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Freitag, 7. Juni 2019

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Thomas erwachte, weil die Vögel zwitscherten und ihm kalt war. Er blinzelte in die Sonne, die über den Feldern aufging und erste Strahlen auf die Terrasse warf. Verwundert stellte er fest, dass ihn irgendwer in der Nacht zugedeckt haben musste. Er löste sich aus der Decke, setzte sich auf und massierte seinen schmerzenden Rücken mit den Händen. Die Terrassentür stand offen und aus dem Haus duftete es nach Kaffee.

Petra erschien mit einem schiefen Grinsen im Gesicht im Türrahmen und kam zu ihm heraus. Sie trug ihre Joggingklamotten, war noch etwas außer Atem und ihr Gesicht vom Laufen erhitzt.

»Guten Morgen, ausgeschlafen?«

Thomas schloss die Augen und schüttelte den Kopf.

»Hast es gestern Abend wohl nicht mehr ins Bett geschafft, nachdem du dir hier einen angesoffen hast.« Sie riss die Arme in die Höhe und beugte sich dann tief hinunter, bis ihre Fingerspitzen den Boden berührten.

»Ich hab gar nicht so viel getrunken, war nur total müde ...«

»Wie auch immer«, entgegnete Petra, erhob sich wieder und streckte die Arme der Sonne entgegen.

»Hast du mich zugedeckt?«

»Wer sonst.«

»Hm, Danke ...«

Petra sagte nichts, sondern fuhr mit ihren Stretching-Übungen fort.

In der Küche stand noch Kaffee auf der Warmhalteplatte. Thomas nahm eine Tasse aus dem Schrank und schenkte sich ein. Einer der letzten kleinen Genussmomente in seinem Leben: Der erste Schluck Kaffee am Morgen.

Er fühlte sich wie gerädert, wahrscheinlich hatte ihm allerdings das Schlafen auf dem Liegestuhl mehr zugesetzt als die drei Dosen Bier und der doppelte Whisky.

Petra kam herein mit ihren Sportschuhen in der Hand. Sie löste geschickt das Haargummi an ihrem Hinterkopf und schüttelte die halblangen blonden Haare. Ihre Wangen waren immer noch gerötet. Thomas sah, wie sich ihre kleinen straffen Brüste unter dem engen Funktionsshirt abzeichneten, als sie sich zu ihm drehte.

»Du denkst dran, dass wir morgen Abend verabredet sind?«

»Ja, klar, tut mir leid, Steffen war mal wieder ...«

»Alles gut, immer noch besser, als mit dir hier allein herumzuhocken.«

Thomas holte Luft, um etwas zu entgegen, aber dann fiel ihm nichts ein, was er darauf hätte sagen können.

»Ich gehe duschen«, sagte Petra, mehr zu sich selbst als zu ihm, und ging nach oben.

Thomas sah auf die Uhr am Herd. Heute würde er zur Sicherheit zwei Züge später nehmen. Nach dem Duschen würde Petra sich in ihr kleines Büro unterm Dach zurückziehen, wo sie sich um die Buchhaltung ihrer Kunden kümmerte, sie hatte sich vor kurzem selbstständig gemacht und suchte noch nach Auftraggebern. Bis jetzt hatte sie lediglich eine kleine Buchhandlung, eine freiberufliche Kosmetikerin und einen Homöopathen als Kunden, die ihr alle persönlich bekannt waren und daher Vorzugspreise bekamen. Die Kosten für den Dachausbau waren damit auf absehbare Zeit jedenfalls nicht zu finanzieren. Thomas spürte ein Stechen in der Brust und schüttete den Rest des bitter gewordenen Kaffees in die Spüle.

Die Vormittage in Frankfurt verbrachte er meist im Kino oder im Museum. Manchmal saß er auch stundenlang in einem Café und tat so, als lese er die Rundschau. Im Grunde aber tat er nichts, er ging irgendwo hin, saß herum und wunderte sich, wie schnell dabei die Zeit verging. Natürlich grübelte er. Manchmal meinte er, einen Ausweg aus seiner Lage gefunden zu haben, der sich aber stets als Hirngespinst entpuppte.

An diesem Freitag machte er mal wieder einen langen Spaziergang die Mainpromenade entlang, überquerte den Holbeinsteg auf die Sachsenhäuser Seite des Mains und kaufte sich eine Karte fürs Städelmuseum, wo man sich bereits fieberhaft auf die große van Gogh-Ausstellung im Herbst vorbereitete. Er verbrachte zwei Stunden in der aktuellen Ausstellung und als er das Museum wieder verließ, hätte er nicht sagen können, was er gesehen hatte. Sein Kopf war prallvoll und vollkommen leer zugleich. In seinem dunklen Anzug, der gestreiften Krawatte und mit der weinroten schweinsledernen Dokumententasche kam er sich mittlerweile wie verkleidet vor. Er war den Pennern und Junkies, die ihn im Bahnhofsviertel manchmal um Kleingeld anpumpten, doch schon näher als seinen alten Kollegen, deren bevorzugte Bistros und Restaurants er zur Lunchzeit geflissentlich mied.

Ziellos wanderte er durch die Stadt und landete schließlich um die Mittagszeit in einer Pilsstube in der Elbestraße, die schon am Vormittag geöffnet hatte. Hierher würde sich garantiert niemand aus den Bankentürmen verirren.

In dem engen, düsteren Gastraum roch es nach Zigaretten und abgestandener Luft. An der Theke saß eine aufgedunsene, grellgeschminkte Frau unbestimmten Alters vor einem leeren Cognacschwenker, sie hob kurz den Kopf, als Thomas hereinkam, und musterte ihn ungeniert. In der Ecke gegenüber saß ein mageres Männchen in einem ausgeleierten Trainingsanzug auf einem Barhocker und drückte scheinbar wahllos auf die Knöpfe eines Spielautomaten. Der Wirt hinter der Theke war ein kleiner Glatzkopf mit Hängebacken und einem verblassten Adler-Tattoo auf dem Hals.

»Na? Gibste einen aus?«, fragte die Frau an der Theke und klopfte mit dem Fingernagel gegen ihr Glas.

»Lasse emol den Mann in Ruh, Ellie, sonst fliegste raus!«, griff der Wirt sofort ein, bevor Thomas etwas entgegnen konnte.

Die Angesprochene schnaubte und zündete sich eine Zigarette an. Der Mann am Spielautomat drehte sich kurz zu ihnen um und grinste, bevor er sich wieder den rotierenden Scheiben und blinkenden Lichter zuwandte. Der Automat begann eine Melodie zu spielen, dann stand alles still.

»So ’ne Scheiße«, maulte der Mann und suchte in der Tasche seiner Jogginghose nach Kleingeld.

Okay, dachte Thomas, das hier war dann doch noch ein wenig unter seinem Niveau, aber trotzdem setzte er sich. Ein Aschenbecher mit Kümmerling-Werbung war der einzige Schmuck auf der zerkratzten Tischplatte vor ihm. Er suchte den Blick des Wirts, der hinter den Tresen gebeugt gerade eine Lade mit gerippten Äppelwoi-Gläsern aus der dampfenden Spülmaschine hob.

»Biersche odder liewer Äppler?«

Thomas wollte eigentlich gar keinen Alkohol trinken, bestellte aber ein Pils. Der Wirt nickte, stellte die Gläser ab und begann mit dem Zapfen.

Die Frau an der Theke murmelte etwas vor sich hin, der Spielautomat dudelte seine Melodien, das magere Männchen fluchte, von dem sonnigen Tag draußen bekam man hier drin nichts mit. Thomas fragte sich, was Petra wohl sagen würde, wenn sie ihn jetzt so sehen könnte. Und Benny. Oder Steffen ...

»Zum Wohl.« Der Wirt stellte das große Bier auf den Tisch und sah ihn einen Moment aus seinen traurigen Augen an, dann schlurfte er zurück zum Tresen. Er wechselte ein paar Worte mit der Frau, die kurz darauf die Kneipe verließ.

Thomas trank sein Bier. Mit jedem Schluck schmeckte es besser. Da er noch nichts gegessen hatte, spürte er fast augenblicklich den Alkohol, ein leichter Schwindel erfasste ihn, der nicht gänzlich unangenehm war. Der Mann am Spielautomat gab schließlich auf und rutschte vom Hocker. Er legte ein paar Münzen auf die Theke und ging. Jetzt war Thomas der einzige Gast.

Als er sein Bier getrunken hatte, kam der Wirt an seinen Tisch, um das leere Glas abzuräumen. »Noch eins?«

Thomas schüttelte den Kopf, bezahlte und fragte nach den Toiletten. Der Wirt steckte das Trinkgeld danklos ein und deutete mit dem Daumen hinter sich zu einem schmalen Durchgang.

In dem gekachelten Flur roch es nach Klosteinen. An einem Ende des Ganges stand eine Tür offen, die auf einen Hinterhof hinausführte, am anderen befanden sich die Toiletten. Thomas öffnete die Tür der Herrentoilette und der Klosteingeruch steigerte sich derart, dass ihm fast schlecht wurde. Er fühlte sich taumelig und musste sich einen Moment an der Wand abstützen. Im Spiegel über dem Waschbecken sah er sein Gesicht, er hatte vergessen, sich heute Morgen zu rasieren. Er wollte einen Schluck Wasser trinken, ekelte sich aber vor dem verdreckten Wasserhahn. Zu allem Überfluss regte sich jetzt auch noch sein Darm.

Gegenüber der Pissrinne gab es eine einzige Klokabine, deren Tür aber geschlossen war.

Thomas drückte die Klinke herunter und war mit einem Schlag wieder vollkommen nüchtern.

Der Mann, der mit heruntergelassener Hose auf der Toilette saß, richtete eine Pistole auf Thomas, er sah den Lauf direkt auf seine Körpermitte zielen, reflexartig hob er die Hände.

»Nicht ... nicht schießen ... bitte ...«

Der Mann gab ein Stöhnen von sich. Die Pistole in seiner Hand zitterte. Seine Jeans und die Unterhose lagen ihm als zerknautschter Haufen um die Knöchel. Mit der freien Hand fuhr sich der Mann über die Brust, er trug ein blutverkrustetes Poloshirt, auch seine Hände waren voller Blut.

»Brauchen Sie Hilfe?«

Der Mann verzog sein Gesicht, es sah fast so aus, als versuche er zu lachen. Er griff in die Brusttasche seines Shirts und holte etwas heraus, hielt es zwischen seinen Fingern, dann versuchte er, sich die Hosen hochzuziehen, kam aber, als er die Unterhose schon halb über dem Hintern hatte, ins Straucheln und stürzte zwischen Kabinenwand und Toilettenschüssel, die Waffe rutschte ihm aus der Hand und fiel auf den gefliesten Boden, der Kopf sank ihm auf die Schulter, dann lag er ganz ruhig.

Thomas nahm langsam die Arme herunter. Er stand einen Moment vollkommen reglos. Durch das kleine geöffnete Fenster über dem Pissoir hörte er jemanden lachen, eine Autotür wurde zugeschlagen, ein Motor angelassen, dann war alles wieder still.

Der Mann sah jetzt fast so aus, als würde er schlafen, nur der verdrehte Körper und die weit aufgerissenen Augen passten nicht dazu. Thomas hatte noch nie zuvor eine Leiche gesehen, aber er wusste, dass dieser Mann definitiv tot war. Er musste dem Wirt Bescheid sagen. Die Polizei rufen. Er würde als Zeuge vernommen und vielleicht sogar vor Gericht zitiert werden. Er würde ...

Thomas sah sich um, er war ganz allein mit dem Toten. Er trat einen Schritt zurück. Auf dem Boden vor der Kloschüssel lag etwas. Er bückte sich und hob es auf. Es war ein Schlüssel. Er war sich nicht sicher, glaubte aber, dass er zu einem der Schließfächer im Hauptbahnhof passen könnte. Thomas hatte im letzten Frühjahr einmal Wechselkleidung für den Abend dort deponiert, als seine Abteilung einen feuchtfröhlichen Ausflug mit dem ›Ebbelwei-Express‹ unternommen hatte. Er würde den Schlüssel der Polizei übergeben und ihnen sagen müssen, dass er ihn aufgehoben hat, wegen der Fingerabdrücke natürlich. Er würde ...

Thomas steckte den Schlüssel ein, dann schloss er die Kabinentür hinter sich und verließ den Toilettenbereich. Aus dem Gastraum war nichts zu hören außer dem gelegentlichen Gedudel des Glücksspielautomaten. Die Tür am Ende des Flurs zum Hinterhof war immer noch mit einem Keil blockiert und stand weit offen.

***

Maik kam nur selten hier herauf. Die Gefahr, von der Straße aus gesehen zu werden, war einfach zu groß.

Seit er vor zehn Jahren auf der Flucht vor einem seiner Betrugsopfer zum ersten Mal im Gebäudekomplex des alten Polizeipräsidiums gewesen war, hatte sich einiges verändert. Waren es am Anfang meistens Junkies und Obdachlose, die sich nachts im Gebäude herumtrieben, kamen nun richtige kleine Banden auf der Suche nach Kupfer und anderem verwertbarem Metall und lieferten sich mit den Mitarbeitern des Sicherheitsdienstes ein Katz-und-Maus-Spiel. Maik kannte sich mittlerweile so gut in dem alten Kasten aus, dass er sowohl den einen als auch den anderen erfolgreich aus dem Weg gehen konnte. Der Bau war jedenfalls ideal für jemanden, der kurzzeitig von der Bildfläche verschwinden musste, und das hatte er in den vergangenen Jahren immer mal wieder tun müssen, aber wohl noch niemals so dringend wie im Moment.

Die Wendeltreppe im Dach des alten Präsidiums führte in die verglaste Kuppel des Turms, von der aus man auf einen Umlauf treten konnte und an klaren Tagen wie heute einen schönen Blick über Frankfurt hatte. Unter den Dachsparren und zwischen den von Tauben zugeschissenen Verstrebungen stand im Sommer die Hitze, aber sobald man oben aus dem Turm trat, war die Luft frisch und ließ einen aufatmen. Maik hielt sich von der Brüstung fern, lehnte sich an die Kuppel und zündete sich eine Zigarette an. Unter ihm rauschte der Verkehr über die Ebert-Anlage und in der Ferne erhob sich der Ginnheimer Spargel vor einem wolkenlosen, tiefblauen Himmel. Die Sonne spiegelte sich in den verglasten Hochhausfassaden gegenüber, es war ein herrlicher Frühsommertag – und Maik saß bis zum Hals in der Scheiße.

Die Kurierfahrten kreuz und quer durch Deutschland und oft auch darüber hinaus waren in den letzten 12 Monaten zu seiner Haupteinnahmequelle geworden. Er kannte seine Auftraggeber nicht, er kannte nur ständig wechselnde Kontaktleute und deren Namen, die garantiert nicht ihre richtigen waren. Man kommunizierte sowieso fast nur über Prepaidhandys. Meistens fuhr er Drogen, manchmal Diebesgut, selten auch Waffen. Die Bezahlung war extrem hoch, das Risiko aber auch. Wenn er erwischt würde, gäbe es kein Netz und niemanden, der ihn raushauen könnte.

Für die langen Fahrten brauchte er einen zuverlässigen Beifahrer, mit dem er sich am Steuer abwechseln konnte. Und blöd wie er war, hatte er sich seinen alten Kumpel Zoran dafür ausgesucht. Und natürlich für ihn gebürgt ...

Maik drückte die Zigarette an der mit Graffitis beschmierten Glaswand aus und machte sich an den Abstieg. Am Anfang hatte er jedes Mal einen Drehwurm bekommen, wenn er die Wendeltreppe zu schnell hinuntergepoltert war. Unten angekommen, war er dann wie ein Betrunkener mit dem Kopf gegen eine der massiven Querstreben getaumelt und hatte sich die eine und andere üble Beule zugezogen.

Heute machte er langsam, auf halber Höhe saß eine Taube im Gebälk und gurrte ihn an.

»Scheißvieh«, zischte Maik, es kam ihm so vor, als lache die Luftratte ihn aus, weil er so naiv gewesen war, seinem Jugendfreund Zoran zu vertrauen.

Sie waren im Stadtteil Frankfurter Berg aufgewachsen und hatten beide das gleiche Problem: Ihre Namen weckten falsche Vorstellungen. Zoran war kein Jugo und Maik kein Ossi. Er war zwar in Thüringen geboren, aber mit seiner hessischen Mutter schon im zarten Alter von zwei Jahren nach Frankfurt gekommen. Auch das hatten die beiden Jungs gemeinsam: alleinerziehende Mütter, die mit ihren Söhnen heillos überfordert waren.

Mit Zoran hatte er damals im Viertel Automaten geknackt und war nachts in Wasserhäuschen eingestiegen, und als sie erwischt und vom Jugendgericht verknackt wurden, hatte er mit ihm zusammen Sozialstunden abgeleistet. Später hatten sie sich aus den Augen verloren. Maik war nach der Hauptschule (und ein paar abgebrochenen berufsvorbereitenden Maßnahmen und Lehrstellen) ein paar Jahre beim Bund hängengeblieben, hatte später im Sicherheitsdienst und als Türsteher gearbeitet und nebenbei immer mal was vertickt, Hehlerware an den Mann gebracht, mit weichen Drogen gedealt, Autos der gehobenen PS- und Preisklasse ›überführt‹, die bei Nacht und Nebel den Besitzer wechselten.

Dann kam der Job als Kurierfahrer und ausgerechnet da war ihm Zoran wieder über den Weg gelaufen – der gute alte Zoran, nicht besonders helle in der Birne, aber einer, auf den man sich immer verlassen konnte. Zumindest hatte er das bis vor rund 24 Stunden geglaubt.

Der alte Teil des Präsidiums war ein Konstrukt aus endlosen Fluren, Zimmerfluchten und Treppenhäusern, die einem die Orientierung raubten, wenn man zum ersten Mal hier war. Mittlerweile fand sich Maik notfalls auch nachts mit einer kleinen Taschenlampe zurecht, wenn er auf den Wegen blieb, die ihm vertraut waren. An einem Sommertag wie heute schien die Sonne durch die hohen Fenster und ließ die Staubkörner auf den Fluren in der Luft tanzen. Die zugemüllten und von Unkraut überwucherten Innenhöfe wirkten dann wie verwunschene Oasen, die einen lockten und gleichzeitig abstießen.

Maik machte sich auf den Weg in den Neubau des Präsidiums, der über einen brückenartigen Verbindungsgang vom alten Gebäude aus zu erreichen war. Hier war die Feuchtigkeit teilweise schon so tief ins Mauerwerk eingedrungen, dass in manchen Zimmern farnartige Pflanzen zwischen den Bodenplatten hervorwuchsen und grüner Schimmel großflächig die Außenwände bedeckte. Einige der Zimmer im zweiten Stock waren jedoch in passablem Zustand, hier hingen sogar noch die alten Büroschilder der entsprechenden Kommissariate vor den Büros.

Maik betrat das Büro, in dem er die Nacht verbracht und seinen Rucksack zurückgelassen hatte. Vom Fenster aus sah er auf die Mainzer Landstraße herunter, Autos fuhren vorbei, Menschen bevölkerten die Bürgersteige, eine Ampel sprang auf Rot, der Verkehr stockte. Ein LKW bremste abrupt ab und der tiefergelegte Sportwagen hinter ihm wechselte rasant die Spur.

Der Klingelton seines Handys ließ ihn zusammenzucken. Bisher hatte er alle Anrufe unbeantwortet gelassen, aber er wusste, dass er früher oder später rangehen musste.

»Ja?«, meldete er sich, und der Anrufer sagte genau das, was Maik erwartet hatte.

»Er hat Scheiße gebaut, ja, ich weiß, aber ...«

Der Anrufer ließ ihn nicht ausreden. Sie hatten den BMW am Osthafen gefunden. Natürlich ohne die Ware. Sie hatten Zoran in einem Puff im Bahnhofsviertel aufgestöbert, er war ihnen aber entkommen. Offenbar hatte er sogar einen seiner Verfolger erschossen, aber wohl auch selbst etwas abbekommen. Ob er wisse, wo sein Kumpel jetzt stecken könne?

Maik dachte fieberhaft nach, aber ihm fiel nur die kleine heruntergekommene Hochhauswohnung im Niederräder Mainfeld ein, in der Zoran zuletzt gehaust hatte, aber so doof, sich dort zu verstecken, war noch nicht einmal Zoran. Er versprach dem Anrufer trotzdem, dort als Erstes zu suchen.

»Ich finde ihn, okay? Ich bring das wieder in Ordnung, garantiert, ich brauche nur ...«, sagte Maik, aber der Mann schnitt ihm erneut das Wort ab.

Maik ließ sich mit dem Rücken gegen die Wand fallen und atmete erschöpft aus.

»Eine Woche«, hatte der Anrufer gesagt und aufgelegt.

***

»Hier entlang geht’s zu den Mädels, Kumpel.« Der Typ, der rauchend im Hauseingang lehnte, zwinkerte Thomas zu.

Offenbar war er etwas zu lange stehen geblieben und wirkte jetzt wie ein schüchterner Freier, dabei war er nur verwirrt. Thomas schüttelte den Kopf.

»Dann halt nicht«, knurrte der Typ, warf seine halbgerauchte Zigarette auf die Straße und verschwand wieder im Haus.

Thomas sah auf den Schlüssel in seiner Hand. Was machte er da eigentlich? Was war denn nur in ihn gefahren? Noch konnte er umkehren und ... und was?

Der Mann im Klo war jedenfalls tot. Der stellte keine Forderungen mehr. Der Wirt würde ihn früher oder später finden und die Polizei rufen. Thomas dachte an die Waffe. Noch nie in seinem Leben hatte jemand mit einer Waffe auf ihn gezielt. Einer scharfen Waffe. Thomas bekam sofort wieder weiche Knie, wenn er daran dachte.

Wieder sah er auf den Schlüssel in seiner Hand. Was auch immer in diesem Schließfach war, es konnte nichts Gutes sein. Vielleicht war es aber auch nur ein Sack mit Schmutzwäsche oder die Habseligkeiten eines kleinen Milieugangsters. Oder aber doch ein Koffer voller Geld? Quatsch, dachte er, so etwas gibt es nur im Fernsehen.

Er konnte immer noch zur Polizei gehen, eine Aussage machen, alles erklären. Er war in Panik geraten und abgehauen, dafür mussten die doch Verständnis haben. Dafür wurde man doch nicht gleich irgendwie belangt. Die Situation war schließlich auch alles andere als gewöhnlich.

Während er noch darüber nachdachte, was er der Polizei erzählen würde (und was eher nicht), war Thomas die Taunusstraße weiter in Richtung Hauptbahnhof gegangen. Er nahm die Rolltreppe zur B-Ebene hinunter und dann den Aufgang zur Bahnhofshalle auf der gegenüberliegenden Seite. Aus den Geschäften und Stehcafés kamen Reisende und sahen gehetzt auf die große Anzeigetafel an der Stirnseite der Halle. Thomas folgte den Hinweisschildern zu den verwinkelten Wänden mit den Schließfächern. Er verglich die Schlüsselnummer mit den Türreihen und fand das entsprechende Fach ohne Probleme.

Er wartete, bis ein langhaariger Rucksacktourist seine sieben Sachen in einem großen Bodenfach verstaut hatte und er zumindest für einen kurzen Moment allein war. Durch die Fenster im oberen Drittel fielen Sonnenstrahlen in den schmucklosen Raum mit den zerkratzten Spinden, vor dem Bereich mit den Schließfächern befand sich ein Durchgang nach draußen zum Bahnhofsvorplatz. Hier würde man wohl nie gänzlich unbeobachtet sein.

Thomas zögerte. Ein Gedanke durchzuckte ihn: Gab es hier eigentlich Überwachungskameras? Er sah sich um, konnte aber nirgends etwas entdecken, auch entsprechende Hinweisschilder waren ihm nicht aufgefallen. Dann rief er sich zur Ordnung. Er verhielt sich ja schon selbst wie ein Krimineller, dabei konnte er das, was er in dem Schließfach fand, später immer noch zur Polizei bringen.

Genau das würde er auch tun. Und mit diesem Vorsatz öffnete Thomas das Fach.

Eine blaue Adidas-Sporttasche mit Reißverschluss und Trageriemen befand sich im Inneren. Thomas atmete einmal durch, dann nahm er sie heraus. Sie war nicht besonders schwer. Wechselwäsche, ein Kulturbeutel, ein Paar Schuhe, vom Gewicht käme das hin. Beinahe hätte er gelacht. Trotzdem war er nicht so leichtsinnig, die Tasche hier zu öffnen.

Der Toilettenbereich im Hauptbahnhof war zahlungspflichtig, aber dafür sauber. Er warf einen Euro in den Automaten an der Schranke und betrat den gefliesten Raum, der gerade von einem dunkelhäutigen jungen Mann im weißen Kittel geputzt wurde. Der Junge hatte Audiostöpsel in den Ohren und lächelte beseelt bei der Arbeit. Thomas schloss sich in einer der rundum dichten Kabinen ein. Schon wieder eine Toilette, dachte er, setzte sich auf den heruntergeklappten Klodeckel und sah auf die Tasche zwischen seinen Beinen. Er zog den Reißverschluss auf und fand mehrere durchsichtige Päckchen mit weißem Pulver.

Wenn man von dem Joint absah, an dem er im Spätsommer 1993 kurz nach dem Abitur zweimal gezogen hatte, hatte Thomas keinerlei Erfahrung mit Drogen, außer natürlich mit Alkohol. Aber dass es sich bei der weißen Substanz in der Tasche nicht um Backpulver handelte, war ihm sofort klar. Kokain oder Heroin wahrscheinlich. In den Krimis, die er sich manchmal mit Petra ansah, befeuchteten die Ermittler oder Dealer immer einen Finger, nahmen ein paar Körnchen auf und konnten dann am Geschmack feststellen, um welche Droge es sich handelte und ob sie verschnitten oder rein war. Aber dazu musste man ja zumindest eine theoretische Idee haben, wie das Zeug schmeckte.

Thomas zog den Reisverschluss der Tasche wieder zu und hob sie an. Sie kam ihm jetzt schwerer vor als vor ein paar Minuten, als er noch nicht gewusst hatte, was sich darin befand. Vier, vielleicht fünf Kilo, schätzte er. Was kosteten fünf Kilo Kokain? Auch davon hatte er keine Ahnung. Und davon, wie und an wen man so etwas verkaufte auch nicht. Musste er auch nicht.

Thomas verließ Kabine und Toilettenbereich und kehrte in die Bahnhofshalle zurück. Es war ein merkwürdiges Gefühl mit einer Tasche voller Drogen in der Öffentlichkeit herumzulaufen. Er wusste, dass es am Nordausgang des Bahnhofs am Gleis 24 einen Stützpunkt der Bundespolizei gab. Auf einmal hatte er das Gefühl, etwas vergessen zu haben, wusste aber nicht was. Thomas blieb abrupt stehen und dachte nach. Menschen hasteten an ihm vorbei, ein Kleinkind stolperte über einen Trolley, legte sich der Länge nach hin und begann zu plärren, die Mutter zog die Kleine schimpfend wieder auf die Beine. Jemand rempelte ihn von hinten an, ohne sich zu entschuldigen.

Etwas fehlte, aber er kam nicht darauf, was es war. Thomas schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich war er einfach überreizt.

Eine Zwei-Mann-Streife kam ihm entgegen. Er überlegte, sie anzusprechen, ließ es dann aber sein. Auf der großen Anzeigetafel wurden gerade die nächsten Zugabfahrten aktualisiert. Die S-Bahn nach Hause ging in einer Minute. Thomas starrte noch einen Moment auf die Anzeige, dann ging er langsam in Richtung Gleis 1 davon. Wenn die Bahn schon weg war, würde er die Tasche zur Polizei bringen, wenn nicht ...

Die S7 stand abfahrbereit, als Thomas am Bahnsteig ankam. Er betätigte den Drücker an der Außenseite des ersten Waggons und die Tür öffnete sich, er machte einen Schritt hinein und stand im Eingangsbereich des Abteils. Hinter ihm zischte die Türverriegelung und der Zug setzte sich fast augenblicklich danach mit einem Ruck in Bewegung, so als habe sie nur noch auf ihn gewartet.

Thomas musste sich am Gepäckfach über ihm festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Als die S-Bahn unter der Bahnhofsüberdachung ins Freie rollte, stand er immer noch wie betäubt zwischen den Sitzreihen, die Sonne im Gesicht und eine Tasche voller Kokain zwischen den Füßen.

***

Zorans Wohnung befand sich im achten Stock eines Hochhauses im Niederräder Mainfeld. Maik war schon einige Male hier gewesen und hatte nach Alkohol- oder Drogenabstürzen auch manchmal bei Zoran übernachtet. Als er am späten Nachmittag dort ankam, wehte ein auffrischender Wind, der Sommer schien ausgerechnet über die Feiertage eine Pause einlegen zu wollen.

Auf dem gefliesten Boden im Eingangsbereich des Hochhauses lag ein Packen verschnürter Gratis-Zeitungen. Eine Reihe mit Briefkästen auf der einen Wandseite, eine Klingelanlage mit Namensschildchen auf der anderen. Maik steckte die flache Hand so tief wie möglich in Zorans Briefkastenschlitz und fand die mit Klebeband an der Rückwand befestigten Ersatzschlüssel.

Der Fahrstuhl wartete schon, er stieg ein und drückte den Knopf für das achte Stockwerk, die Türen schlossen sich und der Aufzug setzte sich in Bewegung.

Auf der Etage roch es nach Essigreiniger. Eine anonyme Tür reihte sich an die andere. Vor Zorans Wohnung blieb er stehen und lehnte sich mit dem Ohr gegen das Türblatt. Von drinnen war nichts zu hören. Er drückte auf den Klingelknopf an der Wand neben der Tür, hörte es in der Wohnung schellen und trat einen Schritt zurück.

»Der ist nicht da!«, hörte Maik jemanden sagen, fuhr erschrocken herum und sah einen alten Mann in Hausschuhen vor einer offenen Tür am anderen Ende des Flurs stehen. Der Nachbar hatte die Hände in die Hüften gestemmt und sah lauernd zu ihm herüber. »Schon seit Tagen ist der nicht da.«

»Ach ja?«

»Ja, seit Tagen. Den kriegt man eh kaum zu Gesicht. Und den Flur putzt er auch nicht. Sind Sie ein Freund von dem?«

»Ich ... bin von den Stadtwerken«, erwiderte Maik und wusste, dass der Alte ihm kein Wort glaubte. Sein Rucksack und der zusammengerollte Schlafsack lehnten an der Flurwand.

»So, so, von den Stadtwerken also, na dann ...« Der Alte zog sich wieder in seine Wohnung zurück. Nachdem er die Tür geschlossen hatte, hörte Maik, wie der Mann von innen zweimal abschloss.

In Zorans Wohnung roch es nach kaltem Rauch und Schweißfüßen. Maik öffnete das Wohnzimmerfenster und ließ frische Luft herein, Regenwolken schoben sich vor die Sonne über der Frankfurter Skyline am anderen Mainufer.

Die kleine Wohnung war spärlich möbliert: ein niedriger Wohnzimmertisch, eine durchgesessene Couch, eine schäbige Pressspan-Kommode auf der ein Fernseher stand. Brandlöcher im Teppich, ein überquellender Aschenbecher, leere Bierdosen.

In der Küche stapelte sich schmutziges Geschirr in der Spüle, auf einem alten Wirtshaustisch in der Ecke standen noch mehr leere Bierdosen und eine halbvolle Flasche Jim Beam. Maik schraubte den Verschluss ab, roch an der Öffnung, dann nahm er einen kräftigen Schluck. Der Whisky brannte im Rachen, verbreitete aber sofort angenehme Wärme in seinem Bauch. In Zorans Kühlschrank fand er eine Flasche Cola light, ein paar Eier und Tomaten sowie einen Schnippel Wurst und eine Packung Weißbrot.

Dann fiel ihm etwas ein.

Maik kehrte ins Wohnzimmer zurück, zog die Couch von der Wand und kippte sie um. An der Unterseite war ein kleines Päckchen mit mehreren Lagen silbernem Panzerband festgemacht. Er entfernte das Klebeband und fand die Pistole, die sich Zoran vor ein paar Monaten auf dem Schwarzmarkt in Tschechien gekauft hatte. Eine russische Makarow, 9 Millimeter.

Maik ließ das Magazin aus dem Griff der Waffe gleiten. Acht Schuss, das sollte eigentlich genügen. Er hatte ohnehin nicht die Absicht, damit zu schießen, aber da er nicht wusste, was die nächsten Tage bringen würden, war es sicher keine schlechte Idee, auf alles vorbereitet zu sein. Außerdem war es immer noch möglich, dass Zoran hier auftauchte.

Maik ging mit der Pistole in der Hand zur Wohnungstür, schloss ab und ließ den Schlüssel stecken. Die Wolken über Frankfurt hatten sich verdichtet und als er die Waffe im Wohnzimmer auf den Tisch legte, besprenkelten dicke Regentropfen das Fenster.

Er wusste, dass es unklug war, hier zu bleiben, aber er wollte nicht noch eine Nacht im alten Präsidium verbringen. Die Aussicht, in einem richtigen Bett schlafen zu können, war einfach zu verlockend. Im Schlafzimmer zog er Zorans Bettzeug ab und legte seinen Schlafsack auf die Matratze.

Am Abend saß er vor dem Fernseher, die Pistole neben sich auf dem Sofa. Er hatte die Reste aus dem Kühlschrank gegessen und den Whisky getrunken. Unten an der Straße gab es eine Tankstelle, an der er sich noch mit etwas Proviant und Zigaretten hätte versorgen können, aber er wollte nicht, dass ihn der neugierige Nachbar ein- und ausgehen sah.

In einer der Schubladen hatte er etwas Tabak, Blättchen und sogar ein bisschen Gras gefunden und sich daraus einen krummen Joint gedreht. Bis gegen halb elf zappte er sich durch die Programme, dann legte er sich in Unterwäsche, aber mit der Pistole in Griffweite, ins Bett und fiel schnell in einen unruhigen Schlaf, aus dem er mehrmals vollkommen desorientiert erwachte. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, die Nacht hier zu verbringen. Er glaubte schon, überhaupt nicht mehr richtig zur Ruhe zu kommen, als er in den frühen Morgenstunden doch noch in einen tiefen, traumlosen Schlaf versank, aus dem ihn gegen halb zehn der Klingelton seines Handys weckte.

Der Mann schwieg noch einen Moment, nachdem Maik sich gemeldet hatte, dann berichtete er ansatzlos von Zorans Tod und dass die Polizei die Leiche seines Freundes in einer Kneipe im Bahnhofsviertel gefunden habe.

»Mit heruntergelassenen Hosen auf dem Scheißhaus«, knurrte der Anrufer und Maik spürte, wie ihm schlecht wurde. Das Koks sei aber immer noch nicht aufgetaucht, fügte der Mann hinzu, er habe also noch eine Chance.

Chance, dachte Maik. Du hast keine Chance, also nutze sie. Zoran musste das Koks versteckt haben, so viel war klar – aber wo?

Er stieg aus dem Bett und dachte beim Duschen darüber nach. Ihm fielen einige mögliche Verstecke ein, aber irgendwie glaubte er nicht recht daran, dass er dort die Tasche finden würde. Als er sich abtrocknete, fiel ihm siedend heiß noch etwas ganz anderes ein: Wenn die Bullen Zoran gefunden hatten, war es nur eine Frage der Zeit, bis sie seine Identität herausbekamen, und das würde sie auf direktem Weg hierher ­führen ...

Maik beeilte sich damit, in seine Klamotten zu kommen, packte seine Sachen und verließ die Wohnung. Er fuhr mit dem Aufzug nach unten und trat vor den Wohnblock, als er einen Streifenwagen um die Ecke biegen sah.

Aus sicherer Entfernung beobachtete er, wie die Beamten ausstiegen und im Haus verschwanden.

Das Präsidium

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