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Donnerstag, 6. Juni 2019
ОглавлениеDie S-Bahn und auch die Regionalbahn nach Frankfurt hatten Verspätung. Als Thomas Danzer an diesem Morgen am Dornberger Bahnhof ankam, konnte er schon die unruhigen Berufspendler am Gleis 4 stehen sehen.
Einen Moment lang überlegte er, wieder kehrtzumachen, aber Steffen hatte ihn schon von weitem gesehen. Er stand mit flatternder Krawatte am Geländer der Unterführung und wischte stirnrunzelnd auf seinem Handy herum.
»Notarzteinsatz am Gleis zwischen Riedstadt und Groß-Gerau«, sagte er, als Thomas die Treppe heraufkam, und malte mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft. »Da hat sich mal wieder so ein armer Irrer vor den Zug geworfen und wir dürfen es ausbaden.«
Thomas zog sich das Sakko vor der Brust zusammen. Die Sonne stand schon über dem Einkaufsmarkt, der direkt unterhalb des Bahnhofs lag, aber hier oben wehte ein kühler Wind. Ein Mensch war also tot, nur dass das hier niemanden interessierte. Die Pendler an Gleis 4 fluchten über die Verspätung und bestätigten sich gegenseitig, dass auf die Bahn eben kein Verlass mehr sei. Eine junge hübsche Frau im Businesskostüm stöckelte aufgeregt den Bahnsteig auf und ab und telefonierte. Als sie an ihnen vorbeikam, zwinkerte Steffen ihr zu, und die Frau verdrehte genervt die Augen.
»Die steht auf mich, haste gesehen?«
»Klar, alle stehen auf dich, weißte doch.«
Steffen lachte und steckte sein Handy wieder ein, dann stutzte er und sah Thomas überrascht an. »Ich dachte, du arbeitest gerade von zu Hause aus?«
»Normal schon, aber wegen der Feiertage haben wir heute noch Konferenz, und der Chef mag das nicht online machen«, entgegnete Thomas achselzuckend und wunderte sich, wie mühelos ihm die Lüge über die Lippen kam.
»Ach, ich dachte, du bist jetzt der Chef?«
»Bei mir im Homeoffice vielleicht.«
»Na immerhin ...« Steffen lächelte gönnerhaft. Während Thomas sich hauptsächlich um die Kreditvergabe an Bausparer und Kleinanleger kümmerte, saß Steffen im Obergeschoss eines Frankfurter Bankenturms an der Taunusanlage und hantierte mit millionenschweren Portfolios privater Anleger.
Im Lautsprecher über dem Bahngleis knackte es. »Es hat Einfahrt die Regionalbahn nach Frankfurt ...«
Sofort kam Bewegung in die Menschen am Bahnsteig. Steffen stieß sich vom Geländer ab und Thomas folgte ihm. Sie fanden einen Platz im unteren Teil der Bahn, die sich, kaum dass sie Platz genommen hatten, in Bewegung setzte. Der Wasserturm und die alte schon halb abgerissene und entkernte Schule zogen draußen vor dem Fenster vorbei. Hier hatten sie damals ihr Abitur gemacht und manchmal an Sommerabenden mit einem Sixpack Bier draußen gesessen und sich gegenseitig Karrieren angedichtet. Thomas schloss die Augen. Steffen Kleinschmidt wurde von allen früher nur der »kleine Schmidt« genannt, was ein ziemlich müder Witz war, denn mit etwas über einem Meter achtzig war er eigentlich nicht besonders klein. Er hatte auch keinen größeren Bruder oder so, den man den »großen Schmidt« genannt hätte. Irgendwer hatte irgendwann halt mal »kleiner Schmidt« statt »Kleinschmidt« zu ihm gesagt und das war dann hängengeblieben. Er selbst wurde damals einfach nur Tommy oder mal ›der Danzer‹ genannt.
Thomas öffnete die Augen und sah, dass Steffen schon wieder auf sein Handy starrte. Ihm war es recht, er hatte keine Lust, sich mit ihm zu unterhalten. Normalerweise wären sie sich ja auch gar nicht begegnet. Dass sich ausgerechnet heute jemand vor den Zug wirft, damit konnte ja keiner rechnen – obwohl, eigentlich musste man doch immer damit rechnen. Auf einmal wunderte er sich darüber, dass so etwas nicht viel häufiger vorkam. Wie viele Menschen im Jahr das wohl versuchten? Und dabei erfolgreich waren? Ein Impuls durchfuhr ihn, sein Handy herauszuholen und es zu googeln, aber dann rief er sich zur Ordnung, das führte doch zu nichts.
»Und? Schon was vor über Pfingsten?«, fragte Steffen ohne vom Display seines Handys aufzusehen.
Thomas schüttelte den Kopf. »Am Sonntag holen wir meinen Vater aus dem Heim zum Mittagessen, ansonsten ist, soviel ich weiß, eigentlich nichts weiter ...«
»Verstehe schon«, grinste Steffen, »Petra legt die Musik auf, zu der getanzt wird.«
»Wenn du meinst ...«
»Ach komm schon! Ich weiß doch, wie das ist.« Steffen steckte das Handy in die Innentasche seins Jacketts und gähnte. »Meinst du, das ist bei mir anders? Tati hat zu Hause die Hosen an.« Er machte eine Kunstpause, dann fügte er süffisant hinzu: »Naja, manchmal auch nicht, da hat sie gar nichts an ...«
Thomas machte ein säuerliches Gesicht und sagte nichts. Steffen war eigentlich ganz in Ordnung, neigte aber zu schlüpfrigen Bemerkungen, die niemand hören wollte. Nach dem Abitur hatten sich damals ihre Wege getrennt. Steffen hatte BWL studiert, war weggezogen und erst jetzt über 20 Jahre später wieder nach Groß-Gerau zurückgekommen. Thomas hingegen hatte am Ort eine Ausbildung zum Bankkaufmann gemacht, später geheiratet, eine Familie gegründet und war vor ein paar Jahren zu einer Frankfurter Bank in die Kreditabteilung gewechselt. Ein letzter kleiner Karrieresprung, dachte er und merkte, wie sein Magen dabei rebellierte.
»Dem Junior geht’s gut?« Steffen schien jetzt richtig in Plauderlaune zu sein. Der Zug hielt in Mörfelden, wo sich noch mehr gestrandete Pendler in die Abteile quetschten.
»Ja«, sagte Thomas, »arbeitet fleißig an seinem Abitur.«
Steffen nickte und kam nicht mehr auf das Thema zurück, was Thomas nur recht war. Benny und seine Aktivitäten schlugen ihm genauso auf den Magen wie der Gedanke an die Bank. Es gab momentan allgemein wenig, was ihm keine Magenschmerzen bereitete.
In Walldorf wurden die Wartenden am Bahnsteig aufgefordert zurückzubleiben und nicht einzusteigen. Mittlerweile pressten sich die Leute wie die Heringe in der Dose im engen Gang aneinander. Es roch herb-süßlich nach verschiedenen Aftershaves und Parfüms und ein bisschen nach Schweiß. Thomas atmete möglichst flach, um nicht auf der Stelle in den Wagen zu kotzen, das hätte jetzt gerade noch gefehlt.
Als der Zug schließlich über den Main fuhr und die Frankfurter Skyline in Sicht kam, beugte sich Steffen um den Mann, der sich in der Sitzreihe einfach zwischen sie gestellt hatte, herum und sagte: »Samstagabend? Grillen? Bei uns?«
»Ich weiß nicht, da muss ich erst ...«
»Du musst gar nichts, ich habe Tati vorhin eine Nachricht geschickt, die klärt das schon mit Petra.«
Thomas holte Luft, um etwas zu sagen, aber dann ließ er sich in den Sitz zurückfallen und sagte nichts. Der Mann zwischen ihnen hielt sich am Gepäckfach über ihnen fest und machte ein teilnahmsloses Gesicht. Kurz bevor der Zug in den Bahnhof einfuhr, hörte er Steffens Handy klimpern.
»Petra hat schon zugesagt, sie freut sich und macht einen Salat. Ich grille und sorge fürs Bier. Du musst dich mal wieder um nichts kümmern, du Glückspilz.«
Sie standen auf und wurden zusammen mit den anderen auf den Bahnsteig gespült. Thomas bekam vor Wut immer noch keinen Ton heraus, aber wenigstens bekam er hier draußen wieder besser Luft. Die Übelkeit ließ etwas nach, nur das Kotzgefühl wollte einfach nicht verschwinden. In der S-Bahn zur Taunusanlage überlegte er, wie er Steffen loswerden konnte, aber ihm fiel nichts ein.
Als sie sich wenig später dem Garden Tower in der Neuen Mainzer Straße näherten, verlangsamte Thomas seine Schritte und hoffte, dass Steffen ihn überholen würde, aber der dachte gar nicht daran.
»Also dann«, sagte Thomas, »bis morgen.« Er steuerte auf die Glasschiebetüren zu und blieb dann stehen.
»Ja, super, bis dann!« Steffen winkte und entfernte sich ein Stück, da klingelte sein Handy.
Anstatt telefonierend weiterzugehen, blieb er stehen und sah beim Sprechen lächelnd in Thomas’ Richtung, der sich nicht von der Stelle rührte. Durch die verglaste Schiebetür konnte er sehen, wer am Empfang Dienst hatte. Ausgerechnet die Hingst, Beate Hingst, die elegante, korrekte und immer freundliche Frau Hingst, die jeden Mitarbeiter des Hauses mit Vor- und Zunamen kannte und genau wusste, wer wo hingehörte.
Thomas zögerte. Steffen telefonierte immer noch, sah zu ihm rüber, winkte. Thomas hob kurz die Hand. Er musste jetzt da rein, wenn er kein Misstrauen erregen wollte.
Die Schiebetür glitt zur Seite. Er betrat den klimatisierten Eingangsbereich und sah, wie die Hingst sich mit einem Lächeln hinter dem Empfangstresen erhob, aber mit einer Hand unter die Holzverschalung griff, wo sich die Alarmknöpfe befanden.
»Bitte«, flüsterte er der Frau zu, »ich bin gleich wieder weg.«
Beate Hingst hob die Augenbrauen. »Wenn Sie Ärger machen wollen, Herr Danzer ...«
Thomas schüttelte heftig den Kopf. »Keinen Ärger, nein, wirklich nicht, geben Sie mir bitte nur eine Minute ...«
Er sah gehetzt über seine Schulter durch die Verglasung nach draußen. Steffen stand immer noch ein paar Meter vom Eingang entfernt und telefonierte. Er hatte eine Hand in der Tasche, mit der anderen hielte er sich das Handy ans Ohr. Thomas wandte sich wieder an die Hingst, die sich etwas entspannte, den Finger aber nicht vom Notruf nahm. Sie trug ein marineblaues Kleid und eine Perlenkette. Thomas konnte das abgetönte Make-up auf ihrer Gesichtshaut sehen und den akkurat aufgetragenen blassroten Lippenstift.
»Frau Hingst, es gibt keinen Grund zur Beunruhigung, bitte, Sie kennen mich doch.«
»Ich muss Sie jetzt trotzdem auffordern zu gehen, Herr Danzer.«
»Natürlich, natürlich ...«, entgegnete er und nickte heftig, blieb aber stehen. Sein Blick wanderte zu der Seitentür, hinter der immer jemand von der Security in Bereitschaft war.
»Sofort«, stieß die Hingst gepresst hervor.
Thomas machte kehrt. Die Schiebtür glitt zur Seite und er trat mit angehaltenem Atem auf den Vorplatz und sah sich um. Steffen war nicht mehr da.
Er schaffte es bis zur Taunusanlage, dort übergab er sich hinter eine Parkbank. Danach ging es ihm besser. Er lockerte seine Krawatte, nahm sie dann ganz ab und stopfte sie in seine Ledertasche. Er öffnete die oberen Hemdknöpfe, ließ sich auf der Bank nieder und schloss die Augen. Die Sonne hatte schon deutlich an Stärke gewonnen und wärmte sein Gesicht. Er hörte die gleichmäßigen, federnden Schritte eines Joggers vorbeitraben. Jemand rief nach einem Hund. Ein anderer lachte. Das Geräusch eines Skateboards, das vom Boden abhob und kurz darauf wieder krachend aufsetzte.
Warum hatte er zur Bewältigung seiner Midlife-Crisis nicht eine der klassischen Methoden gewählt wie andere Männer auch? Er hätte sich einen Sportwagen leasen, für den Frankfurt-Marathon trainieren oder sich in eine peinliche Affäre stürzen können – stattdessen hatte er sein Gewissen entdeckt.
***
Zorans Arglosigkeit war wie immer beeindruckend. Er plapperte, scherzte und spielte Maik seine neuen Lieblingssongs auf dem Smartphone vor, als wären sie tatsächlich nur zwei alte Freunde auf dem Weg in ein verlängertes Pfingstwochenende. Das Kokain im Wert von einer guten Viertelmillion Euro im Kofferraum schien ihn nicht im Geringsten zu beunruhigen. Zoran war ein schlichtes Gemüt und manchmal glaubte Maik, dass sein alter Kumpel einfach zu doof war, um Angst zu haben.
Er selbst hingegen war jedes Mal vor allem am Anfang ziemlich nervös. Bei jeder Wagenübernahme sah er sich hektisch um, fest davon überzeugt, dass jeden Moment schwerbewaffnete Polizisten brüllend aus den Büschen springen und sie alle hochnehmen würden. Zorans flache Witzchen, seine Bums-Geschichten und Angebereien brachten Maik aber immer wieder runter. Andere hätte Zoran damit wahrscheinlich genervt und aggressiv gemacht, aber auf ihn hatte er einfach eine beruhigende Wirkung, und das allein rechtfertigte schon, ihn dabeizuhaben.
Sie waren seit knapp zwei Stunden unterwegs. Auf der Autobahn herrschte streckenweise bereits dichter Verkehr, obwohl erst Donnerstag war. Offenbar konnten es sich einige Leute leisten, sehr frühzeitig ins lange Wochenende aufzubrechen. Eine halbe Stunde vor dem Fahrerwechsel nickte Zoran mit dem Kopf am Seitenfenster ein und sabberte die Scheibe voll. Kurz vor dem Rastplatz Lorsch Ost weckte Maik seinen Freund, der auf einmal ungewöhnlich schweigsam war und nur noch verbissen durch die Windschutzscheibe starrte.
Maik nahm die Abfahrt, die zum Rasthof führte, ein überladenes Wohnmobil mit niederländischem Kennzeichen tuckerte behäbig vor ihnen her auf den Parkplatz.
Sie stellten den Wagen in Sichtweite der Tankstelle und des Schnellrestaurants ab, stiegen aus und streckten sich. Zoran klopfte eine Zigarette aus seinem Päckchen, steckte sie sich zwischen die Lippen, zündete sie aber nicht an, sondern blinzelte in die Sonne, als warte er auf eine geheime Botschaft aus dem All. Er trug Jeans und ein braunes Polohemd, an den Füßen nigelnagelneue Nike-Sneakers. Leger, aber gepflegt, so erregte man am wenigsten Aufsehen. Maik hatte sich für beige Chinos und ein schwarzes Kurzarmhemd entschieden. Er sah mit gerunzelter Stirn zu seinem Kumpel rüber, der immer noch mit der Zigarette im Mund dastand und über irgendetwas nachzudenken schien.
»Hey, alles klar?«
Zoran reagierte erst nicht, dann drehte er sich langsam in Maiks Richtung. »Hm? Haste was gesagt?«
»Ich hab dich gefragt, ob alles klar ist?«
»Ja, schon, alles klar. Ich mach mir halt nur auch so meine Gedanken, weißt du ...«
»Ach ja? Und über was machst du dir so ... Gedanken?«
Zoran hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. Die Sache gefiel Maik nicht. Wenn einer wie Zoran anfing, sich Gedanken zu machen, konnte das nur in die Hose gehen. Er ging einen Schritt auf seinen alten Kumpel zu, legte ihm eine Hand auf die Schulter, zog sein Zippo aus der Hosentasche und gab ihm Feuer.
»Hör mal, wenn es da was gibt, das ich wissen sollte, dann raus damit, und zwar gleich.«
Zoran sah ihn einen Moment lang mit einem Blick an, den Maik nicht zu deuten wusste, dann zog er an der Zigarette, stieß den Rauch durch Mund und Nase und schüttelte den Kopf.
»Ich geh uns da drüben mal zwei Kaffee holen«, sagte Maik und deutete mit dem Kinn zur Raststätte hinüber. »Tankst du schon mal den Wagen?«
Zoran nickte und nahm die Autoschlüssel entgegen. Auf halbem Weg drehte Maik sich ein weiteres Mal um und sah, dass sein Kumpel die halbgerauchte Zigarette ausgetreten und sich schon hinters Steuer gesetzt hatte.
Obwohl der Parkplatz vor dem Rasthof fast leer war, herrschte im Selbstbedienungsbereich Hochbetrieb. Familien mit quengelnden Kindern und Rentnerpaare, die umständlich ihr Geld abzählten, bevor sie etwas aus der Theke nahmen, belagerten den kleinen Verkaufsraum. Maik fragte sich, woher auf einmal all die Leute kamen, dann sah er durch die Vollverglasung zwei Fernbusse hinter der Raststätte stehen. Einen Moment lang dachte er daran, auf den Kaffee zu verzichten, aber dann stellte er sich doch an. Sie waren gut in der Zeit, alles lief wie am Schnürchen.
Als er eine knappe Viertelstunde später mit zwei Pappbechern in den Händen die Raststätte verließ, hatte Zoran schon getankt, der Wagen stand jedenfalls nicht mehr bei den Zapfsäulen. Maik sah zu den Parkbuchten hinüber, aber auch dort konnte er den BMW nicht entdecken. Er drehte sich einmal um die eigene Achse und sah sich um. Nichts. Wenn das einer von Zorans Späßen sein sollte, so konnte er nicht darüber lachen. Mit großen Schritten überquerte er die Zufahrt. Die schrägen Parkstreifen waren leer bis auf einen VW Passat mit Fahrrädern auf dem Dach und einen alten Golf. Auch die Stelle, an der sie vorhin geparkt hatten, war verwaist. Auf dem Grünstreifen, bei den etwas zurückgesetzten Picknicktischen aus Waschbeton stand eine grüne Mülltonne, über der die Mücken kreisten.
Maik stellte die Kaffeebecher auf dem Deckel ab und ging in die Knie, um den schwarzen Rucksack zu inspizieren, der an der Tonne lehnte. Es war sein Rucksack, den er bei jeder Fahrt dabeihatte. Ein gelbes Post-it-Zettelchen klebte daran.
Tut mir leid, Kumpel stand in Zorans krakeliger Grundschülerschrift auf dem Zettel.
Es dauerte eine Weile, bis Maik kapierte, was passiert war. Dass Zoran mit dem Koks abgehauen war und ihn zurückgelassen hatte. Dass er das schon die ganze Zeit geplant haben musste. Dass er ihn in die Scheiße geritten hatte, um einmal im Leben selbst so richtig abzusahnen. Was das bedeutete, war ihm hingegen sofort klar: Er war so gut wie tot.
Obwohl es keinen Grund gab, Zoran zu schützen, zögerte Maik dennoch, die Nummer zu wählen, die für Notfälle reserviert war. Er holte das Prepaidhandy aus der Hosentasche, sah es einen Moment lang an, dann steckte er es wieder ein und zündete sich stattdessen eine Zigarette an. Für einen Moment hoffte er, dass alles doch nur ein schlechter Witz war und Zoran jeden Moment mit quietschenden Reifen um die Ecke gefahren kam und ihn auslachte: »Was glotzt du so? Schiss gehabt, was?«
Maik sah sich noch einmal um. An der Tankstelle fuhr ein Mercedes vor, ein Typ im grauen Anzug, dessen Bauch über den Hosenbund quoll, stieg aus und tankte. Auf dem eingezäunten Spielplatz vor der Raststätte standen zwei Frauen in Jeans und Sneakers und unterhielten sich, während ihre Kinder auf den im Boden verschraubten Wackelgeräten herumturnten. Einer der Busfahrer lehnte am verglasten Eingangsbereich des Restaurants und las Nachrichten auf seinem Handy. Keine Spur von Zoran und dem BMW.
Maik ging rauchend vor der Mülltonne auf und ab. Als er die zwei vor sich hin dampfenden Kaffeebecher sah, holte er aus und schlug sie vom Deckel herunter, einer fiel unspektakulär ins Gras, aber der andere Becher flog ein Stück durch die Luft, schlug dann auf dem Picknicktisch auf und verspritzte seinen Inhalt über der Platte. Ein alter Mann in beiger Popeline-Jacke und Gesundheitsschuhen, der gerade dabei war, umständlich aus einem Opel Zafira zu steigen, sah entsetzt zu ihm herüber.
Maik holte erneut das Prepaidhandy hervor und tippte die entsprechende Kurzwahltaste. Er berichtete kurz, was passiert war, und legte auf, bevor der Mann am anderen Ende der Leitung etwas sagen konnte, dann machte er sich mit geschultertem Rucksack auf den Weg zum LKW-Parkplatz. Der alte Mann hatte sich wieder in sein Auto zurückgezogen, umklammerte mit beiden Händen das Lenkrad und verfolgte Maiks Abgang mit ängstlichem Blick durch die Windschutzscheibe.
Er hatte gerade einen Trucker gefunden, der bereit war, ihn bis Frankfurt mitzunehmen, da klingelte das Handy. Maik drückte den Anruf weg und schaltete das Gerät aus.
***
Thomas Danzer nahm die spätere S-Bahn, um auf der Heimfahrt nicht schon wieder Steffen in die Arme zu laufen. Er ärgerte sich immer noch über die Einladung zum Grillen. Steffen und Tatjana hatten mit Petra doch schon alles entschieden, bevor man ihn überhaupt gefragt hatte. Seit geraumer Zeit hatte er den Eindruck, von allen nur noch vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden. Und ihm fehlte die Kraft, sich dagegen zu wehren, weil er jeden Tag damit beschäftigt war, eine Scheinwelt aufrechtzuerhalten, in der er nach wie vor einen Arbeitsplatz hatte und Geld verdiente. Heute Morgen mit Steffen, das war verdammt knapp gewesen. Dabei würde sein Versteckspiel in den nächsten Wochen ohnehin auffliegen, wenn sein Gehalt ausblieb und die Schadensersatzforderungen eintrudeln würden. Bis dahin, so hatte er sich eingeredet, würde ihm schon etwas einfallen, aber mit jedem Tag, der verging, wurde ihm klarer, dass das wohl Wunschdenken war.
Die S-Bahn setzte sich in Bewegung und verließ den Hauptbahnhof. Thomas fiel der Selbstmörder wieder ein, der sich am Morgen vor die Regionalbahn geworfen hatte. Dieser Ausweg stünde ihm ja immer und jederzeit offen, dachte er und erschrak, wie sehr ihn dieser Gedanke beruhigte.
Am Bahnhof in Groß-Gerau Dornberg stieg er aus und lief durch das Gewerbegebiet nach Hause. Die Häuser am Ortsausgang waren durch eine hohe Hecke von der Gernsheimer Straße, die hier nahtlos in die B44 überging, abgetrennt. Gegenüber lag die Fasanerie und hinter den Häusern floss der Landgraben.
Thomas betrat den kühlen Hausflur und ließ Sakko und Tasche an der Garderobe zurück. In der Küche nahm er sich ein Bier aus dem Kühlschrank, öffnete es und trank an die Spüle gelehnt zwei große Schlucke direkt aus der Dose. Auf dem leeren, blankpolierten Küchentisch lag ein Zettel: Bin zum Yoga und danach noch was trinken mit den Mädels. Warte nicht auf mich.
Thomas nahm noch einen Schluck Bier. Sie warteten schon lange nicht mehr aufeinander, es gab dafür keinen Grund.
Sie hatten das Haus, sein Elternhaus, damals nach ihren Wünschen umgebaut. Nachdem seine Mutter gestorben und sein Vater ins Altenheim gezogen war, hätte er den alten Kasten am liebsten verkauft, aber Petra hatte ihn überredet, in die Immobilie zu investieren, eine neue Heizanlage ein- und den Keller auszubauen. Das Haus bekam ein neues Dach und die Fassade wurde frisch angelegt, nach hinten zum Landgraben hin wurden bodentiefe Fenster eingesetzt und eine neue Terrasse aufgeschüttet. Die Innenräume wurden verbreitert, Zwischenwände eingerissen, eine neue Küche installiert. Und als alles fertig war ...
Thomas trank die Dose mit mehreren großen Schlucken leer, er hatte gar nicht bemerkt, wie durstig er zuvor gewesen war. Er überlegte, sich mit einem zweiten Bier auf die Terrasse ins Abendlicht zu setzen, wollte sich aber zuerst noch umziehen. Er stieg die Treppe hinauf und zog oben im Schlafzimmer die Anzugshose und das verschwitzte Hemd aus, schlüpfte in Shorts und T-Shirt und ging barfuß zurück in den Flur. Vor der Tür seines Sohnes zögerte er, klopfte dann aber doch. Als sich Benny auch nach dem zweiten Klopfen nicht meldete, öffnete Thomas vorsichtig die Tür und spähte ins Zimmer.
Durch die breiten Panoramafenster im ersten Stock konnte man die Bäume sehen, in denen jedes Jahr Störche ihre Nester bauten und auf den umliegenden Feldern und am Landgraben auf Nahrungssuche gingen – nicht, dass Benny sich dafür interessiert hätte, er saß lieber, so wie jetzt, bei heruntergelassenen Jalousien vor seinem PC und sah sich Videos von leerstehenden Fabriken und Lagerhallen an. Thomas stand in der offenen Tür und sah den gekrümmten Rücken seines Sohnes. Über den Bildschirm flimmerten verwackelte, dunkle Aufnahmen. Er klopfte erneut ans Türblatt, aber auch jetzt reagierte Benny nicht, erst da fielen ihm die Kopfhörer-Stöpsel in seinen Ohren auf. Natürlich.
Thomas stand noch eine Weile so da, beobachtete seinen Sohn und dachte daran, wie er ihn vor zwei Wochen nachts auf der Polizeiwache abgeholt hatte und wie sie schweigend nach Hause gefahren waren. Er wusste, dass er in dieser Nacht noch mit ihm hätte reden müssen, aber Benny schwieg und er fand mal wieder nicht die richtigen Worte, Vaterworte, also schwieg er auch.
Das Reden hatte Petra am nächsten Tag übernommen und sie hatte Benny auch dazu gebracht, die Namen der anderen Jungs zu nennen, die dabei gewesen waren. Sie war mit ihm zur Polizei gefahren, wo ihr Sohn seine Aussage ergänzte. Als sie wieder nach Hause kamen, verschwand Benny sofort auf sein Zimmer. Als Thomas fragte, wie es gelaufen sei, sah Petra ihn mit ihrem ›Das-wäre-dein-Job-gewesen-Blick‹ an und schüttelte nur den Kopf.
Vielleicht, dachte Thomas jetzt, wäre heute ja ein guter Abend, um endlich mal mit Benny zu reden, aber dann schloss er doch nur leise die Tür und ging wieder nach unten.
Nach der dritten Dose Bier war es draußen immer noch nicht ganz dunkel. Thomas saß, die Beine von sich gestreckt, auf der Terrasse und spürte die Restwärme des Tages in den Steinplatten unter seinen nackten Fußsohlen. Es gab Momente, in denen er tatsächlich vergaß, dass er nicht nur arbeitslos und verschuldet war, sondern sich wahrscheinlich auch bald vor Gericht würde verantworten müssen. »Rechtliche Schritte behalten wir uns natürlich vor«, hatte sein Chef gesagt. Er war um den Schreibtisch herumgekommen, hatte Thomas in die Augen gesehen und den Kopf geschüttelt: »Mein Gott, Danzer, was haben Sie sich nur dabei gedacht?«
Ja, was hatte er sich dabei gedacht? Vielleicht, dass er wenigstens einmal im Leben das Richtige tun wollte. Er hatte jemandem, der unverschuldet in Not geraten war, geholfen, das war alles.
Er würde jedenfalls als Banker nie wieder eine Anstellung finden. Vielleicht konnte er sich irgendwann als Versicherungsmakler und Vermögensberater selbstständig machen. Trotzdem: sie würden alles verlieren. Petra würde ihn verachten, was sie wahrscheinlich sowieso schon tat, und der Junge ...
Thomas sprang auf. Er wollte jetzt nicht darüber nachdenken. Er war schon auf dem Weg in die Küche, um sich die vierte Dose Bier zu holen, überlegte es sich aber anders und ging stattdessen ins Wohnzimmer an die kleine Vitrine, in der er seinen Whisky aufbewahrte. Er goss sich zwei Fingerbreit Chivas Regal in einen Tumbler und kehrte auf die Terrasse zurück. Dort schien es schlagartig dunkel und auch kühler geworden zu sein. Er zog sich das alte Sweatshirt über, das in der Campingbox auf der Terrasse lag und das er normalerweise nur zur Gartenarbeit trug, dann legte er sich in den Liegestuhl.
Der Stuhl war gut gepolstert, das Shirt wärmte und der Whisky, den er in kleinen Schlucken trank, machte ihn angenehm müde und schwer. Er dachte noch daran, dass er keinesfalls hier draußen einschlafen durfte, dann fielen ihm auch schon die Augen zu.
***
Zoran lag im rötlichen Licht des Bordellzimmers auf dem Doppelbett und wartete. Er war nur noch mit einem knappen schwarzen Sport-Slip bekleidet und wurde langsam unruhig.
»Hey«, rief er, »jetzt mach aber mal, dass du beikommst, ja?«
Zoran schob die beiden herzförmigen Kissen beiseite, lehnte sich auf die angewinkelten Ellenbogen und starrte die Badezimmertür an, hinter der das Mädchen, mit dem er sich handelseinig geworden war, vor einer gefühlten Ewigkeit verschwunden war.
»Hey, hörst du mich?«
Das kleine Miststück antwortete nicht. Zoran sprang auf und hämmerte gegen die Tür.
»Du hast es aber ganz schön eilig«, hörte er sie hinter der Tür kichern. »Ich komme ja gleich, Süßer.«
Zoran grunzte unwillig und wanderte halbnackt in dem kleinen Zimmer herum. Er schob eine der roten Blenden vor dem hohen Altbaufenster ein Stück zur Seite und sah nach unten. Die Taunusstraße lag im künstlichen Licht der Peepshows und Bordelle, Autos parkten am Straßenrand, auf dem Gehsteig die für einen Freitagabend übliche Mischung aus Partygängern, Freiern und Kanaken.
Als er hörte, wie sich hinter ihm eine Tür öffnete, drehte er sich lächelnd um, eine Hand im Schritt.
Der erste Schlag gegen die Brust warf ihn auf das Bett. Zoran war schnell wieder auf den Beinen, aber nicht schnell genug: der zweite Schlag ging ins Gesicht und schickte ihn gleich wieder auf die Matratze. Er spürte, wie seine Unterlippe anschwoll und hob abwehrend einen Arm vor die Augen.
»Lass erstmal mal gut sein«, hörte er jemanden sagen und nahm den Arm langsam wieder herunter.
Der Typ, der ihn geschlagen hatte, war klein und kompakt, dabei etwas überspeckt. Er trug einen schlecht sitzenden schwarzen Anzug, das zerknitterte weiße Hemd darunter bis zur Brust aufgeknöpft. Zoran schätzte den Angreifer auf Mitte vierzig, er hatte kurzes graues Haar und kleine Schweinsäuglein. Der andere Typ, der gesprochen hatte, trug den gleichen billigen Anzug, war aber schlank und einen Kopf größer als sein Kumpel. Die beiden wirkten wie eine billige, bösartige Version der Blues Brothers.
Die Tür zum Badezimmer wurde geöffnet und das Mädchen kam heraus. Sie hatte sich einen weißen Bademantel über die schwarze Spitzenunterwäsche gezogen und sah fragend von einem der Männer zum anderen.
»Verpiss dich«, sagte der Große, nachdem er sie einen Moment lang gemustert hatte. Der kleine Kompakte behielt die ganze Zeit über Zoran im Blick.
»Der hat aber noch nicht bezahlt«, sagte das Miststück kühl.
Zoran schnaubte: »Es ist ja noch nichts passiert!«
»Das wird es heute auch nicht mehr«, sagte der Große. »Raus jetzt.«
»Scheiße«, zischte das Mädchen, zog sich den Bademantel enger vor der Brust zusammen und stöckelte aus dem Zimmer.
Der Typ, der ihn geschlagen hatte, sagte etwas in einer Sprache, die Zoran nicht verstand. Es hörte sich wie eine Frage an.
»Er will wissen, wo du herkommst«, übersetzte der Große.
»Vom Frankfurter Berg«, sagte Zoran, und die beiden Kerle sahen sich an und brachen in Gelächter aus.
»Zoran vom Frankfurter Berg also? Ja?«
Der Name mal wieder, dachte Zoran. Wie oft hatte ihn der schon in die Scheiße geritten. Den slawischen Vornamen verdankte er seinem serbischen Vater, der sich aber kurz nach seiner Geburt vom Acker gemacht hatte. Seine Mutter, ein Frankfurter Mädchen durch und durch, hielt sich danach von Jugos fern, aber er hatte seinen Balkan-Namen weg.
Der kleine Kompakte versuchte es erneut auf Serbokroatisch, zumindest glaubte Zoran, dass es das war. Er schüttelte den Kopf, wischte sich etwas Blut vom Mund und sagte: »Tut mir wirklich leid, Kumpel, aber mit mir musst du deutsch reden.«
Der Kompakte machte ein beleidigtes Gesicht und sagte nichts mehr. Sein Partner sog scharf die Luft ein, als hätte er auf einmal Schmerzen bekommen.
»Hör mal, du solltest nicht so auf den Gefühlen meines Freundes hier herumtrampeln, er wollte nur freundlich sein.«
Zoran betastete seine immer noch dicker werdende Lippe und sagte nichts. Ein Schneidezahn wackelte.
»Also mein Freund Vito hier«, fuhr der Große fort, »war als junger Mann da unten im Krieg, da hat er ... naja, ich will es mal so sagen: Er hat bestimmte Sachen gelernt.«
Vito sah Zoran mit gespielter Freundlichkeit an und lächelte. Im nächsten Moment spürte er dessen Finger rechts und links an seinem Hals nach etwas tasten. Die Berührung war sanft, fast zärtlich, zumindest so lange, bis er den entscheidenden Punkt gefunden hatte. Vito nickte kurz, dann drückte er zu und augenblicklich bekam Zoran keine Luft mehr. Er glaubte, ersticken zu müssen, riss die Augen auf und öffnete den Mund in dem vergeblichen Bemühen, so besser atmen zu können. Der Mann ließ ihn noch einen Moment lang zappeln, dann verringerte er den Druck und Zoran bekam wieder etwas besser Luft. Es fühlte sich allerdings an, als müsse er durch einen Strohhalm atmen. Zoran versuchte, sich möglichst wenig zu bewegen, aus Angst, den Kerl damit zu provozieren. So musste sich Waterboarding anfühlen, dachte er, nur ohne Wasser.
»Alle Theorie ist grau«, sagte der Große achselzuckend. »Eine praktische Demonstration macht doch immer gleich viel mehr Eindruck, nicht wahr?«
Vito zog seine Finger zurück und Zoran schnappte nach Luft.
»Und jetzt bringst du uns das, was du gestohlen hast.«
Der Große begann Zorans Klamotten, die auf einem Stuhl vor dem Bett lagen, nach Waffen abzusuchen und warf ihm dann ein Teil nach dem anderen zu.
»Anziehen!«
Zoran versuchte, Zeit zu gewinnen. Er zog sich extrem langsam an und dachte währenddessen über einen Ausweg nach. Als er gerade umständlich in seine Jeans stieg, spürte er Vitos Hand auf seiner Schulter.
»Ein kleiner bisschen schön schneller ... bitte?«, radebrechte der Mann vom Balkan und lächelte Zoran dabei auf eine Art und Weise an, die keinen Zweifel daran ließ, dass er ihm ansonsten auch gern helfen könnte.
Sie dirigierten ihn aus dem Zimmer und über einen spärlich beleuchteten Flur ins hintere Treppenhaus. Die Wände waren kahl und der Teppichboden abgetreten, ein grün-weiß beleuchtetes Schild über ihren Köpfen wies auf den Notausgang hin.
»Du gehst vor«, sagte der Große. Zoran spürte, wie Vito ihm den Lauf einer Pistole in den Rücken stieß.
Sie gelangten in einen düsteren Hinterhof. Hier standen Mülltonnen unterhalb einer Mauer, die das Grundstück begrenzte. Rechts ein Kellerabgang, links um die Hausecke herum war eine Einfahrt, die auf die Taunusstraße mündete.
Der Große sah um die Ecke und winkte sie heran. Er drehte sich im Halbdunkel um und fragte: »Also, Zoran vom Frankfurter Berg, wo müssen wir hin?«
Zoran holte schon Luft, um zu antworten, als etwas aus der Dunkelheit hinter ihnen hervor gesprungen kam. Der Große wich erschrocken zurück, aber Vito fuhr herum und riss die Pistole hoch. Zoran dachte nicht nach, sondern handelte: Er packte Vitos ausgetreckten Arm, entriss ihm die Pistole, drehte sich ein Stück von ihm weg und drückte ab. Der Schuss dröhnte unnatürlich laut durch den Hinterhof. Die Katze entwischte durch die Hofeinfahrt, der kompakte Balkankrieger riss den Mund auf und fiel auf die Knie.
Zoran hielt die Waffe in der Hand und starrte sie an, als könne er nicht glauben, was er soeben getan hatte. Eine Schrecksekunde lang schien alles stillzustehen, dann rannte er los.
Er sprang auf eine der Mülltonnen und erreichte den First der Mauer, dann fiel ein weiterer Schuss und gleichzeitig erhielt Zoran einen Schlag in den Rücken, der ihn über die Mauer warf. Er fiel in einen Busch, dessen Zweige sich unter seine Jacke und das T-Shirt schoben und ihm Bauch und Rücken zerkratzten. Der Busch bremste seinen Sturz, trotzdem verlor er beinahe das Bewusstsein, als er auf der anderen Seite der Mauer in der Dunkelheit aufschlug. Zoran sog Luft ein, seine Lungen brannten, Tränen schossen ihm in die Augen, dann lag er still. Es roch nach Erde und Müll und verdorbenem Essen. Er riss die Augen auf, sah im Haus gegenüber ganz weit oben verschwommen ein Licht angehen. Er wartete, ohne zu wissen worauf, hörte einen Hund bellen und jemanden nach der Polizei rufen, dann war wieder alles still. Er versuchte, auf die Beine zu kommen, aber es ging nicht, sein Rücken fühlte sich an, wie in der Mitte auseinandergebrochen. Zoran musste husten, er brachte einen Schwall warmen Sirups hervor, spuckte ihn aus und hatte auf einmal den metallischen Geschmack von Blut in seinem Mund. Erst jetzt begriff er, dass der Große ihn in den Rücken geschossen hatte. Er hörte ein Martinshorn ganz weit weg. Es schien sich zu nähern, dann wieder zu entfernen. Das Licht in einem der oberen Stockwerke im Gebäude gegenüber erlosch, und Zoran schloss die Augen.