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1. Teil Ausbruch aus bürgerlicher Sicherheit Eine Kindheit in Nantes (1828–1848)
ОглавлениеDer große imaginäre Reisende Jules Verne, der in der Fantasie jeden Winkel der Erde erkunden wollte, hat sein Leben in drei französischen Städten verbracht: in Nantes, wo er Kindheit und Jugend erlebte, in Paris, wo er ab 1848 Jura studierte und seine schriftstellerische Laufbahn begann, und schließlich in Amiens, wo er ab Mitte 1871 bis zu seinem Tod im Jahre 1905 wohnte. Zusammen bilden sie ein Städtedreieck im Nordwesten Frankreichs, das eng miteinander verbunden blieb, denn auch wenn Verne in Amiens lebte, so riss der Kontakt zu seiner Familie in Nantes nicht ab, und ebenso eng war er durch seinen Verleger Pierre-Jules Hetzel dauerhaft an Paris gebunden.
Nantes, die historische Hauptstadt der Bretagne, liegt an der Loire gut siebzig Kilometer vom Atlantik entfernt und war in jener Zeit eine der bedeutendsten Hafenstädte Frankreichs. Dort wurde Verne am 8. Februar 1828 als erstes Kind des Anwalts Pierre Verne und seiner Frau Sophie geboren. Der Name Verne bezeichnet den Erlenbaum, der sich dementsprechend im Familienwappen findet. Die Mutter, eine geborene Allotte de la Fuÿe, war 27 Jahre alt und stammte aus Morlaix (Bretagne). Der nur ein Jahr ältere Vater Pierre wiederum kam aus Provins, südöstlich von Paris, und war erst 1825 nach Nantes gekommen, und zwar auf Anraten seines dort ansässigen Onkels Alexandre, der ihn auf eine freie Stelle als Teilhaber in einer Kanzlei hingewiesen hatte. Pierre war Jurist in dritter Generation. Das Paar hatte sich 1826 kennengelernt und am 17. Februar 1827 geheiratet.
Nachdem sie eine kurze Zeit im Haus der Eltern Sophies in der Rue Olivier de Clisson Nr. 4 gewohnt hatten, wo Jules geboren wurde, zog die junge Familie bald darauf in das Haus vom Quai Jean Bart Nr. 2, wo sich auch die Kanzlei des Vaters befand. Sechzehn Monate später, am 29. Juni 1829, wurde dann der zweite Sohn Paul geboren, an dessen Seite Jules aufwuchs. Erst acht Jahre später sollten die Eltern ein weiteres Kind bekommen, Anna, auf die noch zwei weitere Töchter, Mathilde und Marie, folgten.
Der berufliche Erfolg des Vaters, der 1854 seine Laufbahn als einer der angesehensten Anwälte der Stadt beenden sollte, verschaffte der Familie finanziellen Wohlstand. Politisch war Pierre monarchistisch eingestellt, religiös gesehen tief katholisch. In seinem Nachlass fanden sich Notizen mit theologischen Überlegungen, die eine tiefe Frömmigkeit bezeugen. Diese sollte sich zwar nicht in dieser Form auf seinen ältesten Sohn übertragen, aber auch Jules Verne blieb zeit seines Lebens der katholischen Moral verpflichtet.
Ebenso gehörte die Kunst zum Alltag der Familie, denn Pierre war vielseitig interessiert, las begeistert Literatur und schrieb selbst Lieder, die in der Familie gesungen wurden, während Sophie Klavier spielte. Sophies Schwester Caroline wiederum war mit dem Maler François Charles Henry de la Celle de Châteaubourg verheiratet, der mit Chateaubriand verwandt war. Die Künste waren damit von Anfang an ganz selbstverständlich mit Jules Vernes Kindheit verbunden und haben dementsprechend breite Spuren hinterlassen. Denn auch wenn er Romanschriftsteller wurde, blieben Musik und Malerei stets in seinem Werk präsent.
Hinzu kam eine Reihe von Umständen, die allesamt dazu geeignet waren, die Fantasie der Kinder zu beflügeln. Ein Onkel der Mutter, den die Kinder Onkel Prudent nannten, war als Kaufmann und Reeder oft in Amerika, vor allem in Venezuela, gewesen und vermochte den Nachwuchs mit Erzählungen aus der Ferne in seinen Bann zu schlagen, wenn sie in seinem Haus in La Guerche-en-Brains bei Nantes die Sommer verbrachten. Mit den Cousins und Cousinen von Jules und Paul kamen mitunter neun Kinder zusammen, die hier unbeschwert miteinander spielen konnten. Darunter befand sich auch die hübsche Caroline Tronson, die Tochter von Sophies Schwester Lise, die Vernes Jugendschwarm werden sollte.
Überhaupt gab die Familiengeschichte der Allotte de la Fuÿes den Kindern allen Anlass dazu, sich in die Vergangenheit hineinzuträumen. Denn sie ging zurück auf einen schottischen Bogenschützen, der für seine Dienste von Ludwig XI. 1462 geadelt wurde und sich in der Nähe von Loudon (damals Anjou) niederließ. Er erhielt die Erlaubnis, einen Taubenturm (frz. fuie) zu bauen, ein Privileg, dass in doppelter Hinsicht repräsentativ für den Adelsstand war, nicht nur weil er Macht und Status bekundete, sondern auch weil Tauben eine beliebte Speise an den adligen Tafeln waren. Und so wurde aus dem einfachen Allott ein Allotte de la Fuÿe.
Und nicht zuletzt bot die florierende Seehandelsstadt Nantes reichlich exotische Reize. Direkt am Elternhaus am Quai Jean Bart entlang floss die Erdre und mündete einen Steinwurf weiter in die Loire vor der bootsförmigen Stadtinsel Feydeau. In unmittelbarer Nachbarschaft lagen schwere Segelschiffe in Doppel- und Dreierreihe am Kai des Hafens. In den 1890 für ein Bostoner Jugendmagazin verfassten kurzen Kindheits- und Jugenderinnerungen erzählt Verne, wie er im Alter von acht Jahren davon träumte, in den Wanten der Schiffe herumzuklettern, und wie er sich einmal auf eines der Boote schlich, als die Wache gerade auf ein Gläschen in eine Taverne gegangen war. Aus dem Lagerraum strömten ihm Gerüche entgegen, in denen sich die Düfte exotischer Gewürze mit demjenigen des Schiffsteers vermischten. Er erkundete das Schiff weiter und konnte der Versuchung nicht widerstehen, ein wenig am Steuerruder zu drehen. Alles sei so faszinierend gewesen, kommentiert er, dass er Wochen auf einem Schiff hätte verbringen können.
Mobilität, die eines der wichtigsten Themen seiner Romane werden sollte, war in jener Zeit noch kaum ausgeprägt, und Reisen war mit hohem zeitlichen und physischen Aufwand verbunden. Von den technisch hochmodernen Dampfschiffen sah man nur wenige, und die Eisenbahn steckte noch in den Anfängen. Daher reiste es sich mit der Fantasie am schnellsten, und mündliche Berichte vermochten eine Faszination zu entwickeln, die man sich im Zeitalter der visuellen Verfügbarkeit kaum mehr vorstellen kann. Was konnte es in dieser Hinsicht Faszinierenderes geben als einen Handelshafen an der Loire, an dem man das Meer spürte, auch wenn es noch knapp 70 Kilometer entfernt war?
1838 kaufte der Vater eine Sommerresidenz im wenige Kilometer entfernten und am rechten Loire-Ufer gelegenen Chantenay. Von Ostern bis Herbst verbrachte man die Zeit von jetzt ab dort, wo den Kindern zwei Gärten zum Spielen zur Verfügung standen. Von seinem Zimmer aus konnte Jules auf den Fluss schauen und beobachten, wie das Wasser zurückging und überall gelbe Sandbänke sichtbar wurden, welche die Schiffe umfahren mussten. Gemeinsam mit seinem Bruder Paul mietete er kleine Segelboote und machte erste Erfahrungen als Matrose, wobei er sich Theorie und Fachvokabular bereits aus den heute vergessenen Seeromanen James Fenimore Coopers angeeignet hatte.
In den Kindheits- und Jugenderinnerungen berichtet Verne, wie er einmal fünf Meilen westlich von Chantenay allein kenterte und sich auf eines der Inselchen retten musste. Jetzt durfte er für kurze Zeit ein kleiner Robinson sein. Den kannte er bereits von seinen Lektüren her, allerdings nicht aus Defoes Original, sondern aus dem Schweizerischen Robinson des Berner Stadtpfarrers Johann David Wyss, der in Frankreich als besonders geeignete Jugendlektüre angesehen wurde, weil dort eine ganze Familie auf der Insel strandete und der Familienvater – ebenfalls Pfarrer – reichlich Gelegenheit bekommt, seinen Söhnen die Welt zu erklären. Das kleine Abenteuer geht zwar undramatisch aus, denn bei Ebbe kann Jules das Ufer bequem zu Fuß erreichen, genügte aber, um das Erlebnis in der Fantasie so zu steigern, dass sich Verne noch über fünfzig Jahre später daran erinnern konnte. Das Meer selbst sollte er erst im Alter von zwölf Jahren sehen, als er mit seinem Bruder Paul auf einem Dampfer bis nach Saint-Nazaire fuhr.
Ab 1834, also im Alter von sechs Jahren, erhielt Jules Unterricht in der Privatschule bei Mme Sambin, die ihm lesen und schreiben beibrachte. Auch mit ihr verband sich eine Geschichte, die den Jungen geprägt haben könnte, denn Mme Sambins Ehemann, ein Marineoffizier, war seit dreißig Jahren verschollen. Dies könnte Verne als Vorbild für die zahlreichen Geschichten über Verschollene gedient haben, die von der frühen Erzählung Ein Winter im Eis, über den Roman Die Kinder des Kapitän Grant bis hin zu Mistress Branican reichen, in dem sich die Titelfigur auf die Suche nach ihrem Ehemann begibt.
Ab dem 3. Oktober 1837 mischten sich Jules und Paul unter die gut 120 Schüler des kirchlichen Pensionats Saint-Stanislas, wo sie wie üblich Latein und Griechisch lernten. Der Unterricht jener Zeit hatte nur wenig mit unseren heutigen Vorstellungen davon gemein. Schulische Erziehung bedeutete das Erlernen von Gehorsam; als didaktische Methode wendete man Strenge an, Auswendiglernen war eine beliebte Übung, und der Fächerkanon beschränkte sich auf Religion, Französisch, Rechnen, Geschichte und Geografie.
Die ersten Ansätze zu einer modernen Schulpolitik hatten gerade erst begonnen und betrafen zunächst nur die Primarstufe. Das Schulgesetz von Minister Guizot aus dem Jahre 1830 machte Grundschulen für Jungen in Gemeinden ab 500 Einwohnern mit einem Lehrer obligatorisch, Mädchenschulen hingegen blieben fakultativ. Die Grundschule wurde gratis angeboten, war aber nicht verpflichtend. Diese Maßnahme zielte vor allem auf die ländlichen Gegenden und den eher rückständigen Süden Frankreichs ab und führte zu einem deutlichen Anstieg der Schülerzahlen. Hatten diese 1815 noch bei 850.000 gelegen, so waren sie 1848 bereits auf 3,5 Millionen angewachsen. Dementsprechend stieg auch die Alphabetisierung an, die 1848 bereits 64 % erreichte und bis zum Jahrhundertende kontinuierlich gesteigert wurde. Hier wurden die intellektuellen Voraussetzungen für die enorme Bedeutung gelegt, welche die Literatur in der französischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts einnehmen sollte.
Für Jules und Paul setzte sich diese Art Unterricht fort, als sie von 1840 bis 1844 an das Priesterseminar von Saint-Donatien gingen, das auch Kinder aufnahm, die nicht Kleriker werden wollten. Es handelte sich um ein Internat, in dem die Eltern die beiden Jungen etwa zweimal pro Woche besuchten. Hier stand eine Lebensführung im Sinne christlicher Moral im Vordergrund. Neben dem Griechischen und Lateinischen, das mithilfe der Bibel erlernt wurde, unterrichtete man Mathematik, Geografie und Musik. Naturwissenschaftliche Fächer hingegen gab es nicht.
War die Primarstufe quasi allen zugänglich, so endete mit ihr allerdings auch die Meritokratie, da die Sekundarstufe einer kleinen Elite vorbehalten blieb. Die königlichen Collèges waren kostenpflichtig, das Abitur absolvierten ca. 3000 bis 4.000 Schüler pro Jahr. Auch die beiden Vernes gehörten der privilegierten Minderheit an, die nach acht Jahren noch eine weiterführende Schule besuchen konnte. So zog Jules 1844 wieder nach Hause und ging auf das königliche Gymnasium mit seinen ca. 300 Jungen, auf dem die humanistischen Bildungsinhalte fortgesetzt wurden. Verne war ein eher unauffälliger Schüler. Am 29. Juli 1846 bestand er das Abitur mit der Gesamtnote befriedigend.
Seit 1840 wohnte die Familie mit zwei Hausangestellten in dem geräumigen Appartement im 3. Stock der Rue Jean-Jacques Rousseau Nr. 6, genau gegenüber von Onkel und Tante Châteaubourg. Im Büro des Vaters gab es für Jules einiges zu entdecken, allem voran ein Teleskop, einen Bücherschrank mit englischer Literatur in Übersetzung und einen Sekretär mit technischen Geräten. Inspiration kam auch von den damals beliebten Familienzeitschriften, von denen die Vernes mit dem Journal des enfants, dem Magasin pittoresque und dem Musée des familles gleich drei abonniert hatten. Bald begann Jules mit ersten Schreibversuchen, und zwar mit Gedichten, »schrecklichen Gedichten«, wie er später in einem Interview urteilte. Die Familie sah das anders, denn eines seiner Geburtstagsgedichte für den Vater hatte beim Vortrag großen Zuspruch gefunden.
Die privilegierten Bedingungen Vernes, seine Jugendlektüren und -erfahrungen lassen sich durchaus im Lichte seines späteren Werks interpretieren, würden aber an sich nichts Außergewöhnliches darstellen, wenn nicht noch eine Begeisterung für Technik hinzugekommen wäre. Neben den Geräten auf dem Sekretär des Vaters faszinierte ihn auch die staatliche Fabrik von Indret bei Chantenay, deren Maschinen er unermüdlich zusehen konnte, genauso wie später Lokomotiven und Dampfmaschinen.
Konsequenterweise konnte der fantasiebegabte Junge sich auch leidenschaftlich romantischen Träumereien hingeben. Da die Gesellschaft jener Zeit eine strikte Geschlechtertrennung lebte, war der soziale Umgang mit Mädchen stark eingeschränkt, und es verwundert wenig, dass Jules sich als Heranwachsender zunächst heftig in eine Cousine verliebte, in die bereits erwähnte hübsche Caroline. Abgesehen davon, dass sie anderthalb Jahre älter war und sich die Verbindung nicht schickte, zog sie ihm den Kaufmann Émile Dézaunay vor, den sie 1847 heiratete. Der Stolz des jungen Verne war gekränkt, und er nahm, wie es sich für einen angehenden Dichter gehört, literarisch Rache mit einem Spottgedicht an die Neuvermählte Caroline. Dieses Urerlebnis hat Spuren hinterlassen. Noch in dem vierzig Jahre später erschienenen Roman Familie ohne Namen, lässt Verne ein Liebespaar in einem Boot namens Caroline die Niagarafälle hinunter in den Tod stürzen. Man sollte daraus allerdings nicht gleich schließen, dass Verne seine Liebe zu Caroline niemals überwunden habe, wie einige Biografen mutmaßen, denn er war immer auch zu ironischen Späßen aufgelegt. Außerdem hatte er sich bald schon wieder neu verliebt, und zwar in Herminie Arnault-Grossetière, der er zwischen April 1847 und Sommer 1848 einige Gedichte widmete. Herminie hielt ihn offenbar hin und machte ihm Hoffnungen, um ihn dann aber doch abzuweisen und einen Gutsbesitzer namens Terrien de la Haye zu heiraten, eine gewiss schmerzhafte Wiederholung. Jules tilgte alle Widmungen seiner Gedichte an Herminie. Die Frustration scheint er auf seine Heimatstadt übertragen zu haben, die er nun möglichst bald verlassen wollte und der er zu jener Zeit ein Schmähgedicht widmete:
Frankreichs sechstgrößte Stadt
Ein Viertel ist zwar neu und gut in Stand,
doch die anderen sind verschlissen;
wer dumm ist, baut auf Sand,
hat in Geschäften kein Gewissen.
Für die Wissenschaft verlorene Tröpfe an einem Orte voller Schmutz, ein paar Tausend leere Köpfe, denn Dummheit wird nicht abgeputzt.
Reis und Zucker, Leute fürs Geschäftemachen,
verstehen sich bloß auf Geldsachen,
die sie Tag und Nacht bedrängen.
Die Frauen ziemlich unansehnlich,
der Klerus taugt nichts, der Präfekt ist dämlich.
Das ist Nantes – die Stadt ohne Fontänen.
Dass die Nantaiser kein Gewissen hätten, kann als Anspielung auf den lukrativen Sklavenhandel verstanden werden, dem die Stadt einen großen Teil ihres Wohlstands verdankte. Von Nantes aus starteten seit Mitte des 17. Jahrhunderts Expeditionen an die afrikanischen Küsten, wo die Gefangenen geladen und nach Übersee gebracht wurden. Anfang des 18. Jahrhunderts kontrollierte Nantes ganze 75 % des französischen Sklavenhandels. Mitunter wurden während der zweimonatigen Überfahrt bis zu 650 Menschen auf engstem Raum im Zwischendeck transportiert. Insgesamt dürften von Nantaiser Reedern gut eine halbe Million Personen nach Amerika verschifft worden sein. Der Handel förderte in Nantes zugleich eine ganze Zulieferindustrie, denn Sklaven wurden nicht allein mit Geld, sondern auch mit bedruckten Stoffen bezahlt, die zum Teil in eigenen Manufakturen hergestellt wurden. Nachdem erste Verbote von 1818 und 1827 nicht eingehalten wurden, schaffte erst das Gesetz von 1831 den Sklavenhandel endgültig ab. Im letzten Jahrzehnt hatte dieses Geschäft in Nantes nochmals eine Hochphase erlebt, denn zwischen 1818 und 1831 brachen von dort noch über 300 Schiffe auf.
In Nantes gab es keine Perspektive für literarische Ambitionen, wer hierin reüssieren wollte, musste in die Hauptstadt. Das hatte die Fiktion in Figuren wie Rastignac aus Balzacs Vater Goriot oder D’Artagnan aus Dumas’ Drei Musketieren bereits ebenso vorgemacht wie die Wirklichkeit selbst. Auch Jules Verne träumte davon, sich einen literarischen Namen zu machen, sein Vater jedoch hatte andere Pläne mit ihm. Als ältester Sohn war er dazu bestimmt, die Anwaltskanzlei zu übernehmen, während sein jüngerer Bruder Paul im Dezember 1847 auf eine längere Reise als Steuermannsjunge nach La Réunion fahren durfte. Bei aller Freundschaft zwischen den Brüdern scheint sich in jenen Jahren auch etwas Eifersucht in die Beziehung der beiden gemischt zu haben. Denn Paul war nicht nur der bessere Schüler gewesen, sondern durfte nun einen Weg einschlagen, von dem auch sein älterer Bruder einstmals geträumt hatte. In einem Brief Jules Vernes an die Mutter vom 14.März 1853 findet sich eine Aussage, die auf ein ambivalentes Verhältnis zu Paul hindeutet: »Der Brief von Paul ist bezaubernd, er ist wirklich ein guter Junge, und niemals habe ich Buffons Ausspruch Im Stil steckt der Mensch stärker nachempfunden. Ach ja! O ihr Kinder, die ihr in der Jugend nicht fleißig gelernt habt! Aber es ist doch glücklicherweise stets so, dass die fleißigen Kinder in der Jugend dumm und erwachsen zu Schwachköpfen werden.« Das klingt nicht nach ungetrübter Harmonie, sondern eher nach einer Mischung aus Rivalität und Achtung, wie sie bei fast gleichaltrigen Brüdern nicht ungewöhnlich ist.
Aus Angst vor den Versuchungen der Hauptstadt hatte Vater Pierre entschieden, dass Jules zunächst in der Provinz bleiben sollte, um dort unter seiner Anleitung das Jurastudium zu beginnen und nur zu den Prüfungen nach Paris zu fahren. So büffelte der Sohn ein Jahr lang, um im April 1847 die ersten und im Juni 1848 die zweiten Prüfungen abzulegen und damit den akademischen Grad des Bakkalaureus zu erlangen. Gewiss, Jules war nicht ganz auf sich allein gestellt, denn sein Vater stand ihm dabei zur Seite, aber die Erfahrung, dass man sich ohne institutionellen Rahmen in ein Wissensgebiet einarbeiten konnte, dürfte doch etwas Neues gewesen sein. Dies ist deshalb erwähnenswert, weil darin eine Schlüsselkompetenz für sein späteres Schreiben lag, bei dem er sich für jeden Roman neues Wissen systematisch anzueignen hatte.
Zugleich arbeitete Verne auch schon fleißig an literarischen Texten. In der Nachfolge Victor Hugos, des Oberhaupts der romantischen Schule Frankreichs, versuchte er sich neben Poesie auch in Bühnenwerken und einem Schauerroman mit dem Titel Un prêtre de 1839 (Ein Priester von 1839). Schon als 17-jähriger hatte er mit dem romantischen Versdrama Un drame sous Louis XV begonnen, und noch vom Schulunterricht inspiriert war das 1846 begonnene Stück La Conspiration des poudres (Die Pulververschwörung), das sich dem gescheiterten Sprengstoffanschlag von Guy Fawkes auf das englische Parlament aus dem Jahre 1605 widmete. Zusammen mit der fünfaktigen Tragödie Alexandre VI über den Papst Rodrigo Borgia lagen seine Anfänge somit in drei Versdramen, die formal ambitioniert historische Stoffe verarbeiteten, in denen nach dem Vorbild Hugos historische Personen mit fiktionalen Figuren verbunden wurden. Keines der Stücke wurde je aufgeführt. Auch wenn sie literarhistorisch lediglich als Beispiele einer epigonalen Nachfolge Hugos zu bewerten sind, stellen sie beeindruckende Talentproben dar und weisen auf eine für einen jungen Menschen ungewöhnliche Leistungsfähigkeit hin. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass Verne mit seinem Fleiß und seiner Zielstrebigkeit zwischen zwei Instanzen vermittelte: Er blieb vorerst ein gehorsamer Sohn, der sich den Plänen seines Vaters beugte, leugnete aber nicht seine innere Berufung zum Schriftsteller. Diese musste er jedoch erst unter Beweis stellen, und zwar zuallererst dem Vater selbst, unter dessen Vormundschaft er rechtlich bis zu seinem 21. Lebensjahr stand.
Mit den politischen Unruhen vom Februar 1848 brach die zweite und letzte Revolution in Jules Vernes Leben aus. Bei der ersten, 1830, war er zwar gerade zwei Jahre alt gewesen, wollte sich aber noch an die Schüsse in den Straßen Nantes erinnern. Auch damals waren Missernten der Ursprung des Umschwungs gewesen, aus dem die Julimonarchie hervorging, unter der Verne politisch aufgewachsen war und die nun achtzehn Jahre später aufgelöst wurde. Sie war eine konstitutionelle Monarchie gewesen, in welcher der König und seine Minister vom Parlament weitgehend unabhängig regierten. Im öffentlichen Auftreten gab sich Bürgerkönig Louis Philippe als Vertreter des Bürgertums und erkannte damit an, dass er seine Regierung einem Volksaufstand verdankte. Wählen durfte jedoch nur der Anteil der männlichen Bevölkerung, der die meisten Steuern zahlte. Die zentrale politische Richtlinie der Julimonarchie lag in dem so genannten juste milieu, darunter verstand man eine Doktrin der politischen Mitte, die nur aus den spezifischen historischen Kontexten der 1830er Jahre heraus zu verstehen ist. Die in Rouen erschienene anonyme und undatierte Schrift Qu’est-ce qu’un homme du juste milieu? (Was ist ein Mann des juste milieu?) definiert den Vertreter des juste milieu politisch als jemanden, »der die Rückkehr sowohl zu den monströsen Auswüchsen des Ancien Régime, als auch die blutige Anarchie der Ersten Republik, den Despotismus des Kaiserreichs und die Heuchelei der Restauration ablehnt; und vielmehr davon überzeugt ist, dass das einzige Mittel, die Freiheiten der Revolution von 1830 zu bewahren, darin liegt, sie in vernünftigen Grenzen zu halten.« Diese Überzeugungen wurden vor allem vom Bürgertum verinnerlicht und haben auch Jules Verne tief geprägt, wie sich immer wieder zeigen sollte. Auch wenn die Bezeichnung juste milieu selbst weder in den Briefen noch in den Romanen fällt, bleiben seine Haltungen in der Regel innerhalb der von dieser Doktrin gesetzten Rahmen.
Im Sinne des juste milieu gab es in der Julimonarchie von allem etwas: etwas Revolution in ihrem Ursprung, etwas Monarchie in ihrer Form und etwas Demokratie im Gewand ihrer Verfassung. Während die Präsenz des Adels in politischen Ämtern spürbar zurückging, die Wirtschaftspolitik weitgehend liberal war und mit ihrer Finanzierung des Eisenbahnbaus einen ersten kapitalistischen Schub lieferte, war das Regime in Sachen Pressefreiheit und Ausweitung des Wahlkörpers hingegen eindeutig repressiv. Dieses Konstrukt war von vornherein wackelig, wie unter anderem ganze sieben Attentate auf Louis Philippe und ein gescheiterter Putsch von Louis Napoléon Bonaparte bezeugen.
Einer der Köpfe dieses Systems war der Minister François Guizot, ein Gegner der Volkssouveränität, der Klientelpolitik betrieb und die Öffentlichkeit und die Abgeordneten massiv beeinflusste. Dies führte zwar zu der gewünschten Konsolidierung der königlichen Macht, brachte die Regierung aber zugleich auch in Misskredit. Hatte Louis Philippe die Hungersnöte von 1846 und 1847 noch überstanden, so wurden der Vorwurf der Korruption und der Protest gegen seinen Immobilismus immer heftiger. Nachdem der König ein Bankett zur Reform des Wahlrechts verboten hatte, kam es am 21. Februar 1848 zu ersten Aufständen in Paris. Nach vergeblichen Versuchen, sich doch noch zu halten, dankte Louis Philippe am 24. Februar 1848 ab und ging wie sein Vorgänger Karl X. ins Exil nach Großbritannien. Unter dem Dichter Alphonse de Lamartine wurde eine Übergangsregierung gebildet und die zweite Republik ausgerufen. In diesen Zeiten des Wandels begann auch für Verne ein neuer Lebensabschnitt, als er im Revolutionsjahr 1848 nach Paris ging.