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2. Definition der Epoche

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Fiktionalisierungsleistung

Zuerst einmal ist der Expressionismus durch eine spezifische Leistung hinsichtlich der Fiktionalisierung von Wirklichkeit geprägt. Sein zentrales Thema ist die zeitgenössische Kultur. Er widmet sich Phänomenen der Gegenwart um 1910, und zwar fast durchgängig in negativer Weise, sei es durch Polemik gegen Erscheinungen der Moderne, sei es durch Konstruktion kontrastiver utopischer Gegenwelten. Der Expressionismus ist somit eine literarische Reaktion auf eine tief greifende Gesellschafts- und Kulturkrise (vgl. dazu III. 2. und III. 3.). Die Autoren setzen sich daher intensiv mit Phänomenen wie der rasanten Industrialisierung und ihren Konsequenzen auseinander, mit dem ungezügelten Wachstum der Großstädte und seinen Auswirkungen für den Einzelnen, mit der Verarmung der breiten arbeitenden Massen, mit der Entstehung von als unmenschlich empfundenen Bürokratien, mit der Technisierung des Alltagslebens und mit der einhergehenden Etablierung neuer Medien. Dabei wird das Bürgertum als mutmaßlicher Träger dieser Modernisierungsprozesse zum besonderen Angriffsziel der oft aggressiven literarischen Kritik. Thema vieler Texte ist deshalb der Zwiespalt zwischen dessen fast bedingungsloser Teilhabe an der Fortschrittsideologie und dem materiellen Gewinn daraus hier und einer dem widersprechenden, verbrauchten Moral aus dem 19. Jahrhundert dort. Eingeschlossen in diese Attacken sind die Institutionen des Bürgertums und die staatlichen Einrichtungen. Nicht zuletzt hat die literarische Konstatierung einer problematischen, ja krisenhaften Veränderung der Gesellschaft eine Aktualisierung von Handlungselementen aus der Tradition der christlichen Apokalyptik zur Folge.

Typische Figuren

Die zentralen Themen der Epoche stehen in engem Wechselverhältnis mit dem typischen Personal der expressionistischen Dichtung (vgl. dazu IV. 2.). Hierzu gehört die Figur des wirtschaftlich erfolgreichen, oft gegenüber den Untergebenen ausbeuterischen und zugleich sich sittenstreng gerierenden Spießers. In Widerspruch zu ihm werden Künstler gesetzt, die eine radikale Gesellschaftskritik vertreten. Das Gegensatzpaar von Bürger und Artist wird zugleich häufig mit dem Generationenkonflikt zwischen Vätern und Söhnen identifiziert. Diese Figuren aus der erfolgreichen Mitte der modernen Gesellschaft ergänzen die expressionistischen Autoren durch den Blick auf die sozialen Ränder. Im Zentrum vieler Texte stehen Verlierer, Außenseiter und Ausgestoßene. Die poetische Diagnose einer zeitgenössischen Krise sucht nach deren Symptomen bei denjenigen, die von der Gesellschaft ausgeschlossen worden sind, bei Bettlern, Prostituierten oder Kriminellen. Dazu gesellen sich körperlich und psychisch Kranke. Der Blick auf diese Gruppen schärft die Einsicht in die Fragwürdigkeit und Relativität von vorgeblich eindeutigen bürgerlichen Werten wie Normalität, Anständigkeit und Gesundheit. Die Leiden der Randständigen werden nicht als deren persönliches Schicksal begriffen, sondern als Indikatoren für die zentralen Probleme des Modernisierungsprozesses.

Kognitive Voraussetzungen

In der zeitgenössischen Entwicklung der Gesellschaft sehen viele Expressionisten jedoch nicht bloß eine massive äußere Bedrohung des Menschen. Das Individuum hat nicht allein mit der Angst vor Krankheit oder Versagen und einem daraus folgenden sozialen Abstieg zu kämpfen. Die industrielle Entwicklung, die technischen und medialen Innovationen nehmen vielmehr massiv Einfluss auf den Wahrnehmungsapparat und das Erkenntnisvermögen des Einzelnen (vgl. Vietta/Kemper 1997). Die gerade in der Großstadt überaus rasch voranschreitenden Veränderungen – ihr rasches Wachstum, die Elektrifizierung, das Entstehen von unkontrollierbaren Verkehrsströmen – können von den Menschen nur noch schwer kognitiv verarbeitet werden. Sie führen zu einem Gefühl der Instabilität bei der Verarbeitung der sinnlichen Eindrücke, das literarisch ebenso thematisiert wird wie die rasanten äußerlichen Wandlungsprozesse selbst. Die Rasanz der Entwicklungen wird gar als ständige Beschleunigung des gesamten Lebens wahrgenommen, für die nach einer adäquaten poetischen Umsetzung gesucht wird. Die unausgesetzte Akzeleration aller Sinneseindrücke führt schlussendlich eine Dissoziation des Ich herbei. Die Einheit des Subjekts zerbricht unter dem reizüberflutenden Bombardement mit den unterschiedlichsten starken Wahrnehmungen. Äußerlich wird das Individuum durch die Einbindung in maschinelle Abläufe am Arbeitsplatz wie in den Massenverkehrsmitteln oder im Kino entmenscht, innerlich durch den Verlust eines homogenen Erkenntnisvermögens. Die Fiktionalisierung der Herabwürdigung des Subjekts zum Tier oder zum Ding liegt konsequenterweise ebenso nahe wie umgekehrt die poetische Vermenschlichung von Fauna, Flora und leblosen Gegenständen.

Typische Gestaltungsweisen

Für eine angemessene Literarisierung ihrer radikalen Gesellschaftskritik suchen die Autoren der Epoche nach spezifischen Gestaltungsweisen (vgl. IV. 2.). Da die Expressionisten den Anspruch verfolgen, eine gänzlich neue Deutung der gegenwärtigen Welt zu leisten, greifen sie zu unterschiedlichen innovativen, teils experimentellen Formen der poetischen Darstellung. Zu den profiliertesten neuen Gestaltungsmustern gehört auf dem Gebiet der Lyrik die Reihentechnik. Disparate, scheinbar unzusammenhängende Fragmente aus der Wirklichkeitswahrnehmung erscheinen unverbunden aneinander gereiht. Diese Schreibstrategie verarbeitet die Überforderung des Subjekts durch das Chaos an Wahrnehmungen in der modernen Großstadt und die daraus hervorgehende Ich-Dissoziation. Im Dienste einer der zeitgenössischen Moderne adäquaten Fiktionalisierung von Realität steht auch die demonstrative Sprengung eingespielter sprachlicher und ästhetischer Normen. Wessen Erkenntnisvermögen tief greifend durch die übermäßig auf ihn einstürzenden Eindrücke gestört ist, der besitzt nicht mehr mit Sicherheit in jedem Moment die Vollmacht über die korrekte grammatische oder syntaktische Form seiner Äußerungen. Oder der Reim etwa in einem Gedicht gaukelt mit seinem Gleichklang eine trügerische harmonische Textgestalt vor und muss daher verabschiedet werden. Oder die Logik eines klassischen fünfaktigen Tragödienaufbaus steht zur Brüchigkeit, Zufälligkeit und Sinnlosigkeit moderner Biographien in einem so schneidenden Missverhältnis, dass sie im Stationendrama zugunsten der Aneinanderreihung einer Kette von relativ unzusammengehörigen Szenen aufgegeben wird. Typisch für den Expressionismus ist des Weiteren die Tendenz zur Abstraktion. Einzelheiten in der Darstellung eines Gegenstandes werden dezidiert vernachlässigt, soziale Schichten in ihrer Gesamtheit durch eine Figur repräsentiert. Hierin manifestiert sich eine Absage an die als defizient empfundene Wirklichkeit ebenso wie der Wille zu einem radikalen Blick auf die Moderne, der nicht über einer Beschäftigung mit den Details deren essentielle Krise übersehen möchte. Die Ästhetik schließlich kann nicht mehr als die Lehre vom Schönen begriffen werden. Die Moderne hat für die Sinne keine angenehmen Erfahrungen mehr zu bieten – es sei denn den längst hinfälligen Schein der verlogenen bürgerlichen Poesie. Die jungen Autoren setzen daher ostentativ auf die Verkehrung der bisherigen Werte der Kunst. Sie propagieren und praktizieren eine Ästhetik des Hässlichen, die sich auf die Poetisierung des Abstoßenden, Ekel Erregenden, Widerlichen, Düsteren kapriziert (vgl. z.B. Eykman 1985).

Stilistik und Rhetorik

Im Dienste der effektvollen Vermittlung ihrer modernekritischen Vorstellungen entdecken die Expressionisten das Instrumentarium der Rhetorik wieder für die Poesie. Vor allem die Lehre von der Wirkfunktion des movere, des Bewegens des Publikums, der durch die Mittel der Redekunst gezielt gesteuerten Erregung von Affekten, erhält große Aufmerksamkeit. Wer die Welt tadeln und verändern möchte, benötigt ein passendes Werkzeug für die Verbreitung seiner Kritikpunkte und Erneuerungsideen. Deshalb finden sich in vielen Texten der Epoche in auffällig großer Zahl und außerordentlicher Massierung bestimmte rhetorische Strategien eingesetzt, die von der elocutio, der Lehre vom Redeschmuck, traditionell als besonders dienlich für die Erzeugung von starken Emotionen bei den Rezipienten angesehen worden sind. Dazu zählen unter anderem die Hyperbel (Übertreibung), die Klimax (Steigerung), die congeries (Worthäufung), die exclamatio (Ausruf), der Imperativ oder die Anapher (gleich lautender Beginn mehrerer Sätze nacheinander). Über diese die Affekte stimulierenden Stilmittel hinaus kommen in expressionistischen Texten weitere spezifische rhetorische Techniken zum Einsatz, die besonders geeignet für die literarische Umsetzung der zentralen ideologischen Positionen erscheinen. Die Antithese bietet die Möglichkeit einer sprachlichen Zuspitzung der unlösbaren Widersprüche der Moderne, welche die Expressionisten allenthalben, zum Beispiel im Bürgertum, konstatieren. Die Synekdoche erlaubt es, die inhumane Reduktion eines Menschen auf eine einzelne Eigenschaft oder ein einziges Körperteil, etwa innerhalb eines Klinikbetriebs auf ein krankes Organ ohne Rücksicht auf die Gesamtbefindlichkeit des Patienten, darzustellen. Die Prosopopöie ermöglicht die Verlebendigung von Tieren oder leblosen Gegenständen. Die Synästhesie unterstützt nicht nur die Wirkung eines Textes auf mehrere oder sogar alle Sinne des Menschen, sondern zielt auch, etwa in der forcierten Musikalisierung der lyrischen Sprache, auf die Aufhebung der Grenzen zwischen den Künsten (vgl. III.5.). Besondere Bedeutung gewinnen schließlich alle Formen von Bildlichkeit. Vergleiche, Metaphern oder Allegorien können nicht allein zur wirkungsreichen Fiktionalisierung der verhassten gegenwärtigen Realität dienen. Sie eröffnen vielmehr auch die Möglichkeit einer bildkräftigen Illustration der von den Expressionisten entworfenen poetischen Gegenwelten. Sinnenfällig können sie die für die Bewegung typische, vitalistische Glorifizierung organischer Prozesse, ihren Erdenkult, ihre Diesseits- und Kriegsverherrlichung veranschaulichen (vgl. Martens 1971, 148–166 u.ö.).

Erneuerungs-ideologie

Der rationalismusfeindliche und modernekritische Affekt, der in den Texten des Expressionismus literarisiert erscheint, ruht auf einem ideologischen Fundament, das die Autoren der Epoche mit Intellektuellen anderer Strömungen und Bewegungen der Zeit teilen. Die Grundlage dafür bildet der Vitalismus, die Rückbesinnung auf die kreatürlichen Kräfte der Natur, die durch das in seinen spießigen Normen und seiner Arbeitsmoral leblos gewordene Bürgertum unterdrückt werden (vgl. III. 3.). Der Vitalismus ist gleichermaßen die ideologische Grundlage der seit 1900 weite Kreise ziehenden Lebensreformbewegung wie auch der literarischen Bewegungen des Expressionismus und des Dadaismus. Der Mechanisierung, Technisierung und Maschinensteuerung der modernen Welt werden die urtümlichen Kräfte des Lebens gegenüber gestellt, dem lauten, schmutzigen, verwirrenden Lebensraum der Großstadt die undomestizierten Räume der Natur, dem vernünftigen, rechnenden und kalkulierenden Denken die spontane, ungebändigte Irrationalität und die Hingabe an das augenblickliche Gefühl. Insbesondere für die Expressionisten ergibt sich daraus ein drängendes Interesse an der Vormoderne und ein fast adorativ-neidischer Blick auf außereuropäische, vorzivilisatorische Kulturen. Die Unzufriedenheit mit der eigenen Lebenswirklichkeit provoziert Projektionen einer lebendigeren, natürlicheren Existenz in die Vergangenheit der eigenen Nation oder in die räumlich ferne Gegenwart fremder exotischer Völker. In beiden Fällen jedenfalls setzen die Expressionisten dem eigenen Dasein die Utopie von einem neuen, ganz anderen Menschen entgegen, der die Ketten bürgerlicher Normen und die Zwänge der Moderne zugunsten einer freien Entwicklung seiner Lebenskräfte sprengt. Der direkte oder indirekte Bezug zum Nihilismus und zur Übermenschenlehre des außerordentlich wirkungsmächtigen Philosophen Friedrich Nietzsche (1844–1900) ist in solchen literarischen Erneuerungsideologien stets präsent. Gleichzeitig ist der Widerspruch zur Ich-Dissoziation unübersehbar. Es ist schwer vorstellbar, wie ein völlig aufgelöstes Subjekt aus sich selbst heraus wieder zur Einheit und noch dazu zu einer höheren, lebensvolleren neuen Existenz gelangen soll (vgl. Krause 2000, 41). Zur Lösung dieses Problems beschreiten die Expressionisten sehr unterschiedliche Wege. Manche von ihnen verfolgen zum Beispiel urchristlich inspirierte, messianische Erlösungsideen, andere favorisieren eine Erneuerung der europäischen Gesellschaft aus einer anderen Kultur, viele schließlich wählen den – häufig radikalen – politischen Aktivismus.

Einführung in die Literatur des Expressionismus

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