Yvan Goll (eig. Isaac Lang, 1891–1950), Kurt Pinthus oder René Schickele (1883–1940). Die Epochenschwelle, mit welcher der Beginn des Expressionismus angesetzt werden kann, wird daher weniger von programmatisch-poetologischen als vielmehr von ästhetisch innovativen dichterischen Texten sowie von der Etablierung neuer Organisations- und Publikationsformen durch die jungen Autoren der Bewegung im Sozialsystem Literatur markiert. Es ist daher typisch, dass es sich bei einem der wirkungsreichsten Dokumente des frühen Expressionismus, der 1912 von Kurt Hiller publizierten Anthologie Der Kondor, um eine Sammlung von 97 Gedichten handelt, die den neuen ästhetischen Formwillen der jungen Generation praktisch illustrieren (vgl. Stark 1996).

Epochenüberlappungen um 1910

Manche literarhistorische Epochen dominieren einen größeren Zeitraum der Geschichte der Poesie, zum Beispiel das Barock oder der Bürgerliche Realismus. Andere Epochen überschneiden sich oder laufen nebeneinander her. Das hängt entweder mit den extremen, jedenfalls im Moment nicht zu vereinbarenden Gegensätzen zwischen unterschiedlichen Texten einer gewissen Zeit und ihren Merkmalen zusammen, etwa im Falle der Exil- und der NS-Literatur. Oder aber die Literaturgeschichtsschreibung hat noch nicht den notwendigen historischen Abstand zu den einzelnen Texten, Programmen, Ideen, Gestaltungsweisen und Personen gewonnen, um stark genug von ihnen abstrahieren und größere, übergreifende Einheiten bilden zu können. So sind für die unterschiedlichen Ausprägungen des literarischen Lebens um 1900 zahlreiche Epochenkategorien gängig, unter anderem Jugendstil, Décadence, Fin de siècle oder Symbolismus – und nicht zuletzt auch der Begriff Expressionismus. Zwar ist in der Forschung versuchtworden, diese Epoche in das größere Konzept einer Literatur der Lebensphilosophie zu integrieren. Diesem Modell zufolge ist die Dichtung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu weiten Teilen von einer Verherrlichung der vitalen Kräfte der Natur und des kreatürlichen Lebens geprägt (vgl. Lindner 1994). Allerdings hat sich dieser bemerkenswerte Vorschlag nicht durchsetzen können. Es wird also vermutlich noch lange Zeit dauern, bis die Geschichtsschreibung mit dem erforderlichen zeitlichen Abstand für das 20. Jahrhundert Epochenkonzepte entwickelt, in denen, wie im Falle der Termini Mittelalter oder frühe Neuzeit, immens inhomogene und zeitlich weit ausgedehnte Perioden der Historie zusammengefasst werden.

Geringe öffentliche Präsenz des Expressionismus

Die gegenwärtige Auseinandersetzung mit dem Expressionismus als einer Epoche von vielleicht anderthalb Jahrzehnten verdankt sich demnach maßgeblich dem Unvermögen des Menschen, das (noch) nahe Liegende mit ausreichender Distanz zu betrachten. Daraus ergibt sich auch die Konsequenz, dass keinesfalls alle Autoren, die während der 1910er und der frühen 1920er Jahre literarisch in der Öffentlichkeit präsent sind, dem Expressionismus zugerechnet werden können, im Gegenteil. Ein großer Teil der in jenen Jahren abgefassten und publizierten literarischen Texte, die heute noch dem Kanon angehören, wird üblicherweise nicht dem Expressionismus subsumiert. Diese Epoche ist eben eine unter mehreren ihrer Zeit, die nebeneinander herlaufen und sich überlappen. Gerade diese Jahre sind in der Literaturgeschichte von einer außergewöhnlichen Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen gekennzeichnet. So ist zum Beispiel der bedeutendste Vertreter des Naturalismus Gerhart Hauptmann (1862–1946), dessen skandalumwitterte, ästhetisch wegweisende literarische Anfänge in die Zeit um 1890 zurückreichen, nach wie vor in der kulturellen Öffentlichkeit präsent und erhält 1912 den Nobelpreis für Literatur. Mehr noch, das breitere publike Bild der aktuellen Dichtung wird in den Jahren nach 1910 nicht von Expressionisten dominiert oder auch nur maßgeblich geprägt, sondern von den Autoren der vorangehenden Epochen, etwa von den Décadence-Schriftstellern Arthur Schnitzler (1862–1931) oder Hugo von Hofmannsthal (1874–1929), von Hermann Hesse, Heinrich Mann (1871–1950) oder Rainer Maria Rilke (1875–1926). Der Expressionismus dagegen findet lange beinahe keinerlei Beachtung in der verbreiteten Tagespresse und in den etablierten literarischen Zeitschriften (vgl. Schacherl 1957, 95). Die Resonanz auf die ästhetischen und ideologischen Neuerungen der jungen Künstler ist im eingespielten Kulturbetrieb gering, weil diese eine eigenständige, nach außen hin relativ abgeschlossene Rand-, Sub- oder Gegenkultur ausbilden (vgl. Anz 2002, 24). Die überragende Bedeutung, die der Epoche und ihren Repräsentanten in der heutigen Literaturgeschichtsschreibung zukommt, steht somit in scharfem Kontrast zur zeitgenössischen, kaum vorhandenen Wahrnehmung der Bewegung in der größeren Öffentlichkeit.

Bedingte Zugehörigkeiten zur expressionistischen Generation

Darüber hinaus sind zwar viele Autoren des Expressionismus Angehörige der zwischen ungefähr 1885 und 1890 geborenen und um 1910 nach geistiger und materieller Eigenständigkeit strebenden Generation. Aber keineswegs sind alle Schriftsteller dieser Jahrgänge mit ihren poetischen Werken und deren ästhetischen und ideologischen Grundlagen der Epoche zuzuordnen. Zahlreiche wichtige Autoren genau dieser Generation gehen poetisch, politisch und persönlich gänzlich andere Wege als ihre expressionistischen Zeitgenossen. Hierzu zählen beispielsweise die Romanciers Lion Feuchtwanger (1884–1958) und Arnold Zweig (1887–1968), der Journalist, Essayist, Erzähler und Lyriker Kurt Tucholsky (1890–1935) oder der klassizistische Lyriker und Dialektdichter Josef Weinheber (1892–1945). Ferner sind auch partielle Affinitäten zur Programmatik des Expressionismus oder eine bloß zeitweilige Teilnahme einzelner Autoren an der Bewegung zu beobachten. So steht etwa Ernst Blass (1890–1939) während seiner Berliner Jahre bis 1913 in intensivem Kontakt und Austausch mit unterschiedlichen avantgardistischen Kreisen und veröffentlicht poetisch wie ideologisch radikale Lyrik in einschlägigen neuen Zeitschriften des Expressionismus. Nach seiner Übersiedlung nach Heidelberg schließt er sich jedoch dem Ästhetizismus eines Stefan George (1868–1933) und dem Klassizismus eines Paul Ernst (1866–1933) an, kehrt also zu einer zu diesem Zeitpunkt durch die jüngere, nämlich Blass‘ eigene Autorengeneration längst überholten Ästhetik zurück und wird dafür von früheren Weggefährten in der preußischen Metropole weidlich verspottet (vgl. Reinthal 2000, 83f. u.ö.). Hans Fallada (eig. Rudolf Ditzen, 1893–1947), nach seinem Welterfolg Kleiner Mann, was nun? (1932) der wohl populärste Repräsentant der Neuen Sachlichkeit, verfasst in jungen Jahren eine Reihe von erzählenden Texten, die unzweifelhaft dem Expressionismus zuzurechnen sind. Dazu zählt beispielsweise seine erste selbstständige Publikation, ein Pubertäts-Roman mit dem Titel Der junge Goedeschal (1920), der den Abstieg eines Jünglings aus besten bürgerlichen Verhältnissen in Kriminalität und Wahnsinn darstellt. Schließlich ist die Zugehörigkeit einiger wichtiger Autoren zur Epoche seit Jahrzehnten heftig umstritten. Hier ist vor allem an den Prager Schriftsteller Franz Kafka (1884–1924) zu erinnern, der von manchen Literarhistorikern als zentraler Repräsentant des Expressionismus angesehen wird, während andere eine solche Einordnung strikt ablehnen. Wenn man freilich Epochenbegriffe ernsthaft als heuristische Konstrukte begreift, verliert dieser Dissens seine Schärfe. Die Texte Kafkas unterscheiden sich in einigen Aspekten signifikant von poetischen Erzeugnissen anderer Vertreter der Bewegung. So mangelt es ihnen fast durchgängig an der für die Epoche typischen hypertrophen Rhetorik. Dennoch tragen sowohl das Werk als auch die spezifische Positionierung Kafkas innerhalb des literarischen Lebens deutliche Züge des Expressionismus. Der Schriftsteller verkehrt in den Kreisen der zentralen Repräsentanten der Bewegung innerhalb Prags. Gleiches gilt für den verlegerischen Kontext der von ihm selbst zu Lebzeiten veröffentlichten Texte. Auch die Themen seiner Werke sind charakteristisch für die Epoche, etwa der Vaterkonflikt in Das Urteil (1916), die Unmenschlichkeit der entfremdeten modernen Existenz in Die Verwandlung (1916) oder die Macht der wuchernden Bürokratien in Das Schloß (1926).

Vorläufer der Expressionisten

Bei jeder literarhistorischen Rekonstruktion einer Epoche gesellen sich zu denjenigen Autoren, die derselben nur bedingt zuzurechnen sind, auch deren Vorläufer. Im Fall des Expressionismus ist zuallererst Frank (eig. Benjamin Franklin) Wedekind (1864–1918) zu nennen. Schon etliche Jahre vor dem ersten öffentlichen Auftreten der Expressionisten setzt er sich mit der unüberbrückbar scheinenden Kluft zwischen den Kräften des kreatürlichen Lebens und der in Konventionen erstarrten bürgerlichen Gesellschaft auseinander (vgl. Martens 1971, 110). In vielen seiner Texte geißelt er die Avitalität, die Farblosigkeit, das schematische Denken und das Sicherheitsstreben des Spießers und stellt dem Typus des gründerzeitlichen Philisters Figuren von elementarer Lebenskraft gegenüber (vgl. Martens 1971, 112). Als zweite herausragende Vorläuferin, in späteren Jahren auch zentrale Repräsentantin des Expressionismus gilt die Dichterin Else (eig. Elisabeth) Lasker-Schüler (1869–1945). Bereits 1902 veröffentlicht sie ihre erste Gedichtsammlung mit dem Titel Styx. Diese enthält, ebenfalls vorausweisend auf die poetische Revolution um 1910, Lyrik von ungebändigt lebensbejahender Leidenschaftlichkeit. Die Autorin literarisiert in ihren Gedichten gegen das Zeitübliche ein ungestümes, rational nicht gezügeltes, sinnlich-vitales Begehren. Sprache, Metaphorik und formale Gestaltung dieser Texte erscheinen weit über das um die Jahrhundertwende Konventionelle hinaus dynamisiert, gesteigert und verdichtet (vgl. Martens 1971, 116f.). Während Wedekind und Lasker-Schüler, die beide etwa zwei Jahrzehnte älter sind als die meisten Expressionisten, schon um 1900 mit den stilistischen Usancen der Literatur ihrer Zeit, des Impressionismus und des Fin de siècle brechen, verbleiben die frühen Versuche vieler Schriftsteller der jüngeren Generation weitgehend innerhalb der herrschenden Strömungen jener Jahre. Dies lassen beispielsweise die ersten überlieferten Texte von Georg Heym (1887–1912), Georg Kaiser (1878–1945), Reinhard Johannes Sorge (1892–1916), Ernst Stadler (1883–1914), Carl Sternheim (1878–1942) oder Georg Trakl (1887–1914) überdeutlich erkennen (vgl. Martens 1971, 127).

München als Beispiel

Die Vielfalt des literarischen Lebens um 1910 in Stil, literarischer Programmatik und ideologischer Orientierung lässt sich beispielhaft an der damaligen Situation in München veranschaulichen (vgl. Faul 2003, 5). Die Stadt ist in dieser Zeit ohne jeden Zweifel eines der bedeutendsten Zentren der deutschsprachigen Moderne. Zahlreiche anerkannte wie auch aufstrebende Künstler leben, arbeiten und wirken um die Jahrhundertwende in Bayerns Hauptstadt. Hier werden die beiden zentralen publizistischen Organe des Jugendstil herausgegeben, Jugend (1896–1940) und Die Insel (1899–1902). Gleichzeitig erscheint vor Ort die wichtigste deutsche Satirezeitschrift Simplicissimus (1896–1944). Einige der bedeutendsten Komiker, Humoristen und Kabarettisten der Zeit sind in München ansässig, unter ihnen Karl Valentin (eig. Valentin Ludwig Fey, 1882–1948), Joachim Ringelnatz (eig. Hans Bötticher, 1883–1934), zeitweise auch Oskar Panizza (1853–1921). In der Stadt ist darüber hinaus der elitäre Kreis um Stefan George zu Hause. Ferner beherbergt sie Schriftstellerinnen und Schriftsteller so unterschiedlicher poetischer Provenienz und ästhetischer Ausrichtung wie Ricarda Huch (1864–1947), Annette Kolb (1870–1967), Thomas Mann (1875–1955) und den bereits erwähnten Frank Wedekind, einige Jahre auch Rainer Maria Rilke. Teils können diese Autoren Kategorien wie Impressionismus, Neuromantik oder Symbolismus zugerechnet werden, teils scheinen sie sich mit ihren vielschichtigen Oeuvres den üblichen Epochenbezeichnungen der Literaturwissenschaft gänzlich zu entziehen. Schließlich gibt in München der konservative Publizist Karl Muth (1867–1944) die katholisch-reaktionäre Zeitschrift Hochland (1903–1941) ebenso heraus wie am Ort Ludwig Thomas (1867–1921) Heimatromane und -erzählungen entstehen. Zugleich ist die Stadt ein Zentrum der modernen Malerei, in der die Künstlervereinigung „Der Blaue Reiter“ gegründet wird und Aufsehen erregende avantgardistische Ausstellungen in Szene setzt (vgl. Schmitz 1990). Aber auch junge innovative Schriftsteller wirken in München. So scharen sich um Franziska zu Reventlow (1871–1918), später um Erich Mühsam (1878–1934) zahlreiche Bohemiens und Caféhaus-Literaten. Nach und nach gesellen sich zu ihnen eine Reihe von Autoren, die dem Expressionismus zuzurechnen sind oder der Bewegung wenigstens nahe stehen. Zu ihnen zählen Johannes R(obert) Becher (1891–1958), Hans Harbeck (1887–1967), Emmy Hennings (1885–1948), Klabund (eig. Alfred Henschke, 1890–1928), Karl Otten (1889–1963) und Gustav Sack (1885–1916), die sich regelmäßig in ihrem Stammlokal, dem Schwabinger „Café Stephanie“ begegnen (vgl. Faul 2003, 5f.).

Epochenbegriffe „Moderne“ und „Avantgarde“

Um eine solche Fülle der Tendenzen, Strömungen, Stilrichtungen, Autoren und Werke der Literatur um 1900 doch unter einer gemeinsamen Kategorie zusammenfassen zu können, sind von der Forschung immer wieder die Begriffe Moderne und Avantgarde als übergreifende Epochenbezeichnungen lanciert worden. Allerdings variiert der Bedeutungsumfang dieser Termini von Fall zu Fall enorm. Wahlweise ist auch etwas präziser von ästhetischer oder literarischer Moderne – in Absetzung vom sozialgeschichtlichen Prozess der Modernisierung seit der Aufklärung – und von historischer Avantgarde die Rede – im Gegensatz zu innovativen künstlerischen Ausdrucksformen der Gegenwart (vgl. Fähnders 1998). Kombinationen der Begriffe mit weiteren Epitheta wie beispielsweise in den Kategorien einer Wiener oder einer Berliner Moderne (vgl. Wunberg 1981; Schütte/Sprengel 1987) verschärfen die terminologischen Unklarheiten zusätzlich. Außerdem handelt es sich bei diesen groß angelegten Epochenvorschlägen tendenziell nur um Rahmenkonzepte, die – anders als das erwähnte Konzept eines Zeitalters der Lebensphilosophie – kaum stichhaltige gemeinsame Merkmale der Moderne oder der Avantgarde zu formulieren vermögen. Unter einem einheitlichen terminologischen Nenner werden in diesen Konzeptionen dann wieder die bekannten Bewegungen und Strömungen jener Jahrzehnte vom Naturalismus bis zum Expressionismus und Dadaismus abgearbeitet.

Ästhetische/ literarische Moderne

Als Konsens innerhalb der intensiven und kontroversiellen Forschungsdiskussionen (vgl. Fricke/Müller/Weimar 1997/2003, 2, 620–624) kann gelten, dass der Beginn der (literarischen) Moderne mit den 1880er Jahren anzusetzen ist. (Das Konzept einer ästhetischen Moderne hingegen, die mit der Romantik anhebt, soll, da es sich bislang kaum hat behaupten können, hier undiskutiert bleiben, vgl. z.B. Kemper 1997; Vietta 1992; Vietta 2001, 33–37.) Im Naturalismus vollzieht sich – dies besagen die Modelle einer um 1880 einsetzenden literarischen Moderne – die Wendung gegen den Bürgerlichen Realismus, der zu der Lebenswelt der sich ausdifferenzierenden Industriegesellschaft in ein scharfes Missverhältnis geraten ist. Die veränderte Erfahrung der modernen Wirklichkeit, insbesondere in den Großstädten, ist auf der Grundlage der traditionellen, metaphysisch fundierten Konzepte intellektuell und ästhetisch nicht mehr adäquat zu verarbeiten. Die Literatur orientiert sich daher am mutmaßlichen Träger des technischen und sozialen Fortschritts, an den Naturwissenschaften. Sie erschließt sich hierdurch auf der einen Seite neue Erfahrungsbereiche, zum Beispiel die materielle Not der Industriearbeiter. Andererseits entwickelt sie neue Darstellungsweisen, etwa die Montage-Technik oder den Inneren Monolog. Gleichzeitig wird mit der Ausrichtung an der naturwissenschaftlichen Fortschrittsideologie sozusagen ein Automatismus der Innovation freigesetzt. Wer modern bleiben will, muss ständig etwas Neues erfinden. In Überbietung des rasch von wiederum jüngeren Autoren als bereits überholt empfundenen Naturalismus formieren sich weitere literarische Strömungen um 1900, unter ihnen der Impressionismus, der Jugendstil, die Neuromantik und die Décadence. Zutreffend bezeichnet die Forschung dieses Nach- und Nebeneinander unterschiedlicher, schwer voneinander abgrenzbarer Bewegungen und Tendenzen als Stilpluralismus des Fin de siècle, also der Jahrhundertwende (vgl. Fähnders 1998, 90–93). Die zum Prinzip erhobene Innovation fördert immer neue und andere poetische Gestaltungsweisen, Themen und Bezüge zu spezifischen Strängen der literarischen Tradition zu Tage. Teil der geradezu panischen Suche nach Neuem ist ferner die schroffe Ablehnung der forcierten Nachahmung der Wirklichkeit des Naturalismus und Impressionismus in dezidiert antimimetischen Richtungen wie dem Symbolismus. Die Kunst verzichtet, so weit es irgend möglich ist, auf die Referenz zu einer als zutiefst mangelhaft empfundenen Welt.

Moderne und Expressionismus

In der ostentativen Absetzung vom Fortschrittsdenken der Naturwissenschaften steht eine solche Position bereits dem Expressionismus nahe. Dieser setzt sich um 1910 vehement von allen bisherigen Strömungen und Ausprägungen der Moderne ästhetisch und ideologisch ab. Der Bruch der Bewegung mit der literarischen Tradition lässt einen gewichtigen Teil der Forschung hier den Beginn der Avantgarde ansetzen (vgl. z.B. Fähnders 1998), während in anderen Darstellungen die Moderne sich bis in die Zeit des Nationalsozialismus oder gar bis in die unmittelbare Gegenwart erstreckt (vgl. z.B. Kiesel 2004).

Bruch mit den Naturwissenschaften

Wichtiger als diese unterschiedlichen und stets nur vorläufigen Periodisierungen ist jedoch die Einsicht in die Radikalität, mit der sich die neue Generation der Expressionisten gegen die ältere literarische Moderne, ihre Konzepte, ihre Poetik und ihre Repräsentanten wendet. Vor allem verkehren die jungen Autoren den Fortschritts- und Machbarkeitsglauben der Naturalisten und vieler anderer Vertreter der Moderne in eine massive, ja zerstörerische Kritik an Naturwissenschaft und technischer Entwicklung (vgl. III.3.). Ein illustratives Beispiel für diesen Bruch ist die Fiktionalisierung des Arztberufes in Texten des Fin de siècle auf der einen und des Expressionismus auf der anderen Seite. Viele Schriftsteller der Jahrhundertwende literarisieren in Erzählungen oder Dramen Missstände im medizinischen Milieu. So finden sich die fehlende Rücksicht auf die psychische Befindlichkeit eines Patienten bei der Behandlung oder der in die Ärzteschaft eindringende Antisemitismus thematisiert, etwa in Arthur Schnitzlers Professor Bernhardi (1912). Die fiktional artikulierte Kritik an einem Berufsstand, an den von ihm getragenen Institutionen und an dessen wissenschaftstheoretischen Grundlagen wird allerdings stets maßvoll und dezent geäußert. Das Vertrauen in eine prinzipielle Verbesserbarkeit der Techniken der Medizin und der sie tragenden Menschen erscheint niemals vollkommen aufgegeben. Der Expressionismus dagegen führt immer wieder das erbarmungslose Scheitern von Ärzten in ihrem Beruf vor, die selbst mehr der Hilfe bedürftig zu sein scheinen, als dass sie eine solche ihren Patienten angedeihen lassen könnten. Markante Beispiele dafür bilden die Erzählung Doktor Bürgers Ende (1913) von Hans Carossa (1878–1956) und insbesondere Gehirne (1916) von Gottfried Benn (1886–1956), ein Novellenzyklus um einen Arzt namens Rönne (vgl. Müller-Seidel 1994, 26–29). Freilich wendet der Expressionismus sich nicht bloß inhaltlich, sondern auch formal von der älteren Moderne ab. Eine Dichtung, welche ein naturwissenschaftlich-technisch fundiertes Weltbild als Grundlage brüsk von sich weist, kann sich konsequenterweise nicht der literarischen Mittel der nuancenreichen poetischen Wiedergabe der Realität bedienen, die etwa den Impressionismus leitet. Die vehement fortschrittskritische Ideologie der Bewegung fordert dazu heraus, angemessene, radikal neue Gestaltungsweisen für die Dichtung zu entwickeln.

Bruch mit der Bürgerlichkeit

Der Bruch des Expressionismus mit der älteren Moderne ist des Weiteren als radikale Abkehr von einer bürgerlichen Kunst zu verstehen. Die in jenen Jahren etablierten Schriftsteller gehen zur Subsistenz ihres Lebensunterhaltes häufig einem gesellschaftlich hoch geachteten Brotberuf nach, etwa als Arzt oder als Beamter, und arbeiten nur nebenbei literarisch. Andere Dichter, denen die Einkünfte aus ihren Publikationen ein ausreichendes Einkommen bescheren, pflegen eine durchaus bürgerliche Existenz. Unter den Expressionisten hingegen sind eine Reihe von Künstlern zu finden, die trotz hervorragender Ausbildung programmatisch auf ein gesichertes Dasein in einem akademischen Beruf, auf die Gründung eines Hausstandes verzichten und einen massiven sozialen Abstieg bewusst in Kauf nehmen (vgl. III. 1.). Andere Autoren treten nach dem Studium in einen bürgerlichen Beruf ein, fiktionalisieren jedoch Wunschbilder einer völlig anderen Lebensweise in ihren Texten. Dabei lassen sich drei dominante Rollenbilder im Selbstverständnis der Dichter erkennen. Erstens stilisieren sich viele Expressionisten literarisch zu Narren, die in ihrem unangepassten und karnevalesken Verhalten kompromisslos die Spießbürgerlichkeit verneinen. Zweitens zeichnen viele Autoren ein Bild des Künstlers als tragisches Genie und Ausnahmemensch, der an den starren Konventionen der philiströsen Gesellschaft und in der Folge auch am mangelnden Publikum für seine Werke scheitert. Drittens sehen viele von ihnen sich in der Rolle eines Tatmenschen, der auf revolutionäre soziale Veränderungen zielt (vgl. Rothe 1979, 11–46). Trotz aller bewusst inszenierten Diskontinuitäten zwischen den älteren bürgerlichen Schriftstellern und der jüngeren Generation von Autoren lassen sich doch manche Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen in der öffentlichen Darstellung und in den Formen der Vergesellschaftung erkennen. So bleibt das Café in den Metropolen des deutschsprachigen Raums nach wie vor ein wichtiger Ort der literarischen Kommunikation und Netzwerkbildung (vgl. Pachter 1983).

Expressionismus und Avantgarde

Bei allen Differenzen hat sich in der Forschung doch ein Konsens über eine Reihe von Bestimmungsstücken im Verhältnis von Expressionismus und Avantgarde herauskristallisiert (vgl. z.B. Anz 2002, 14 u.ö.). Wie auch immer die Avantgarde im Einzelnen definiert wird – dies ist zuallererst festzuhalten –, der Epochenbegriff des Expressionismus ist durch die Einbindung in diese größere Periode der Literaturgeschichte vorderhand nicht verabschiedet. Seine Zugehörigkeit zur Avantgarde ist im Widerspruch zu älteren, gegenteiligen Positionen (vgl. Bürger 1974) nicht mehr zweifelhaft. Der Expressionismus ist fraglos als ein Teil jener vielfältigen Strömungen in der Kunst des frühen 20. Jahrhunderts zu begreifen, welche sich radikal gegen die ältere bürgerliche Kultur und ihren ästhetischen wie ideologischen Normenkanon wenden (vgl. Murphy 1999). Der Terminus der Avantgarde – ursprünglich ein militärischer Begriff zur Bezeichnung der Vorhut einer Kampftruppe (vgl. Böhringer 1978) – umfasst theoretische Reflexionen wie auch die kreative Praxis auf allen Gebieten der Kunst von der Malerei über die Musik bis hin zur Dichtung. Avantgardistische Bewegungen lassen sich in nahezu allen europäischen Staaten von Portugal bis zum Russischen Zarenreich nachweisen (vgl. Hardt 1989). Der Begriff Expressionismus bezieht sich dagegen vor allem auf die Phänomene der bildenden Kunst und der Poesie in Mitteleuropa, zwischen denen sich vielfältige Parallelen in Werkgestaltung wie öffentlicher Inszenierung beobachten lassen (vgl. z.B. Mönig 1996). Die deutschsprachige Literatur dieser Epoche ist somit als ein wichtiges Moment einer internationalen kulturellen Erneuerungsbewegung zu begreifen (vgl. Piechotta/Wuthenow/Rothemann 1994). Sie bleibt freilich ebenso kurzlebig wie die vorangehenden Perioden der ästhetischen Moderne und wird alsbald von wiederum anderen Innovationstendenzen überholt. Kaum ein Jahrzehnt nach dem vehementen Bruch des deutschen literarischen Expressionismus mit den älteren Strömungen in Kunst und Poesie erklären ihn die Vertreter einer erneut jüngeren Generation von Schriftstellern für verbraucht und nicht mehr zeitgemäß – so beispielsweise Richard Huelsenbeck (1892–1974) in seinem Dadaistischen Manifest (vgl. Anz/Stark 1982, 75–77). Vertreter nahezu jeder neuen avantgardistischen Bewegung setzen sich massiv, teils sogar rabiat von ihren Vorgängern ab und führen gleichwohl in vielerlei Hinsicht deren ästhetische Innovationen fort. So sind die für den Dadaismus (vgl. z.B. Berg 1999) unter anderem typische antibürgerliche und antihumanistische Polemik, seine Verherrlichung der Kräfte des natürlichen Lebens, sein Kult der Unvernunft in gewisser Weise als eine radikalisierte Fortführung der Ideen des Expressionismus zu sehen. Ähnliches gilt für den seit dem Ende der 1910er Jahre vor allem im frankophonen Raum hervortretenden Surrealismus und dessen Interesse für die irrationalen Anteile der menschlichen Psyche, für das Unbewusste sowie für dessen antimimetische Ästhetik und die Tendenz zur Aufhebung der Differenz von Kunst und Leben. Dennoch sind die Unterschiede in der Ästhetik und in den weltanschaulichen Positionen markant genug, um diese diversen Strömungen der Avantgarde hinreichend scharf voneinander trennen zu können. So wäre es etwa den allermeisten Expressionisten bei aller Skepsis gegenüber der bürgerlich erstarrten und von der Werbung missbrauchten Sprache unmöglich gewesen, so wie die Dadaisten alle gewohnten Regeln und Konventionen der Grammatik und Syntax in ihren literarischen Texten völlig hinter sich zu lassen.

Periodisierung des Expressionismus

Obwohl sich bereits während der 1910er Jahre mit dem Dadaismus und dem Surrealismus avantgardistische Nachfolge-Bewegungen des Expressionismus formieren und sich mit der Neuen Sachlichkeit eine dezidierte Gegenströmung zu ihm ausbildet (vgl. Becker 2000, 1, 97–108), gelten im Allgemeinen die Jahre 1910 und 1925 als die untere und die obere zeitliche Grenze der Epoche. Diese Periodisierung ist mit guten Argumenten zu begründen. In dieser Zeit entstehen und erscheinen die zentralen literarischen Texte, die dem Expressionismus zugeordnet werden können, und finden die wichtigsten dramatischen Werke der Epoche ihren Weg auf die Bühnen. Gleichzeitig handelt es sich hier um die Kernjahre des Bestehens ihrer bedeutendsten Zeitschriften und Buchreihen. Der Erfolg reißt mit dem Aufkommen neuer ästhetischer Tendenzen nicht ab, im Gegenteil. Die zweite Hälfte dieser Periode der deutschsprachigen Literatur erst bringt – auch mit weiteren Neuerscheinungen – den kommerziellen Erfolg für die Expressionisten und ihre breitere Wahrnehmung bei Kritikern, Publikum und in der Wissenschaft. Gerade deswegen ist die geläufige und immer wieder aufgegriffene Rede von einem expressionistischen Jahrzehnt, das rechnerisch ja nur bis 1919 dauern dürfte, problematisch und wird in der neueren Forschung zumeist vermieden.

Untere Epochengrenze

Die Epochenschwelle zum Expressionismus ist nach dem einhelligen Urteil der Forschung um das Jahr 1910 festzusetzen. Als konkrete Kandidaten für den Beginn der Epoche sind die Erscheinungsdaten einer Reihe von außerordentlich wirkungsmächtigen Texten namhaft gemacht worden. Dazu zählen insbesondere die Herausgabe von Filippo Tommaso Marinettis (1876–1944) Manifest des Futurismus am 20. Februar 1909 und die Veröffentlichung des Gedichts Weltende durch Jakob van Hoddis (eig. Hans Davidsohn, 1887–1942) in der Zeitschrift Der Demokrat (1909–1911) am 11. Januar 1911. Die enorme Wirkung dieser Texte auf die jungen Intellektuellen jener Zeit ist unbestritten und durch entsprechende autobiographische Aufzeichnungen gut dokumentiert. Als eines der zentralen Zeugnisse über die Anfänge des Expressionismus gilt Gottfried Benns berühmt gewordene Rede Probleme der Lyrik von 1951 (vgl. Schmidt-Bergmann 1991, 81). Allerdings sind solche Retrospektiven aus der Distanz von vier Jahrzehnten immer auch kritisch auf mögliche Mystifizierungen, Gedächtnislücken und Geschichtsfälschungen hin zu befragen. Anders gesagt, die späteren Erinnerungen von Zeitzeugen, der eine oder andere Text habe dazumal als die eine und absolute Initialzündung für eine ganze literarische Bewegung gewirkt, können lediglich bedingt überzeugen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass eine ganze Reihe von ästhetisch neuartigen und wegweisenden Texten, die seit 1910 erscheinen, auf bestimmte Kreise von jungen Intellektuellen eine enorme Wirkung ausüben und auch als Beginn einer neuen Ära von Kunst und Literatur empfunden werden. Entscheidend ist dabei das Veröffentlichungs-, nicht das Entstehungsdatum. Einige maßgebliche Texte, die in der Frühzeit des Expressionismus publiziert werden, sind schon Jahre zuvor entstanden, so etwa Alfred Döblins erste Erzählsammlung (vgl. V.1.). Mindestens ebenso wichtig wie das Erscheinen, die Wirkung und die produktive Rezeption einiger prototypischer Texte sind für die Fixierung der unteren Epochengrenze die massiven Veränderungen im Sozialsystem Literatur um 1910, welche durch die junge Generation von Schriftstellerinnen und Schriftstellern veranlasst werden. Innerhalb kürzester Zeit entwickeln sich an diversen Orten im deutschsprachigen Raum mehr oder weniger stark organisierte und institutionalisierte, teils auch bloß informelle Kreise junger Autoren mit ähnlichen innovativen Vorstellungen. Im selben Moment entstehen neue Verlage, die sich des Vertriebs und der Verbreitung der Texte dieser Bewegung annehmen, neue Buchreihen, neue Zeitschriften – und mit alledem ein ganz neues Netzwerk von gleich gesinnten Avantgardisten in der Kulturszene. Gleichzeitig beginnt sich ein – wenn auch vorerst kleines, teils selbst künstlerisch produktives – Publikum zu formieren, das sich für die neuen Veröffentlichungen interessiert, vielleicht sogar mehr als für die Publikationen der älteren Modernisten, und somit den weiteren Bestand dieses jungen Sektors am Buchmarkt sichert. Erst in der Zusammenschau all dieser Faktoren ergibt sich eine adäquate Rekonstruktion der Epochenschwelle zum Expressionismus, die nicht allein durch das Erscheinen einiger weniger Texte zu definieren ist.

Obere Epochengrenze

Das Ende der Epoche wird in den Jahren 1920 bis 1925 von expressionistischen Autoren selbst wie auch von Kritikern, die der Bewegung nicht nahe stehen, intensiv diskutiert (vgl. z.B. Brinkmann 1980, 217–223). Eine Reihe von unterschiedlichen Gründen für das Ende dieser Periode der Literaturgeschichte wird namhaft gemacht. Dazu gehören, so paradox dies auf den ersten Blick klingt, der zunehmende materielle Erfolg und die sukzessive Popularisierung expressionistischer Texte (vgl. z.B. Wyrsch 1981 [1922], 165). Die Avantgardisten von 1910 wenden sich anderthalb Jahrzehnte später von ihren eigenen ästhetischen Positionen ab, weil diese in ihren Augen inzwischen verbürgerlicht, zur Konvention, zum Allgemeingut geworden sind. Kasimir Edschmid formuliert spitzzüngig: „[I]ch bin gegen Expressionismus, der heute Pfarrerstöchter und Fabrikantenfrauen umkitzelt.“ (Anz/Stark 1982, 103) Hinzu kommt die sukzessive steigende Konkurrenz durch die jüngeren avantgardistischen Strömungen, die dem Expressionismus den Rang einer modernen und zeitgemäßen literarischen Verarbeitung der aktuellen Wirklichkeit abstreiten. Darüber hinaus wird immer wieder ein Erschlaffen, ein Verschleiß der typischen Gestaltungsmittel der Epoche konstatiert. Schließlich signalisiert für viele Expressionisten auch die politische Entwicklung in Deutschland das Ende der Epoche. Besonders für die linksaktivistischen Autoren der Bewegung gehören die literarischen Gestaltungsweisen, die dichterischen Organisationsformen und die ideologischen Ziele der Bewegung untrennbar zusammen. Die Hoffnungen, die sie an das Ende des Ersten Weltkriegs, den Zusammenbruch der Monarchie und den Aufbau einer kommunistischen Gesellschaft geknüpft haben, erscheinen ihnen mit dem Scheitern der Revolution und der Installierung der Weimarer Republik somit ebenso zerstört wie die gesamte expressionistische Idee (vgl. z.B. Anz/Stark 1982, 108f.). Trotzdem markiert die Mitte der 1920er Jahre keineswegs das definitive oder absolute Ende der ästhetischen und ideologischen Grundpositionen, der charakteristischen Gestaltungsweisen und der Publikationsorgane der Epoche. Manche Schriftsteller der expressionistischen Generation halten noch Jahre, ja Jahrzehnte, vereinzelt gar ihr Leben lang an ihren Stilvorstellungen und an ihren politischen Idealen fest. Die beiden wichtigsten Zeitschriften der Epoche, Der Sturm und Die Aktion (gegr. 1911), stellen erst 1930 respektive 1932 ihr Erscheinen ein.

Binnengliederung der Epoche

Versuche einer Binnenstrukturierung des Expressionismus setzen üblicherweise drei Phasen der Epoche an (vgl. z.B. Fähnders 1998, 135). Die ersten Jahre der Bewegung werden häufig als Frühexpressionismus bezeichnet. Der Terminus zielt auf die ideelle, soziale, organisatorische und publizistische Konstitution der Epoche ab. Hierzu gehören unter anderem die ersten Veröffentlichungen, die Formulierung und Diskussion der grundlegenden ästhetischen und politischen Vorstellungen, die Sammlung in Kreisen und die Etablierung neuer Publikationsorgane. Als signifikantes Ende dieser Frühphase und als Beginn des Kriegsexpressionismus gilt der Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914. Diese historische Zäsur bedeutet gleichzeitig einen tiefen Einschnitt in die Biographien vieler Autoren, weil sie sich zum Wehrdienst melden oder aber eingezogen werden, – und somit auch einen radikalen Eingriff in die poetischen Arbeitsbedingungen und -kontexte dieser Schriftsteller. Dazu kommt eine massive Veränderung der literarischen Themen. Die affirmative oder kritische Auseinandersetzung mit dem Krieg avanciert für lange Zeit zum beherrschenden dichterischen Stoff. Konsequenzen ergeben sich ferner für die Wahl der literarischen Gattungen, sei es zum Beispiel die gelegenheitsbedingte Abfassung von Soldatenliedern – so etwa durch Klabund – oder die intensive essayistische Auseinandersetzung mit den aktuellen Ereignissen. Nicht zuletzt zwingen die veränderten publizistischen Rahmenbedingungen, vor allem die Kriegszensur, zahlreiche pazifistische Autoren – beispielsweise Albert Ehrenstein (1886–1950) oder Yvan Goll – zu einer Emigration in neutrales Ausland, vor allem in die Schweiz. Mit dem Ende des Kriegs und der Revolution von 1918/19 wird der Anfang des Spätexpressionismus angesetzt. Kennzeichnend für diese letzten Jahre der Bewegung sind die zunehmende Breitenwirkung und zugleich die immer schärfer programmatisch formulierte Bankrotterklärung der expressionistischen Literatur. Diese übliche dreiphasige Gliederung der Epoche spielt freilich in der Forschungsdiskussion bloß eine untergeordnete Rolle. Denn eine Periode der Literatur, die ohnehin nur etwa anderthalb Jahrzehnte andauert, braucht nicht zwingend noch in mehrere Unterabschnitte geteilt zu werden.

Möglichkeiten der Epochendefinition

Beinahe unzählige Male ist in der Forschung bestritten worden, dass es überhaupt möglich sei, den Expressionismus angemessen und überzeugend zu definieren (vgl. Brinkmann 1980, 1). Hierfür werden etwa die Äußerungen gewisser Autoren ins Treffen geführt, die sich zu irgendeinem Zeitpunkt dagegen verwahrt haben, ihr Werk oder gar sich selbst als Person der Epoche zugeordnet zu sehen. Freilich leistet die Periodisierung der Literaturgeschichte die Wissenschaft, nicht der Schriftsteller. Viel wichtigere Gründe für jene Skepsis sind lange Zeit allzu einseitige und substantialistische Epochendefinitionen gewesen. Wenn einerseits der Expressionismus allein anhand von spezifischen Kennzeichen einer einzelnen, ganz bestimmten theoretischen Grundlage – zum Beispiel von gewissen stilistischen Gestaltungsmustern oder aber einer gewissen fundamentalen Ideologie – bestimmt wird, beginnen sich in vielen Fällen die Unterschiede zu angrenzenden literarischen Strömungen zu verflüssigen. Wenn auf der anderen Seite ganz bestimmte Merkmale als absolut und unabdingbar notwendige Kennzeichen eines expressionistischen Textes begriffen werden, so finden sich immer Beispiele aus dem Oeuvre eines Schriftstellers der Epoche, die einer solchen Einordnung nicht gehorchen. Der Versuch, den Expressionismus auf der Grundlage einiger weniger, theoretisch zusammengehöriger und zwingend notwendiger Merkmale der ihm subsumierten Texte zu definieren, wird offenkundig der Komplexität dieser literaturgeschichtlichen Periode nicht gerecht. Eine konstruktivistische Eingrenzung des Phänomens verfügt hingegen über die erforderliche Breite des Definitionsansatzes und die gebotene Relativität in der Merkmalbestimmung der Epoche. Sie kann sich dabei auch auf eine gängige literaturgeschichtliche Praxis stützen und berufen, die seit Jahrzehnten Gewinn bringend und innovativ über den Expressionismus forscht und lehrt, obwohl andauernd die Berechtigung dieses Begriffs vehement bestritten wird. In die Definition der Epoche gehen demnach Merkmale ganz unterschiedlicher theoretischer Provenienz neben einander ein. Sie ist sowohl von stil- und ästhetik- als auch ideologiegeschichtlichen Kennzeichen und – inhaltlich betrachtet – von einem „Grundbestand von Handlungsmustern, Geschehensabläufen […] und Rollenfiguren“, von bestimmten Themen, Bildern und Figuren geprägt (Rothe 1979, 7). Dabei muss – und kann – nicht jeder Text, welcher der Epoche zugeschlagen wird, jedes einzelne Merkmal aufweisen, sondern nur hinreichend viele, um ihn als expressionistischen Text zu charakterisieren. Umgekehrt müssen nicht alle Merkmale ausschließlich in Texten dieser einen Epoche nachzuweisen sein, sondern können sich auch in anderen Strömungen der Zeit aufspüren lassen. Dies gilt zum Beispiel für messianische oder utopische Ideen, die sich gleichzeitig in unterschiedlichen Ausprägungen avantgardistischer Literatur finden (vgl. z.B. Gehrke 1990). Typisch für den Expressionismus allerdings ist die spezifische Bündelung von die Epoche charakterisierenden Kennzeichen. Auf einer solchen methodischen Grundlage ist es im Folgenden möglich, eine Reihe von Merkmalen aufzuzählen, welche es erlauben, trotz ihrer je unterschiedlichen Gewichtung und Kombination einen Text dem Expressionismus zuzuordnen.

Einführung in die Literatur des Expressionismus

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