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Kapitel 1

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Aus dem Radiowecker drang die Stimme einer prominenten Fernsehschauspielerin, die soeben ein Buch mit dem Titel 'Glücklich durchs Leben' veröffentlicht hatte - und die heute bei der Sendung 'Morgengespräche' zu Gast war:

„Ja! Es ist so, wie ich es sage: Es gibt keine bessere Lebensform, als die der Partnerschaft. Eine volle Entfaltung des Menschen ist nur möglich, wenn er Teil eines Paares ist.“

Diese Worte schlugen in Sonjas Halbschlaf ein und ließen sie aufschrecken.

Die Radioreporterin fragte nach: „ Aber ist es nicht oft so, dass Partnerschaften auf fragwürdigen Kompromissen beruhen? Etwa beim Sex?“

Die beliebte Fernsehschauspielerin: „ Nein nein nein! Menschen sind dazu geschaffen, mit einem Partner ein Leben lang zusammenzubleiben. So stellt sich Vertrauen ein….und das ist Liebe. Und so kann man auch nach dreißig Jahren Beziehung immer noch mehrmals wöchentlich leidenschaftlichen Sex miteinander haben. Und ich bin so glücklich und dankbar, dass ich diese Überzeugung und diese Erfahrung mittels meiner Rollen im Fernsehen an mein Publikum weitergeben kann.“

Sonja stieß einen gepressten Schrei aus und riss sich an den Haaren.

Neuerlich fragte die Reporterin nach: „Aber worauf beruht denn die Skepsis, die von manchen Leuten der 'Partnerschaft als Lebensform' entgegengebracht wird?“

Die berühmte Fernsehschauspielerin: „Auf ihrer Unfähigkeit. Die sind die ja nur neidisch, weil sie Pech gehabt haben, weil sie nicht fähig sind eine Beziehung zu führen. In Wirklichkeit wünscht sich jeder Mensch nichts sehnlicher, als Teil eines Paares zu sein.“

Sonja schlug den Hinterkopf gegen das Betthaupt.

Die Reporterin: „ Jetzt eine ganz provokante Frage: sind Partnerschaften nicht einfach ein Vehikel um ganz vordergründig der Einsamkeit zu entfliehen?“

Die prominente Fernsehschauspielerin: „ Nein nein nein! Ich habe die Erfahrung gemacht: wenn man den richtigen Partner gefunden hat, dann sind damit sämtliche Wünsche erfüllt. Auf allen Ebenen. Auf der gefühlsmäßigen Ebene genauso, wie auf der der geistigen Auseinandersetzung; und erst recht im Bereich der Erotik.“

Sonja krallte die Fingernägel in die Innenseite ihrer Oberschenkel.

Die prominente Fernsehschauspielerin: „Wenn man den richtigen Partner hat, dann ist man im siebenten Himmel angekommen, dann funktioniert alles im Leben….“

Begleitet von schmerzhaftem Aufstöhnen, schleuderte Sonja den Radiowecker zu Boden, wo er zertrümmert und stumm liegenblieb .

Sie hatte eine quälende Nacht hinter sich: stundenlang wachliegend, waren die Gedanken um ihre unbefriedigende, ja zutiefst bedrohliche Lebenssituation gekreist.

Nach kurzen Phasen eines albtraumdurchwirbelten flachen Schlafes war sie immer wieder hochgeschreckt und unruhig schlagenden Herzens durch die dunkle Wohnung geirrt. Übermannt von Übelkeit, hatte sie sich übergeben…..wie schon so oft während der letzten Wochen. Das seidene Nachthemd war dermaßen durchschwitzt gewesen, dass sie es angeekelt vom Leib riss. Ein paar Schluck Slivowitz, gierig gesoffen, brachten kurze Beruhigung. Splitternackt war sie dann auf dem Bett gelegen und hatte durchs geöffnete Fenster die wenigen Wolken betrachtet, die in dieser heißen Sommernacht gemächlich über den Himmel zogen; deren Anblick ließ die Qual der Sehnsucht wieder aufbrennen….eine kitzelnde Morgenbrise umspielte ihren Leib…..da flüsterte sie mit der selben Zermürbtheit, mit der ein Gefangener nach wochenlanger Folter ein Verbrechen zugibt, das er gar nicht begangen hat:

„Ja, ich gehöre ganz Dir, Bruno! Wo bist Du? Erlöse mich! Bruno! Ich mach‘ alles was Du willst! Und wenn ich dafür sterben müsste!“

Ja aber…was bitte faszinierte sie so an diesem Bruno? Was brachte Sonja dazu, sich ihm in derartig vorbehaltloser Weise auszuliefern? Warum war ihr Selbstbewusstsein dermaßen zerschmettert?

Sie war doch eine wunderschöne Frau – die geradezu bestürzend makellosen Rundungen des Leibes, vermittelten in Gemeinschaft mit ihren klugen, ebenmäßigen Gesichtszügen ein Bild berührender Anmut!

Auch beruflich hatte sie großen Erfolg; als Chefkorrespondentin im „Ministerium zur Überwindung kultureller Gegensätze“ war sie allgemein respektiert und ihre Karriere verlief vielversprechend!

Wie konnte sie also in ein so tiefes Schlamassel geraten?

Gehen wir dieser Frage auf den Grund.

Sonja hatte Bruno vor einem knappen Monat kennengelernt. Ihr Leben war zu jenem Zeitpunkt von äußerer Ordnung bestimmt gewesen, der aber eine nebulose innerliche Orientierungslosigkeit entgegenstand; eine Inhaltsleere ; ein noch undefinierter Überdruss, der aber immer deutlicher zu rumoren anfing und allmählich zu profunder Unzufriedenheit führte.

Ein immer spürbarer werdendes Gefühl der Einsamkeit, schleichend wie Metastasen, wurde dadurch begünstigt, dass es keinen Menschen gab, dem sie sich in tieferer Weise verbunden fühlte. Sie war knapp dreißig, Single, der Vater längst tot, die Mutter ausschließlich mit sich beschäftigt, Geschwister gab es keine.

Ihre Freundinnen aus der Schul-und Studentenzeit steckten mittlerweile in festen Beziehungen – und wenn sie nicht schon zwei Kinder hatten, so waren sie zumindest schwanger. Aus den ehemals aufgeschlossenen und abenteuerlustigen Spießgesellinnen, hatten sich mit der Zeit betuliche und kindfixierte Nervensägen entwickelt. Alles drehte sich in überprotektiver Weise nur mehr um die 'Kleinen'. Wollte sie jemanden abends besuchen, hieß es : „Nein, bitte nicht. Die Kleine ist gerade am Einschlafen und ihr Rhythmus darf nicht gestört werden."

Oder, als eine Freundin sie eines Nachmittags besuchte, musste sich Sonja drei Stunden lang nonstop anhören, was für Probleme der Kleine mit dem Zahnen hatte....wie schlecht es doch sei, Kinder zu impfen....dass sie gestern beim Kinderarzt war, weil der Kleine schon zum zweiten Mal innerhalb von vier Wochen Durchfall gehabt hatte… und und und.

Richtig unangenehm wurde Sonja zumute, als ihre Freundin den Kleinen am Küchentisch zu wickeln begann. Zu diesem Zwecke musste Sonja drei große Pölster herbeischaffen, die ein Herunterfallen des Kindes vom Küchentisch verhindern sollten. Es überrascht nicht, dass die Tischplatte zunächst mit einem antiseptischen Mittel abgesprüht wurde und Sonja die Pölster mit dem Staubsauger reinigen musste. Als die Mutter die Stoffwindel des kleinen Buben dann öffnete, rollte sie vor Entzücken die Augen und sagte mit begeisterter Ernsthaftigkeit, es gäbe „kein beglückenderes Gefühl, als wohlgeformten Babykot zu riechen."

Es versteht sich von selbst, dass die junge Mutter es für unnötig hielt, den Küchentisch nach dem Wickelvorgang zu säubern.

In signifikanter Weise gingen diese Hochämter der Mütterlichkeit stets mit einem diffusen Zorn auf den jeweiligen Kindsvater einher. Es gab definitiv keine von Sonjas ehemals lebenslustigen Freundinnen, die sich im Laufe eines Gesprächs nicht über ihren Mann zu beklagen begann und sehr bald in weinerliches Jammern darüber verfiel, wie wenig Aufmerksamkeit der Mann doch den Kindern – und vor allem I h r entgegenbrächte. Wie in einer immer wiederkehrenden Litanei, gipfelten die Klagen der Frauen in den beiden Sätzen: „Er redet nicht mit mir!" und : „Er hört mir nicht zu!"

Aus Frustration darüber, sprachen sie ihrem Partner jegliche Kompetenz in Kinderfragen ab und kommentierten jede Fütter-,Wickel- oder sonst irgendwie kindbezogene Handlung des Mannes nur mit herablassender Verachtung und zänkischen Kommentaren.

Die Männer verstanden meistens gar nichts. Ihnen fehlte der Durchblick. Sie erlebten aus ihrer Sicht nur Geringschätzung, die ihnen von den Frauen her entgegenstrahlte; dazu Vorwurfskaskaden und sexuelle Ablehnung. In der Folge entwickelten sie sich immer zu seltsam unattraktiven, betulichen Frauenverstehern oder sie flüchteten in ihre Arbeit - oder begannen in verbotenen Revieren zu wildern.

Und schlussendlich fanden sich beide Partner in einer frustrierend einsamen Lebenssituation wieder.

Haarsträubend waren auch die Berichte über Familienväter, die abends nachhause kommend die Füße auf den Tisch legen - in der Erwartung hinten und vorne bedient zu werden (wie sie es halt von i h r e n Müttern her gewohnt waren) - obwohl ihre Frauen ebenfalls einen 8-Stunden Arbeitstagtag zu bewältigen und sich zwischendurch auch noch um die Belange der kränkelnden Schwiegermutter gekümmert hatten (ohne deshalb von deren übler Nachrede verschont zu bleiben).

Irgendwann regte sich in Sonja der Verdacht, dass all ihre nun in festen Beziehungen lebenden Freundinnen nur aus einem gesellschaftlichen Imperativ heraus eine Bindung eingegangen waren, der da hieß: Wenn Du keinen Mann hast, bist Du keine vollwertige Frau.

Oder dass die Menschen womöglich gar nicht aus freiem Willen handeln, sondern nur unter dem Diktat der Evolution; und die individuelle Befindlichkeit war der Evolution letzten Endes wurscht - Hauptsache: fortgepflanzt!

Sie hegte also tiefe Zweifel gegenüber dieser 'Seid fruchtbar und vermehret Euch' - Prämisse. Andererseits.....ja, wozu es leugnen, ja sie wünschte sich ein Kind!

Gelegentlich begann sie sich selber zu misstrauen; besser gesagt, die Tatsache, dass sich in dieser Angelegenheit immer ein kritisches Aufbäumenin ihr breit machte, verleitete sie allmählich zu dem Gedanken, sie sei vielleicht gar keine 'richtige Frau'.

Aber w e r oder w a s sollte sie denn sein? Eine herzlose Mutation? Eine Supernova im menschlichen Kosmos? Oder war sie vielleicht gar nicht real? War sie nur die Traumgestalt eines gemeinen Gottes? Oder die unausgeklügelte Kunstfigur eines originellen Romanciers?

Dieser Mangel an Gewissheit darüber, wer sie denn eigentlich sei und was sie sich eigentlich w ü n s c h t e, bildete den dissonanten Grundakkord ihres Bewusstseins.

Sie fühlte sich so hilflos.

Bevor wir uns jetzt dazu verleiten lassen, ihr wohlmeinende Ratschläge zuzurufen - indem wir etwa auf die unendliche Freiheit des Single-Daseins verweisen - sollten wir bitte eines nicht übersehen: eigentlich suchte sie ein ernstzunehmendes Vis-á-vis, ein respektvolles Gegenüber dem sie vertrauen und an das sie sich anlehnen könne; jemanden, der sie verstand und akzeptierte wie sie war, dessen Gedanken sie fesselten, dessen Anblick sie beglückte, dessen Töne sie berauschten und dessen Gerüche sie erregten - kurz: sie suchte die große Liebe! Da brauchen wir uns jetzt gar nichts vormachen; und die Sonja sich auch nicht mit ihrem ganzen verwirrten Hin und Her: „Wer bin ich denn eigentlich?" und „Bin ich denn eine 'richtige Frau'?"

Und das bedeutet, der Weg war bestens geebnet für Bruno, den Erlöser.

Auch die Gegebenheiten im beruflichen Umfeld unterliefen den Wunsch nach Geborgenheit.

Sonjas Anstellung als ‚Chefkorrespondentin im Ministerium zur Überwindung kultureller Gegensätze‘ erforderte ihre Anwesenheit etwa bei Vernissagen oder festlichen Theaterpremieren.

Ursprünglich brachte sie derartigen Veranstaltungen großes Interesse entgegen; konnte man doch dort mit gebildeten und hochkultivierten Menschen zusammentreffen.

Sie hatte diese Aufläufe der Eitelkeiten aber bald satt. Die meisten Künstler waren eine Enttäuschung: entweder redeten sie in manischer Ich-Bezogenheit alles in Grund und Boden; oder sie saugten in depressiver Egomanie ihre Umgebung aus.

Auch war es mit der Kultiviertheit der Besucher nicht weit her; wenn der kostenlose Alkohol den Leuten zu Kopf stieg, konnte sie über die geschmacklosen Übergriffigkeiten der internationalen Eliten nur staunen.

Sie beging den Fehler, dass sie einmal auf einen charmanten französischen Kulturattaché hereinfiel, der (so wie alle Welt) von ihrem betörenden Geruch vereinnahmt war. Er umgarnte sie mit „Savoir vivre“ und „ Toujour l´amour“, war äußerst galant und einfühlsam.....und pries sie danach in der diplomatischen Szene als seine „ Süßeste Trophäe“. Die indiskreten Erläuterungen untermalte er stets mit einem obszönen Züngeln. Seitdem konnte sie sich der Fluten unsittlicher Anträge kaum mehr erwehren; fand sich ständig in einem unfreiwilligen Abwehr-Modus wieder; und die von ihr abgelehnten Männer, gekränkt in ihrer Eitelkeit, verschafften ihr erst recht eine üble Reputation.

Ein Abend in Sonjas Leben scheint uns dafür besonders repräsentativ zu sein, erläutern doch die damaligen Vorgänge ihre Situation auf plastische Weise:

Vor etlichen Jahren kam sie bei einem Empfang in der russischen Botschaft an der Tafel neben einem etwa sechzigjährigen Kunstkritiker aus St. Petersburg zu sitzen. Mit leichtem Akzent sprach dieser ein derbes Deutsch.

Schon vor dem ersten Gang hatte er durch zahlreiche Anekdoten und Indiskretionen aus dem höchsten politischen und kulturellen Milieu dokumentiert, wie weltgewandt und wohlinformiert er sei. Andauernd lieferte er Kostproben seiner kosmopolitischen Eloquenz und kulinarischen Bewandertheit ab. Dabei war es für Sonja offensichtlich, wie er ihr auf penetrante Weise zu gefallen versuchte.

Zum „ Hors d ´Ouevre“ gab es Austern. Dazu servierte man Zitronenspalten. Diese wurden von drei bildhübschen und ebenso schüchternen blutjungen Russinnen gereicht, die, die Kristallschalen mit den Zitronenspalten auf den Händen balancierend, sich im Hintergrund hielten und auf Wunsch zum jeweiligen Gast traten, um mit einer kleinen vergoldeten Zange eine Zitronenspalte auf dessen Teller zu legen.

Dies war für den Kunstkritiker aus St. Petersburg - der in einer peripheren Plattenbausiedlung östlich von Samara aufgewachsen war (sein Vater stand zeit seines Lebens am sozialistischen Fließband der Autofabrik 'Lada') - ein willkommener Anlass, um sich durch die Kenntnis vornehmer Sitten hervorzutun.

Mit zaristischer Eleganz winkte er das nächststehende Zitronenmädchen herbei. Sonja fiel auf, dass das lange Herumstehen in den viel zu hohen Stöckelschuhen selbige schmerzte und der linke Arm, mit dessen Hand sie die schwere Kristallschüssel balancieren musste, immer mehr krampfte.

Entsprechend unlocker und mit aufgesetztem Lächeln trat sie heran und wollte eine Zitronenspalte reichen. Dabei näherte sie sich dem Galan von links hinten.

„Aber Babuschka!“ rief dieser auf Deutsch mit lauter Stimme - für alle hörbar. „Weißt Du denn nicht, dass man nurr von rrechts serrvierrt?“ Das Mädchen verstand kein Deutsch und blickte ihn nur ratlos an.

„Schau nicht mich an wie eine Jungfrrau, sonst ich värlierä Behärrrrschung!“ und lachte wie der erste Bassist des Don-Kosaken-Chors. Dabei blinzelte er Sonja schmierig zu.

Das Mädchen blieb stumm und ratlos.

Einer der anwesenden Herren, ein bulgarischer Exporteur von Pferdefleisch, klärte – des Russischen mächtig – die eingeschüchterte junge Frau auf. Sie nickte und wechselte schweren Fußes die Seite.

Da der Kunstkritiker aus St.Petersburg sehr breite Schultern hatte und rechts von ihm die ebenfalls sehr ausufernde Frau des bulgarischen Pferdefleischexporteurs saß, war der Zwischenraum für die Serviererin ziemlich eng. Sie musste sich extrem strecken, um ihre Aufgabe ausführen zu können. Dabei kam sie mit der Achsel dem Gesicht des Kulturjournalisten in spürbare Nähe.

„Ich kann rriechen Du hast Angst, mein Kind. Keinä Sorrgä, mein Wahlsprruch ist: ‚Läben und läben lassen!‘ Oder, wie die Ungarn sagän: ‚Liebärr Gulasch als Gulag‘!“ Er lachte laut und versicherte sich durch einen Seitenblick Sonjas Aufmerksamkeit.

Wieder übersetzte der Bulgare.

Als das Mädchen sich zurückziehen wollte, fuhr der Russe fort: „ Halt! Ich will noch einä zweitä

Spaltä von Dirr!“ Und abermals folgte ein zwischentonreicher Lachschwall.

Sie beugte sich also wieder vor und legte eine zweite Zitronenspalte auf seinen Teller.

Doch bevor sie zurücktreten konnte, fasste der Kulturkritiker aus St.Petersburg sie väterlich um die Hüften und fragte in die Runde: „Kennän Sie schon die Geschichtä von Zarr Alexanderr und där Austerrnprrinzessin?“

Da die Frage allgemein verneint wurde, begann er mit großer Liebe zu schlüpfrigen Details zu erzählen.

Die Geschichte handelte von den amourösen Vorlieben des Zaren Alexander, der es zum Prinzip erhoben hatte, jedes Jahr zur Schneeschmelze eine neue Maitresse, eben die 'Austernprinzessin', zu erwählen. Der Begriff 'Austernprinzessin' bezog sich unter anderem darauf, dass, so wie die Schalen einer Auster nach erfolgtem Ausschlürfen weggeworfen werden, auch die ‚Austernprinzessin‘ nach einem Jahr im Rahmen eines festlichen orthodoxen Rituals geopfert wurde. Es geschah dies auf Geheiß der Zaren-Mutter.

Aus dem ganzen Zarenreich trafen die schönsten Mädchen in St.Petersburg ein. Es blieb dann den jungen Offizieren der Kavallerie vorbehalten, eine Vorauswahl zu treffen.

Allerdings durften dabei gewisse Grenzen nicht überschritten werden: beraubte ein Offizier ein Mädchen seiner Jungfernschaft, so wurde er zum 'Eis-Sprung' verurteilt. Das bedeutete, dass er, mit seinem Lieblingspferd von Eisscholle zu Eisscholle springend, die Newa überqueren musste. Diese Strafe kam einem Todesurteil für Pferd und Reiter gleich (dieser Aspekt der Erzählung schien den Pferdefleischexporteur aus Bulgarien besonders zu interessieren).

Eine große Hürde für die Mädchen waren Übungen in einer Disziplin, die man heute als 'Rhythmische Gymnastik' bezeichnen würde und die wir auch aus Sportübertragungen kennen: die Mädchen hatten während eines Ablaufs extremer Dehn- und Sprungfiguren mit hölzernen Keulen zu hantieren, diese mit ästhetisch verführerischer Attitüde in die Luft zu werfen und wieder zu fangen. Ein wesentliches Bewertungskriterium war der 'Keulengriff' – also wie die Aspirantin die Keule anfasste (hier wurde der Kuturjournalist aus St.Petersburg in seiner Beschreibung sehr ausführlich und demonstrierte die verschiedensten Griffqualitäten am Besteck). Zum Schluss blieben nur noch fünf Mädchen übrig, die sich der Wahl zur 'Austernprinzessin' stellen durften. Diese Wahl war ein intimer Vorgang; jede Kandidatin begab sich alleine mit dem Zaren in ein weitläufiges Schlafgemach….und dann -

Den Rest der Erzählung bekamen die Gäste nicht mehr zu hören. Das russische Zitronenmädchen war während der ganzen ausufernden Geschichte durch den schmeichelnden Hüftgriff des aufgeräumten Erzählers arretiert. Um die Peinlichkeit des allzu langen Körperkontaktes herunterzuspielen, nahm sie unwillkürlich die Haltung einer klassizistischen Statue ein – in der erstarrten Linken die Zitronenschale balancierend, in der erhobenen Rechten die goldene Vorlegezange – dazu das aufgesetzte Lächeln einer minderjährigen Eiskunstläuferin.

Als der Kulturkritiker nun endlich auf die delikate Pointe zusteuerte, erhöhte er in erregter Vorfreude ruckartig die Intensität des Hüftgriffs. Dies brachte das übermüdete Mädchen buchstäblich aus dem Gleichgewicht. Ein Schwall übersäuerten Eiswassers schwappte über den kristallenen Rand und klatschte auf die künstlerhaft wildgepflegte Dichthaarfrisur des Erzählers. Auch strauchelte das Mädchen und verfing sich mit der goldenen Zange in dessen durchnässter Haarpracht, was er aber nicht bemerkte.

Ein Schreckensschrei ließ die Hörergemeinde mit offenen Mündern dasitzen. Doch wider Erwarten verfiel der Kulturkritiker nicht in eine Haltung der Empörung und der entrüsteten Zurechtweisung gegenüber dem Mädchen und der Welt, um sich als 'Angeschütteter' auf diese Art Respekt zu verschaffen. Nein, das hatte er doch gar nicht nötig! Bot sich ihm doch jetzt die Gelegenheit zu einer weiteren Anekdote!

Er nahm die unverkrampfte Haltung des Chaos-erprobten Weltmannes ein, breitete die Arme aus, ein Ivan Rebroff in Spendierlaune, und rief:

„Keine Angst, Babuschka, mein Spaltenprinzesschän, ‘Shit ‘äppens‘!“

Wieder blinzelte er Sonja zu.

Allerdings bemerkte er nicht, dass sein peinlichstes Geheimnis vor der Welt nunmehr gelüftet war – nämlich, dass seine Haare nicht echt waren! Durch die Nässe-Einwirkung und den gleichzeitigen Goldzangen-Zug, hatte sich die voluminöse Perücke gelöst und zwischen Haaren und Kopfhaut ein Zwischenraum gebildet; von vorne betrachtet bot sich der Eindruck eines behaarten gleichschenkeligen Dreiecks , mit der kahlen Kopfhaut als gewölbter Basis.

Nichtsahnend gab sich der Kritiker seiner Erzählkunst hin – dabei keine Gelegenheit auslassend, Sonja zu betätscheln.

Er berichtete von einem Vorfall, der sich zehn Jahre zuvor bei einem Empfang des französischen Präsidenten, zu dem er geladen war, im Elysée-Palast zugetragen hatte.

Im Laufe der Soiree hatte sich die schöne und ebenso kunstsinnige Präsidentengattin allzu empfänglich für des Kritikers kluge Äußerungen erwiesen. Ihre Augen wendeten sich nicht mehr von ihm ab. Dies weckte den Argwohn des Präsidenten.

Als dann seine Frau auch noch zur Gitarre griff (!) und geradezu extatisch das Lied „Je t’aime“ zu singen begann – noch dazu in russischer Sprache - wurde es dem Präsidenten zu bunt.

Um das Beben der Eifersucht zu kaschieren, ließ er sich die teuerste Flasche 'Burgunder' nebst Korkenzieher reichen. Er wollte auf diese Weise demonstrieren, dass er alles im Griff habe.

Doch diesmal waren seine Kräfte durch die Anwesenheit des Russen gehemmt.

Kaum gelang es ihm, den Korkenzieher hineinzuschrauben – und als er ihn verkrampft herauszog, verlor der Präsident das Gleichgewicht und verschüttete die halbe Flasche Rotwein auf das blütenweiße Abendkleid der neben ihm sitzenden Gemahlin.

Sie kreischte auf und zischte etwas Unverständliches in seine Richtung.

Doch bevor der französische Präsident endgültig die Contenance verlor, brachte sich der St.Petersburger Kunstkritiker ins Spiel und rettete die Situation:

Mit humorvollem Pathos trat er neben die angeschüttete Dame des Hauses, zog sein dunkelblaues Sakko aus, hängte es mit der heroischen Hilfsbereitschaft eines D’Artagnan über ihre Schultern und sagte auf sie weisend - und auf die Rotweinflecken am weißen Kleid und die Farbe seines Jacketts anspielend - mit demutsvollem Beben in der Stimme: „Rott und blau und weiß Madame, nie hat es gegäbän ein schöneräs Symbol fürr Frreiheit, fürr Gleichheit und fürr Brrrüdärlichkeit.“

Da standen alle auf und applaudierten ihm zu seinem Herzenstakt.

Die schöne Präsidentengattin reichte ihm die Hand zum Kuss und der Präsident verlieh ihm noch am selben Abend den begehrten 'Orden der Philanthropie'.

Nach Beendigung der Erzählung blickte der Russe lächelnd in die Runde. Er war zu sehr von der Wirkung seiner Worte mitgenommen, vom eigenen Charisma so betört, dass ihm gar nicht auffiel, wie die Reaktion auf seine Geschichte deutlich unter den zu erwartenden Ovationen blieb. Wie ein unendlich ergiebiger 'Tafelspitz' brodelte in der Ursuppe seines Seins die Wertschätzung der eigenen Person.

So registrierte er auch nicht die verschämten Blicke, die an seinem Haaransatz hafteten.

Der Hauptgang wurde serviert – es gab 'Boeuf Stroganoff'.

Der Kritiker sah nun den Moment gekommen, sich mit vermehrter Aufmerksamkeit der links neben ihm sitzenden Sonja zu widmen. Die ganze Zeit schon hatte er Seitenblicke auf den wohlrasierten Glanz ihrer aristokratischen Waden geworfen. Auch in das seidenmatte Rot der sorgfältig lackierten Fingernägel, die Krönung ihrer zartgliedrigen Hände, hätte er sich stundenlang mit ganzem Leib versenken können. Für Sonja war das so spürbar wie der Zugriff eines erotomanischen Gynäkologen.

„Ich liebä die österreichischä Musikk!“ begann er unverfänglich und schob sich genießerisch einen Bissen in den Mund. „Ich fühlä mich auch der leichten Musä verbundän. Meinä Lieblingsoparrettä stammt von Frranz Leharr - ‚Der Zaräwitsch‘! Kennen Sie den ‚Zaräwitsch‘? Wissen Sie, worrum es darrin gäht?“ (Anmerkung des Verfassers: Die Inhaltsangabe des 'Zarewitsch' finden sie im Anhang.)

Sonja antwortete mit professioneller Höflichkeit: „Ich habe zwar einmal als Kind mit meiner Mutter den 'Zarewitsch' gesehen, kann mich allerdings nicht mehr so genau erinnern.“

Sie hatte immer mehr Mühe einen Lachkrampf zu unterdrücken: die Spalte zwischen dem sich ablösenden Toupet und dem kahlen Schädel glich immer deutlicher dem offenen Schlund eines

algenvertilgenden Riesenkarpfens.

„ ‚Zarräwitsch‘…..ein wunderbaräs Stück!“

Er trank einen winzigen Schluck Rotwein, spürte dem sinnlichen Eindruck nach - und sagte endlich resignativ und für alle deutlich vernehmbar: „Na ja, was darrf man hierr auch schon erwarrtän?“

Im verschwommenen Hintergrund des Bildes konnte man schemenhaft den Kopf des Botschafters erkennen und nach einer Justierung der Tiefenschärfe auch den Ausdruck des Gesichts. Dieses spiegelte tiefstes Beleidigtsein, ob der Despektierlichkeit gegenüber den Schätzen seines Weinkellers.

Nun wendete sich der Kulturkritiker wieder Sonja zu und sah ihr tief in die Augen:

„ ‚Zaräwitsch‘ –ein wunderschönäs Stick iber die Liebä zweiär Menschän zueinandärr.“

Er blickte ihr noch tiefer in die Augen und Sonja konnte kaum mehr ernst bleiben; dann fuhr er mit sanfter Stimme fort, die noch samtener war als der Abgang des Weines:

„Der jungä Zaräwitsch ist alleinä, er fiehlt sich einsam, er ist tott-traurig, er sieht im Lebän keinän Sinn weil er im goldenän Kchäffig sitzt... ‚Es stäht ein Soldatt am Wolgastrrand…‘ - so singt er. Jedäs Mal wenn ich in Oper sitzä, wird mirr warrm ums Chärz…“

„Ja?“ sagte Sonja, „mir geht es so bei Tschaikowski.“

„Ja?“ griff er ihre Worte auf. „Ich kann Ihrrä Wärrmä spierän. Sie habän ein guttäs Chärrz…“

Bei den letzten Worten strich er mit den Fingerkuppen zärtlich über Sonjas Handrücken.

In Sonja stieg erneut ein Lachreiz auf, den sie gerade noch unterdrücken konnte. Dadurch erweiterten sich ihre Augen und begannen zu glänzen. Das interpretierte der Kunstkritiker falsch. Er wurde mutiger:

„Ich chabä mich glaich zu Ihnen chingezogän gäfiehlt. Sie missän wissän, die Gäliebte des Zarewitsch cheißt so wie Sie; sie cheißt ‚Sonja‘.“

Wieder glänzten Sonjas Augen, der Russe legte nach.

„Ich fiehlä mich wie der Zarräwitsch. Bei Ihnän spierrä ich Wärrmä, chierr in diesäm kchaltän goldenän Kchäfik.“

Mittlerweile hatten sich in Sonjas Augen Tränen gebildet; und der Kunstkritiker war nun endgültig enflammiert! Er griff mit penetranter Zärtlichkeit nach ihrer Hand, führte sie an sein Herz und sang in intensivstem 'Belcanto'-Ton eine berührende Stelle aus dem ´Zarewitsch´ :

„Deine Lippen! Sonja! Ich liebe Dich! Ich liiiiiiiebe Dich!!“

Das „iiiiiiie“ des zweiten „Ich liebe Dich!“ war ein hoher Spitzenton, den er, ein 'Seriöser Bass', im Falsett sang. Dabei brach aber die Stimme und ein peinlich kicksendes Krächzen drang an die Ohren der Gäste.

Nun war es mit Sonjas Beherrschung vorbei.

Lautes Lachen, in das auch die anderen Gäste verfielen, platzte aus ihr heraus und es schüttelte sie in einem nicht endenwollenden Krampf.

Von wildem Zorn ergriffen sprang der Russe auf: „Ich chabä mich in Ihnän getäischt, Gnädickste!“ stieß er hasserfüllt hervor und fuhr fort: „Ich chabä Ihnän noch nicht errrzählllt, wie die Gäschichte von Zarräwitsch weitarrrgäht: err darrf Sonja nichchtt cheiratten, weill alle Wällt waiß, dasss sie 'durrrch unzääählige Chände gegangen' ist! Eine Schlammpä vom Laaand!“

Allmählich wurde es stiller und Betroffenheit machte sich breit.

Mit wütend erhobener Stimme hetzte er weiter: „Offenbarr chabän Sie mit diesärr ‚Sonja‘ nicht nurr den Namän gemainsam; wie mann mirr in därr franzäsischen Bottschaft erzälllt chatt, sind Sie ja ein gannz schän ibarzuckertes Frrichtchen!“ Und, für alle sichtbar, kam er ihrem Gesicht ganz nahe und machte die wohlbekannten obszönen Züngelbewegungen.

Sonja blieb ganz ruhig. Sie nahm eine Damastserviette zur Hand und wischte sich die Lachtränen aus den Augen. Dann fixierte sie ihn und sprach:

„Ja, Sie haben recht – meine Früchte sind süß. Und ich würde niemals zulassen, dass sie von der galligen Bitterkeit Ihrer frühsenilen Präpotenz besudelt werden. Und auch wenn Sie von sich glauben Sie wären der 'Spalten-Zar' oder der 'Austern-Prinz', so muss ich Ihnen leider sagen, dass Sie in meinem Königreich höchstens den Rang eines glatzerten 'Klomuschel-Kadetten' innehätten!“

Einige Damen an der Tafel - inklusive der Gastgeberin, der Frau des Botschafters - standen auf und begannen laut zu klatschen. Besonders letztere fühlte tiefe Genugtuung, hatte doch der Kulturkritiker vor acht Jahren eine abfällige Bemerkung über ihre Tochter gemacht. Auch die Zitronenmädchen, die nun Feigen für’s Dessert balancieren mussten, kicherten hemmungslos.

Der Kulturkritiker wurde blass. Sein Atem ging schwer. Es trieb ihn plötzlich auf die Toilette. Außer sich stieß er seinen Stuhl um und wankte hinaus.

Als er die Klomuschel erblickte, wurde ihm die Beleidigung, die er durch Sonja erfahren hatte, noch unerträglicher. Trotz heftigen Erbrechens fühlte er keine Befreiung.....schienen sich doch die am Muschelrand klebenden Austernstückchen alle in Prinzessinnen zu verwandeln, die ihn auslachten.

Um dieses unerträgliche Bild loszuwerden, wandte er die Augen nach oben - doch der Blick fiel auf die glattpolierte Oberfläche des silbernen Spülkastens.

Und in diesem Spiegel sah er sein blasses, zerfurchtes Altmännergesicht...gekrönt vom sich ablösenden haarigen Kunstwerk – einer Sonderanfertigung des Chefmaskenbildners am 'Chirow-Theater'. Der ovale Schlund gewährte ihm Einblick in die Tiefe seiner erbärmlichen Lächerlichkeit. Er riss sich in aufflammendem Selbsthass das Haarteil vom Kopf.

Der unverzeihliche Makel der Kahlheit stach erbarmungslos in seine blutunterlaufenen Augen. Enthaart........ein Samson, gleichsam entmannt von einer verhurten Delilah, die in diesem Falle Sonja hieß.

So dermaßen blamiert, könnte er sich nie wieder unter die Leute wagen.

Und ganz langsam, während er in der Sakkotasche sein Taschenmesser umfasste, formten sich die blassen Lippen zu einem verderbenbringenden Fluch, der Sonja verfolgen sollte....... er begann einen speziell auf sie zugeschnitten Racheplan zu entwerfen - denn im Gegensatz zu Sonja, kannte er das Geheimnis ihrer Abstammung und wusste, wer sie wirklich war.

Zapfenstreich für Österreich

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