Читать книгу Agile Schule (E-Book) - Ralf Romeike - Страница 31
2.3 Unternehmen werden agil – Beweggründe und Erfahrungen
ОглавлениеWarum werden immer mehr Unternehmen – nicht nur solche aus dem IT-Bereich – agil? Was bedeutet «agil werden» und «agil sein» für sie? Wie gehen sie vor, welche Hürden gilt es zu überwinden und welche Erfahrungen machen sie? Wir, die Autoren, haben nicht die Erfahrung Agiler Coaches, die unterschiedlichste Teams dabei begleitet haben, agiles Denken und Handeln zu lernen, und deshalb aus dem Nähkästchen plaudern können. Wir haben auch nicht erlebt, wie es sich anfühlt, aus einem klassischen Prozess in einen agilen zu wechseln. Aber wir haben Kontakt gesucht zu Profis aus der Praxis und haben insbesondere auf der «Agile Bodensee», der Konferenz für agile Softwareentwickler und Projektentwickler im Bodenseeraum, über mehrere Jahre Einsicht gewonnen in die agile Bewegung. Wir fühlten die Begeisterung und die Lust der Vortragenden, andere Teams zu unterstützen und etwas zu bewegen, indem sie ihre eigenen Erfahrungen teilten, und wir saßen mit Teams am Mittagstisch, die erst noch agil werden wollten und viele Fragen hatten. Die folgenden Ausschnitte aus Berichten von Praktikerinnen und Praktikern illustrieren die Erfahrungen.
«Einfach losgesprintet» – im agilen Testprojekt
Stefan Kirch und Henning Pautsch berichteten auf der Agile Bodensee 2014 vom Umstieg auf agile Methoden bei der Bauer+Kirch GmbH in Aachen:
Ausgangspunkt des Ausprobierens agiler Methoden war, dass die Erfahrungen im Unternehmen zunehmend eine Ahnung bestärkten, dass die klassische Art, Software zu entwickeln, auf Dauer in eine Sackgasse führen würde. Ein idealer Zeitpunkt, um ein agiles Vorgehen zu erproben, war gekommen, als ein hausinternes Werkzeug neu entwickelt werden musste. Unglücklicherweise erkrankte gerade zu diesem Zeitpunkt der Agile Coach, der das Entwicklerteam begleiten sollte. Was also tun? Zwar finden sich in Büchern und Blogs viele Informationen zum methodischen Vorgehen, aber sie können keine Erfahrungen ersetzen. Um die Gelegenheit nicht verstreichen zu lassen, wollte man es dennoch wagen, und obwohl das Team keinen Coach haben würde, wurde es auf den Weg geschickt. Bald mussten die ersten Entscheidungen getroffen werden: Wie lang sollte ein Sprint (↑ Iteration) dauern, also die Entwicklung von jeweils einem weiteren Inkrement der Software? Eine Woche erschien dem Team zu kurz, vier Wochen zu lang, also entschied es sich kurzerhand für zwei Wochen. Das grundsätzliche Ziel wiederum war klar und einiges ergab sich im Verlauf des Projekts, etwa wie viel das Team in zwei Wochen schafft. Die Anforderungen in Form von ↑ User-Storys wurden elektronisch erstellt, aber das Team wollte sie auch ausgedruckt als Zettel an einem großen, übersichtlichen ↑ Project-Board an einer Wand im Büro haben. Die detaillierten Teilaufgaben (↑ Tasks) wurden der Einfachheit halber nur am Project-Board verwaltet. Dort traf sich das Team auch jeden Morgen für 10 Minuten zum ↑ Stand-up-Meeting, um sich gegenseitig zu informieren.
Bereits nach den ersten Sprints war sich das Team einig: Über die anstehenden User-Storys zu sprechen und die Tasks gemeinsam zu planen, bringt alle fachlich voran und liefert qualitativ bessere Entwürfe. Die Besprechungen des jeweiligen Zwischenprodukts (↑ Prototyp) mit dem hausinternen Kunden motivieren: Rückmeldungen wie «Ja, genau so wollte ich das haben» spornen an. Es wurden auch Fehler gemacht, diese waren aber stets mit einem Lerneffekt verbunden. Insgesamt verlief das agile Testprojekt erfreulich erfolgreich, was unmittelbare Auswirkungen auf weitere Projekte nach sich zog. Nicht nur die Entwicklerinnen und Entwickler dieses Teams sprachen sich in neuen Projekten sofort für ein agiles Vorgehen aus, auch andere Kolleginnen und Kollegen äußerten sich interessiert, wenn sie am Project-Board vorbeigingen oder das Team bei der Arbeit erlebten. Ohne genau zu wissen, was da gemacht wurde, sahen sie, dass die Beteiligten eine ganz andere Motivation hatten, und meinten: «Das wollen wir auch!»
Deshalb ist das Fazit von Kirch und Pautsch: «Sprinten Sie einfach los! Sprinten Sie los, wenn Sie motiviert sind und wissen, dass nicht alles von Anfang an perfekt sein wird. Schauen Sie sich an, was Sie falsch gemacht haben und versuchen Sie es beim nächsten Mal besser zu machen – das ist erstaunlich einfach. Sprinten Sie los! Sie werden feststellen, dass Ihr Team mit einer ganz anderen Motivation, mit einer ganz anderen Identifikation an die Sache herangeht!»
«Können wir das auch umsetzen?» – Wie die agile Denkweise alle ansteckt
Robert Misch von gutefrage.net und Sascha Rehbock berichteten auf der Agile Bodensee 2014 über den agilen Wandel im ganzen Unternehmen:
Es begann damit, dass die IT-Abteilung agile Methoden einführte. Schnell wurde das auch für Kolleginnen und Kollegen aus anderen Abteilungen sichtbar: An den Project-Boards mit den bunten Zetteln, an den täglichen Stand-up-Meetings sowie generell an der gesteigerten Motivation. Klar, dass diese Änderungen ihre Neugier weckten. Sie stellten Fragen – und wollten einen ähnlichen Prozess auch für sich einführen. Deshalb organisierten die Agilen Coaches der IT-Abteilung bald auch für andere Abteilungen Workshops, sodass sich die agile Arbeitsweise erst langsam und dann immer schneller im Unternehmen ausbreitete: vom Community-Management über Marketing, Sales und Finances sogar bis in die juristische Abteilung der Unternehmensgruppe. Deren Leiter hatte zwar zunächst noch keine Vorstellung davon, wie agiles Vorgehen in der Rechtsabteilung der Holding aussehen könnte, aber er glaubte daran.
Alle angepassten Prozesse bei gutefrage.net wurden nun iterativ aufgebaut und insbesondere drei agile Praktiken etablierten sich überall: Das Project-Board visualisiert die Arbeit im Team und schafft Transparenz. Damit kann fokussiert gearbeitet werden, es lassen sich wiederkehrende Probleme im Arbeitsablauf identifizieren, Veränderungen planen und deren Wirksamkeit prüfen. In einem täglichen Stand-up-Meeting werden Informationen ausgetauscht und der Tag geplant, und nach jeder Iteration werden Prozesse, Ergebnisse und die Zusammenarbeit in der ↑ Reflexion bewertet und wo nötig Verbesserungen initiiert.
Als wesentlicher Faktor für das Gelingen der agilen Transformation erwies sich, dass alle im Team nicht nur etwas über agile Praktiken erfuhren, sondern verstanden, welche Denkweise dahintersteckt. Da Agile Werte die gesamte Arbeitskultur verändern, war es wichtig, den Teams genügend Zeit für die Umstellung zu lassen. Zuerst wurde eine kleine Änderung eingeführt und begleitet. Daraus entwickelten sich adaptierte Praktiken und die Teams verbesserten sich stetig.
Was die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nach der agilen Transformation besonders zu schätzen gelernt haben, ist unterschiedlich: Das Marketing-Team beispielsweise schätzt die durch das Project-Board gewonnene Transparenz und insbesondere die Priorisierung von Arbeiten: «Wir fangen weniger an, aber dafür wird mehr fertig. Das hilft, sich auf Resultate zu fokussieren.»
Die juristische Abteilung hat das Arbeiten in Paaren eingeführt. Nun ist nicht mehr nur eine einzelne Person als Experte oder Expertin für einen Bereich verantwortlich. Verträge werden nun zu zweit entworfen und gegenseitig begutachtet. «Wenn ich jetzt krank werde oder in den Urlaub gehe», berichtete eine Juristin, «bin ich dank der neuen Arbeitsweise entspannter, weil das Projekt trotzdem weitergeht.» Auch in der Unternehmensgruppe ist die Erfahrung mit der neuen juristischen Abteilung sehr positiv: Anfragen werden nun effizienter und besser bearbeitet. Die Managerinnen und Manager begrüßten zwar die Motivation in agilen Teams, stellten sich aber bald die Frage «Welche Aufgaben bleiben uns denn nun? Braucht es überhaupt noch eine Kontrolle der Arbeitsprozesse?» Es ist verständlich, dass die Idee von selbstorganisierten Teams sie zunächst verunsicherte. Ein Workshop zu «Management 3.0» inspirierte sie jedoch und weckte die Experimentierfreude. Beispielsweise wurde ein sogenanntes Delegation-Board installiert, auf dem alle sehen können, wer welche anstehenden Entscheidungen treffen darf. Für die Teams ist diese Klarheit eine große Hilfe.
«Entscheidend ist der Kulturwandel» – Organisationsentwicklung durch agile Transformation
Stefano Trentini, Leiter des Bereichs Software Engineering bei den Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) und Mischa Ramseyer, Agiler Coach bei pragmatic solutions, berichteten auf der Agile Bodensee 2016 über den Beginn einer «agilen Transformation» bei den SBB:
Wie kommt ein konservatives Traditionsunternehmen wie die SBB dazu, in seinem IT-Bereich flächendeckend Agilität einführen zu wollen? Der Handlungsbedarf entstand, weil andere IT-Unternehmen zunehmend kundennäher arbeiten und ihre Produkte immer schneller, kostengünstiger, aber mit konstanter Qualität auf den Markt bringen. Die einzige Möglichkeit, als unternehmensinterner Anbieter von IT-Lösungen in diesem Umfeld konkurrenzfähig zu bleiben, war es, einen Paradigmenwechsel einzuleiten. Entscheidend schien dabei nicht die Wahl eines bestimmten agilen Frameworks, sondern vielmehr ein Kulturwandel. Dieser lässt sich nicht vorschreiben, vielmehr müssen die Beschäftigten mitgenommen werden. Das wurde erreicht, indem dieser Kulturwandel bei den SBB anhand von fünf werteorientierten Prinzipien beschrieben, kommuniziert und zunehmend umgesetzt wurde:
Schaffe Wert und Nutzen! Bei den SBB wurde sehr langfristig und detailliert geplant und jeder Bereich hielt sich stark an seine Pläne. Von dieser planorientierten Steuerung galt es nun zu einer Steuerung zu kommen, die stets dem jeweiligen Projektziel dient und sich am Schaffen von Wert und Nutzen orientiert.
Übernimm Verantwortung! Bisher trafen die Vorgesetzten die Entscheidungen und übernahmen die Verantwortung, weshalb sich die Beschäftigten kaum innovativ einbringen konnten. Als neues Ziel sollen die Mitarbeitenden mit der Zeit befähigt werden, sich auf ihrem Fachgebiet mehr zu trauen und zu lernen, mit Verantwortung umzugehen und vor allem Fehler offen zuzugeben.
Unterstütze Veränderung! Bei den SBB wird ein freundlicher und netter Umgang gepflegt. Das führte in der Vergangenheit aber auch dazu, dass jemand, ehe er Kritik an anderen übte, nach Behelfslösungen suchte. Um Veränderung zukünftig als positiv wahrzunehmen und zu unterstützen, soll sich nun jeder und jede kritisch mit den Ergebnissen der Arbeit auseinandersetzen und somit besser aus Erfahrungen lernen.
Macht’s zusammen! Bisher hatte jede Person eine klar definierte Rolle, die ihre Tätigkeit festlegt und eingrenzt. Zukünftig sollen nun Aufgaben zusammen im Team erledigt werden, ohne Rollen, und die Verantwortung soll dabei gemeinsam getragen werden. Das bedeutet, dass die Teams eine funktionierende Form der Kooperation entwickeln sollen.
Mach’s einfach! Aus der Tradition heraus gab es bei den SBB seit jeher viele Regularien, Abläufe waren relativ kompliziert. Dinge einfach zu machen bedeutet, diese Regularien sinnvoll abzubauen und es zu wagen, Entscheidungen mit dem gesunden Menschenverstand zu treffen.
Nach der Einigung auf diese Prinzipien als Grundlage für den Wandel begann die Umsetzung, wobei – wie im agilen Umfeld üblich – in kleinen Schritten, also iterativ vorgegangen wurde. In jedem Quartal wurden Teilziele entsprechend der Priorisierung mit Feature-Teams an einem Nachmittag geplant und während des Quartals ausgearbeitet. Am Ende jeder Iteration wurden die Resultate präsentiert. So ist unter anderem ein Vorgehensmodell der SBB entstanden, das den werteorientierten Rahmen vorgibt. Nun kann jedes Team, das in ein neues Projekt startet, für sich selbst entscheiden, ob es sich an Scrum, Kanban oder einem anderen agilen Vorgehensmodell orientiert, denn jedes passt in den vorgegebenen Rahmen und erlaubt es beispielsweise, während der Produktentwicklung regelmäßig zu prüfen, ob Wert und Nutzen geschaffen werden. Zudem wurde Raum für Vernetzung und Dialog in der Organisation geschaffen, damit jeder den Zielen Sinn geben und eigene Ideen entwickeln kann, unabhängig von seiner Aufgabe und Position im Unternehmen. Der Stand der agilen Transformation wurde von Beginn an anhand von Kriterien gemessen. Diese Daten wurden um eine Selbsteinschätzung der Teams ergänzt und es zeigt sich inzwischen: «Agilität ist bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern angekommen. Agilität gilt als erstrebenswert.» Viel Zeit und Reflexion, laufende Anpassungen und eine Begleitung waren dabei wichtige Faktoren.